Globale Folgen der Corona-Politik - „Die Triage auf globaler Ebene ist um ein Vielfaches gravierender“

Corona stellt uns vor viele ethische Dilemmata. Wir wollen etwa keine Triage in den Krankenhäusern Europas, akzeptieren aber wachsendes Leid in Elendsquartieren auf der Südhalbkugel. Der Philosoph Thomas Kesselring über die blinden Flecken unserer Corona-Politik.

Epidemiebekämpung in Indien / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Thomas Kesselring lehrt Ethik und Philosophie an der Universität Bern. Nach seiner Habilitation an der FU Berlin war er mehrere Jahre Gastprofessor an der Bundesuniversität Rio Grande do Sul, Brasilien. Zu Kesselrings Spezialgebieten zählt die Ethik der Entwicklungspolitik und die Frage nach der internationalen Gerechtigkeit. 

Herr Kesselring, der Philosoph Hans Jonas, einer der Pioniere globalen Denkens, schrieb bereits in den Siebzigerjahren, dass konventionelle Ethiken in der technischen Moderne an ihre Grenzen kommen, da sie immer nur auf das Hier und Jetzt bezogen sind. Macht nicht gerade die Coronakrise abermals deutlich, dass wir heute allesamt „Teilnehmer einer gemeinsamen Gegenwart“ sind, wie Jonas das genannt hat?

Teilnehmer einer „gemeinsamen Gegenwart“ sind wir in „Nord“ und „Süd“ schon lange: Zum einen wegen der ökologischen Krise, die uns alle betrifft, wenn auch in ungleicher Weise, und der wir nur die Stirn bieten können, wenn wir alle kooperieren, und zum anderen wegen einer fortgeschrittenen Technologie, mit der wir bei der geringsten Unachtsamkeit riesige Schäden anrichten können. Die Covid-Krise macht uns diese Situation des globalen Dorfes, in dem wir alle leben, wieder bewusst.

Weil das Handeln europäischer Regierungen auch Folgen weit über die Grenzen des Kontinents hinaus haben könnte? 

Thomas Kesselring / Privat

Ich vertrete entschieden, dass wir im Prinzip eine Mitverantwortung für die Folgen unserer Entscheidungen auf fernere Länder haben. Doch es fällt uns als Menschen schwer, Zentrierungen zu überwinden: die Zentrierung auf uns selbst, die eigene Familie, das eigene Dorf, die eigene Partei, das eigene Land, die EU, die westliche Welt und so weiter. Die Entwicklungspsychologie lehrt uns, dass wir als junge Erwachsene eigentlich schlau genug wären, über die eigenen Landesgrenzen hinauszudenken. Und doch geschieht das nur ansatzweise. Auch sind uns da im großen Ganzen die Medien immer weniger eine gute Stütze. Wer weiß beispielsweise schon, dass sich derzeit im Norden Mosambiks ein neuer, vermutlich sehr blutiger und nicht mehr kurzfristig abzuwendender Krieg entwickelt? Aus der weiten Welt erreichen uns täglich Nachrichten, und zwar überwiegend schlechte, weil schlechte Nachrichten einfach als „interessanter“ gelten. Das kann leicht zu Abstumpfung und zu einer Abwehrhaltung gegen weitere schlechte Nachrichten führen.

Weitere schlechte Nachrichten in Bezug auf Corona erreichen uns von Tag zu Tag – und das aus allen Teilen der Welt: Jüngst etwa bilanzierte die Welthungerhilfe, dass zwischen 80 und 130 Millionen Menschen durch Covid-19 in den Hunger getrieben würden, UNICEF wiederum rechnet damit, dass 150 Millionen Kinder zusätzlich in die Armut gestürzt würden. Was sind die Ursachen?

Die Zunahme von Hunger, vor allem in den sogenannten „least developed countries“ (LDC), dürfte mehrere Gründe haben. Viele Länder sind stark vom Klimawandel betroffen. Das führt zu vermehrten Dürren, aber auch zu Überschwemmungen und Hurrikanen. Und ein weiterer Grund ist sicher Corona: Wenn in LDC-Ländern und Armutsgegenden Corona-bedingte Ausgehverbote verhängt werden, trifft das all diejenigen, die einer informellen Beschäftigung nachgehen. Viele von ihnen müssen sich fast täglich eine neue Arbeit suchen. Wegen der erschwerten Versorgungslage in den Städten steigen die Preise, ein wachsender Teil der Bevölkerung kann sich diese nicht mehr leisten. Auf jeden betroffenen Erwachsenen kommen dabei in der Regel mehrere Kinder. Und auf dem Land sind die Probleme womöglich noch größer.
 
Das heißt, es gibt in einigen Entwicklungsländern Regierungen, die die europäischen Maßnahmen einfach blind übernommen haben?

