Corona in Ostdeutschland - Wie Covid-19 das Land spaltet

In Sachsen gingen die Infektionszahlen in den zurückliegenden Wochen durch die Decke. Während der Ostbeauftragte der Bundesregierung das Erbe der DDR am Werk sieht, rümpft man im Westen nur arrogant die Nase. Die Corona-Krise entwickelt bedrohliches Spaltungspotential für die Gesellschaft.

Stau vor den Krematorien: In Sachsen sterben mehr Menschen an Corona als im Rest der Republik / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

So erreichen Sie Ralf Hanselle:

Anzeige

Eigentlich ist es längst eine Binse, niedergeschrieben im deutsch-deutschen Poesiealbum: Die Corona-Krise spaltet das Land. Hier die Trotzköpfe mit den stetig anwachsenden Zweifeln, dort die Vorsichtigen mit der Angst im Nacken; hüben die Verschwörer, drüben die Schlafschafe; in den Städten die Systemmediennutzer, in den Tälern der Ahnungslosen aber all jene, die KenFM über Alu-Antenne empfangen können. Alles kann so einfach sein. Mein Herz so weiß, dein Hirn so schmutzig. Die lauwarme Wirklichkeit im Winter 2020, gut gespalten in heiß und kalt. Das funktioniert wunderbar. Besonders in Deutschland, dem Land, in dem die gesellschaftliche Sollbruchstelle seit nunmehr 30 Jahren vorgetackert ist.

Aber Wessi hin oder Ossi her: In einer aktuell nicht lösbaren Krise tut man immer gut daran, wenn man Buhmänner und Stellvertreter in den Dienst der psychischen Ökonomie nehmen kann. „Affektverschiebung“ hat Sigmund Freud einen derartigen Vorgang in seiner Schrift „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ genannt. Denn wer verschiebt, der muss die eigene Ohnmacht nicht mehr spüren – wenigstens für einen kurzen, oft seelenverlorenen Moment. Wenn man das Virus also schon nicht aus der Welt kriegen kann – im Zweifel ist es ja vielleicht längst schon im eigenen Körper – ist es nützlich, etwas Anderes auf Distanz zu halten. Ein Surrogat muss her, ein Ersatzmann. Ihn gilt es mit Verve niederzuringen, abzuspalten, notfalls auch mal runterzumachen.

Eine höhere Viruslast bei der AfD?

So gesehen hatte vielleicht auch der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Marco Wanderwitz (CDU), zunächst nur die eigene Psychohygiene im Sinn, als er Anfang Dezember im Nachrichtensender n-tv eine Verbindung zwischen ostdeutschen AfD-Hochburgen und dem Corona-Infektionsgeschehen herleiten wollte. „Es ist auffallend, dass die am stärksten betroffenen Regionen die sind, in denen der AfD-Stimmenanteil bei Wahlen am höchsten ist“, so Wanderwitz am 4. Dezember angesichts einer damaligen Inzidenz von über 500 im Landkreis Osterzgebirge.

Und nun, wo Rottweil oder Passau längst wieder aufgeholt haben, hat Wanderwitz vorsichtshalber noch einmal nachgespalten: In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt hat der seit Februar amtierende Ostbeauftragte ein überarbeitetes Theoriemodell vorgestellt: Es könne nämlich, so orakelt der 45jährige Ost-Erklärbär diesmal, auch am „Kollektivismus der DDR“ liegen, wenn derzeit in zahlreichen ostdeutschen Landkreisen die Infektionszahlen durch die Decke gingen. „Das Individuum und der Schutz der einzelnen Person spielen in solchen Weltbildern keine große Rolle“, philosophierte Wanderwitz gestern, ohne dabei zu bemerken, dass es wohl gerade ein Überschuss Individuum gewesen sein könnte, der im Vogtland- oder Erzgebirgskreis, in Meißen oder Görlitz in den zurückliegenden Wochen an der Infektionsschraube gedreht hat.  

Populismus auf allen Seiten

Und dann kommt der offizielle Ost-Beauftragte noch einmal auf die AfD zu sprechen: Deren Kernklientel nämlich bestehe aus Männern im Alter zwischen 45 und 65 Jahren. „In Gesprächen sagen die teilweise ganz offen, dass sie ihre wirtschaftliche Existenz oder ihre Bewegungsräume nicht für das Überleben von über 80-Jährigen aufs Spiel setzen wollen. Die würden ja eh bald sterben, heißt es dann. Schlimm.“

Ja, schlimm! Da muss man Marco Wandlerwitz wohl Recht geben. Die Art und Weise, wie besonders innerhalb der AfD das Pandemiegeschehen runtergespielt wird und wie sich die Partei an all jene ranwanzt, die aus ökonomischen Gründen oder vor dem Hintergrund einer alternativen Werteabwägung zu einer anderen Einschätzung der aktuellen Krisenpolitik kommen, ist meistenteils kalkuliert und populistisch. Die Gleichsetzung von Infektionsgeschehen und Kritik an den aktuellen Maßnahmen aber ist es ebenso. 

Der anale Charakter der DDR

Ein wenig erinnert Wanderwitz hier an jenen westdeutschen Kriminologen, der Ende der 1990er-Jahre der Idee verfiel, den damals anwachsenden Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern mit der Sauberkeitserziehung in DDR-Kinderhorten erklären zu können. Die Älteren mögen sich vielleicht noch erinnern: Es war der renommierte Rechtswissenschaftler Christian Pfeiffer, der damals in Anbetracht eines historischen Fotos, das eine Horde von auf Töpfchen sitzender DDR-Kindern zeigte, die Gleichsetzung von Hort und Hass aufmachen wollte. Was damals folgte, war eine vollkommen unergiebige Debatte über den analen Charakter des Sozialismus und die frühe Gleichschaltung zur Diktatur.

Die Guten ins Kröpfchen, die Schlechten aufs Töpfchen. So funktioniert Spaltung, auch und gerade im Corona-Jahr 2020. Aber, mal ehrlich, so ist er halt, der Ossi: ein Querdenker, ein Corona-Leugner. Und der Wessi? Merkwürdigerweise konnte man während des Frühjahrs, als die ostdeutschen Bundesländer relativ glimpflich durch die erste Corona-Welle glitten und es in Sachsen Ende April gerade einmal 4.666 Infektionsfälle gab, während es deutschlandweit bereits 163.035 waren, keine Headline in der Zittauer Allgemeinen lesen, die den Bayern oder Rheinländern aufgrund ihrer besonderen Geschichte oder ihres Charakter eine gewisse Corona-Affinität attestiert hätte. 

Guter Ossi, schlechter Ossi

Im Gegenteil, etwas verwundert rieb man sich damals in Helmstedt und in Hof die Augen, weil man sich nicht erklären konnte, dass es drüben so viel besser sein sollte als hüben. Und nun ist es eben umgekehrt. Die Infektionslage ist in Bewegung, und auch gesellschaftliche Spaltungsversuche werden daran nichts ändern können. Denn während sich die einen am guten Gefühl besaufen, fühlen sich die anderen in die Ecke gedrängt. Die beste Affektverschiebung hilft eben nichts: Der lachende Dritte bleibt immer das Virus.

Anzeige