Dass Länder beispielsweise in Afrika Shutdown-Maßnahmen übernehmen, die wir in Europa mit variablem Erfolg praktizieren, ist angesichts der völlig anderen Verhältnisse in Afrika in der Tat erstaunlich. Was Wuhan uns allen als erste Stadt vorgemacht hat, wurde zuerst von Italien und dann von immer mehr Ländern nachgemacht. Schweden verzichtete als Ausnahme auf einen Shutdown. Offenbar sind die Regierungen Indiens und afrikanischer Länder auf den fahrenden Zug aufgesprungen und verordneten ihren Bürgerinnen und Bürgern in etwa dieselben Maßnahmen, ohne an die absehbaren Kollateralschäden zu denken.
 
In Bezug auf diese Kollateralschäden warnte vor geraumer Zeit sogar Bill Gates, dass es in Afrika deutlich mehr Tote durch die indirekten als durch die direkten Folgen von Covid-19 geben dürfte, da es keine Masernimpfungen mehr gäbe, Mückennetze nicht mehr verteilt würden, HIV-Behandlungen ausblieben und Medikamente nicht ausgegeben würden.  

Klar können Malarianetze nicht mehr verteilt und HIV-Behandlungen nicht fortgeführt werden, wenn die Menschen zuhause bleiben müssen. In vielen Ländern sind neben Malaria und HIV auch Gelbfieber, Dengue, Wurmerkrankungen u.a. weiter verbreitet als Covid-19, und es ist klar, dass es diesen Gesellschaften mehr schadet als nützt, wenn die Behandlung dieser Krankheiten wegen der Priorisierung von Corona-Ansteckungen zurückgestellt wird. 
 
Gibt es auch unmittelbare Zusammenhänge zwischen den Maßnahmen auf der Nordhalbkugel und den oft dramatischen Folgen im „Süden“?

Ja, denn dass ein Wirtschaftseinbruch im „Norden“ die LDC-Länder besonders empfindlich schädigen würde, war voraussehbar. Der starke Migrationsdruck in Richtung Wohlstandsländer war schon zuvor ein starkes Indiz für die Schieflage des bestehenden Wirtschaftssystems. Dass Corona dessen Wirkung verstärkt, ist nicht erstaunlich. Doch die enorme Zahl der Menschen, die dadurch in die absolute Armut zurückfallen, ist schon erschreckend. Der afrikanische Philosoph Severino Ngoenha übrigens hat im Gegenzug darauf aufmerksam gemacht, dass Corona zu einer „Afrikanisierung“ der Wohlstandsländer führen könnte: Corona katapultiert uns in eine Situation, die in Afrika seit Jahrzehnten Alltag ist, geprägt von Unsicherheit, drohender Arbeitslosigkeit, überlasteten Krankenhäusern, Angst vor Seuchen, Tod, Abschottung, Verschuldung, Hader mit unseren Regierungen und vielem mehr.

Bleiben wir noch kurz auf der Südhalbkugel: Die State Bank of India hat berechnet, dass die Zahl der Toten durch den Wirtschaftseinbruch in Indien je nach Bundesstaat vier- bis zwanzigfach höher sein wird, als die Zahl der Covid-19-Toten. Wie ließe sich gegensteuern?

Vermutlich ist es nicht sinnvoll, wenn wir Europäer diesbezüglich den Indern oder Afrikanern Ratschläge erteilen. Und die Schweiz, das Land, in dem ich lebe und wo derzeit die Corona -Zahlen rekordartig hochgeschossen sind, ist hierzu schon gar nicht befugt. Stattdessen könnte sich der Blick nach Vietnam oder Kuba lohnen, die erstaunlich niedrige Infektionszahlen und – selbst gemessen an diesen – noch niedrigere Todesziffern haben. Das alles gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die publizierten Zahlen auch stimmen.

Auch Kuba und Vietnam haben anfangs mit Lockdowns reagiert. Muss man aber nicht allmählich eine erste Zwischenbilanz ziehen und für einige Entwicklungsländer konstatieren, dass sie auf rigide Maßnahmen besser verzichtet hätten?

Bei alledem gibt es eine große Unbekannte: Wir wissen nicht, wie sich in diesen Ländern die Pandemie ohne die harten Maßnahmen entwickeln würde. Je weiter verbreitet das Virus, desto schwerer ist es nachher einzudämmen. Covid-19 hat einige Eigenschaften, die die Bestimmung der idealen Maßnahme erschweren: Bevor sich Symptome zeigen und das Virus sich nachweisen lässt, ist es bereits ansteckend. In den meisten Fällen ist der Krankheitsverlauf harmlos, in einigen Fällen – der Anteil schwankt stark von Land zu Land – hingegen äußerst schwer, und die Betreuung der Betroffenen ist für Krankenhäuser eine enorme Herausforderung, die LDC-Länder kaum bewältigen können. Sterben an Covid-19, sagen Spezialisten, sei viel dramatischer als Sterben an der Grippe. Wenn man über die Gründe Bescheid wüsste, aus denen bestimmte Fälle so schwer verlaufen, ließen sich die Maßnahmen abschwächen und anpassen. Aber im Moment sehe ich keinen Königsweg, und ich denke, dass sich in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Massnahmen empfehlen.

Dennoch hat selbst die WHO mittlerweile vor vorschnellen Lockdowns gewarnt – und das sogar nicht nur in den Entwicklungsländern. Folgen wie finanzielle Verarmung, steigende häusliche Gewalt oder rückläufige Krankenhausaufnahmen stünden möglichen positiven Effekten gegenüber. Müsste man da nicht aus utilitaristischer Perspektive sagen, dass die aktuellen Maßnahmen kaum zu rechtfertigen sind?

Wie gesagt, wir wissen nicht, wie sich Corona ohne diese Maßnahmen entwickelt hätte. Aber die Vermutung, dass der Kollateralschaden womöglich größer ist als der Nutzen der verordneten Maßnahmen, halte ich zumindest für plausibel. Noch etwas kommt hinzu: Das Coronavirus wird durch UV-Strahlung vernichtet und in der freien Luft verteilt. Beides würde dafür sprechen, dass die Menschen möglichst häufig ins Freie gehen und ihre Masken der Sonne aussetzen sollten. Da der Shutdown die Menschen enger zusammenrücken lässt, schafft er im Prinzip auch viele mögliche Ansteckungsherde. 

Als man Anfang 2020 in Europa und kurz darauf in den USA die ersten Maßnahmen ergriff, stand man vor dem ethischen Dilemma der drohenden und teilweise realen Triage auf den Intensivstationen. Muss man nicht heute eingestehen, dass das ethische Dilemma, das global durch den Lockdown verursacht wurde, viel gravierender ist?

Ja, auf globaler Ebene ist die „Triage“ um ein Vielfaches gravierender, sowohl was die Brisanz der einzelnen Entscheidung – hier steht ja häufig auch das Leben junger Menschen zur Disposition– als auch was die reinen Zahlen betrifft. Immerhin haben afrikanische Länder aber mehr Erfahrungen im Umgang mit Epidemien als die Wohlstands-Staaten der Nordhalbkugel. 

Hans Jonas, um auf ihn noch einmal zurückzukommen, schrieb, dass unter den Bedingungen dieser extrem erweiterten Handlungsfelder Wissen zu unserer vordringlichen Pflicht würde. Das Wissen, so Jonas, müsse dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein. Seit Februar 2020 wissen wir extrem viel über Corona. Müssen wir, wenn wir die Folgen unseres Handelns betrachten, aber nicht sagen, wir wissen das Falsche? Wir haben medizinisches Wissen gewonnen, aber uns fehlt die universelle und multiperspektivische Einbettung?

Dazu möchte ich Zweierlei anmerken. Zum einen, ja wir wissen in der Tat viel mehr als im Februar 2020. Und dennoch wissen wir Wesentliches nicht. Wir wissen etwa noch zu wenig darüber, warum die Corona-Sterblichkeit in manchen Ländern viel höher ist als in anderen. Auch dass Corona nicht nur die Lunge angreift, hat sich erst im Mai diesen Jahres herumgesprochen. Immerhin weiß man heute, dass das Virus ziemlich stabil ist und nicht unentwegt mutiert, wie etwa HIV oder Grippeviren. Das erklärt auch die guten Chancen für eine Impfung. Ich würde Hans Jonas zustimmen: Es gibt so etwas wie eine Pflicht zur Kenntnisnahme, zum Wissen. Andererseits beobachte ich aber auch immer wieder, dass die globale Betrachtung dem homo sapiens ausgesprochen schwerfällt. Dramatische Zustände in großer geographischer Entfernung berühren uns für gewöhnlich besonders dann, wenn wir zu der betroffenen Region oder ihren Menschen einen speziellen emotionalen Bezug haben. 
 
Ein anderes ethisches Problem stellt sich derzeit bei der Impfstoffentwicklung. Während etwa aktuell viele Pharmakonzerne ihre Impfstoffe in Ländern Mittel- und Lateinamerikas testen lassen, ist längst nicht ausgemacht, ob die Bewohner dieser Länder später auch zeitnah den Segen der Impfungen erhalten werden. Wie lässt sich eine solche Vorgehensweise ethisch rechtfertigen? 

Gar nicht! Ich fürchte, dass die Kombination aus nationalen Egoismen und einer Asymmetrie in der politischen Durchsetzungsfähigkeit zwischen den Staaten zu einer massiv ungerechten Verteilung der Impf-Chancen führen könnte. Ich kann mir schwer vorstellen, dass sich die schiefe Ebene zwischen „Nord“ und „Süd“ nicht auch auf die räumliche wie zeitliche Verteilung der Impfungen auswirken wird.

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