Wie Corona die Trauerkultur verändert - „Als ob ein Mensch ausradiert wurde“

Die Pandemie stellt Hinterbliebene auf eine harte Probe: Viele können sich wegen der Schutzmaßnahmen nicht mehr persönlich verabschieden. Hier erzählt der Kölner Bestatter Christoph Kuckelkorn, vor welche Aufgaben ihn das stellt und wie die Trauerarbeit zu seinem Ehrenamt als Kölner Karnevalspräsident passt.

Umarmen verboten: Christoph Kuckelkorn hilft Angehörigen, unter erschwerten Bedingungen Abschied zu nehmen / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Christoph Kuckelkorn leitet in der fünften Generation eines der ältesten deutschen Bestattungsunternehmen, das unter anderem die Bestattungen von Willy Millowitsch, Guido Westerwelle und Kardinal Meisner organisiert hat. Daneben ist der Präsident des Festkomitees Kölner Karneval.

Herr Kuckelkorn, von Masha Kaleka stammt das Zitat, den eigenen Tod stirbt man nur, mit dem Tod der anderen muss man leben. Derzeit verlieren jeden Tag über 800 Menschen Angehörige oder Freunde durch Corona. Das ist, als ob täglich ein Airbus abstürzt. Was bedeutet das für die Hinterbliebenen?
Der Tod ist plötzlich durch Zahlen präsent, nicht nur bei den Hinterbliebenen. Die Menschen nehmen den Tod stärker wahr.  Das ist eigentlich gut, dann werden die eigenen Tage wertvoller. Aber es bringt auch viel Angst mit sich. Für die Hinterbliebenen ist es eine besondere Herausforderung. 

Weil sie sich im Krankenhaus oder im Pflegeheim oft nicht mehr persönlich verabschieden konnten ....?
... oder zu Hause, wenn der Erkrankte in Quarantäne war. So etwas ist ganz, ganz tragisch. Der Abschied ist ein anderer, als man ihn bisher kannte. Menschen sterben unter Umständen alleine, weil die Familie nicht dabeisein kann. Viele Hinterbliebene sind auch verunsichert und vielleicht schon in Quarantäne, weil sie Kontakt mit jemandem hatten, der an Corona erkrankt und gestorben ist.

Auch die Trauerfeiern dürfen nur noch im kleinsten Kreis stattfinden. Wieviele Menschen dürfen teilnehmen?
Das ist lokal unterschiedlich. Hier in Köln wurden die Sitzplätze in den Trauerhallen reduziert. Draußen gibt es aber kein Limit. Das ist schon mal ganz gut. Dann kann man den Ton nach draußen übertragen und viele Menschen mitnehmen. Aber sie müssen eine Maske tragen und Abstand halten. Das fällt den Menschen besonders am Grab schwer.

Einem engen Freund oder einem Angehörigen kondolieren, ohne ihn in den Arm zu nehmen. Wie soll das auch gehen?
Dass sich Menschen nicht daran halten, erleben wir immer. Wir sind dann aber die Mahner. Wir stehen daneben und versuchen die Menschen, davon zu überzeugen, dass das nicht der richtige Moment ist. Was den Leuten dann aber wirklich fehlt ist, anschließend nochmal zusammenzusitzen und Erinnerungen auszutauschen. Dieses „Reueessen“, wie wir es in Köln nennen.

Organisiert das dann keiner privat?
Nein, sie halten sich dran. Es ist wirklich so, dass die Menschen das erst nehmen. Wir versuchen auch, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das wichtig ist. Um Köln herum gibt es aber auch kleinere Gemeinden, die die Trauerhallen geschlossen haben. Da gibt es keine Feiern mehr. Man trifft sich unter freiem Himmel. Was bei schönem Wetter schön ist, aber bei Regen nicht.

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Die hessische Stadt Hanau braucht inzwischen Kühlcontainer, weil die Krankenhäuser nicht mehr wissen, wohin mit den Toten.
In Köln ist das nicht erforderlich. Es gibt hier viele Krankenhäuser und ca. 50 Bestatter, die alle sehr dahinter her sind, Verstorbene zu holen und in die eigenen Kühlräume oder die der Friedhöfe zu überführen.

Aber wenn diese Trauerfeiern die Teilnehmer derart einschränken, wie können sie sich dann noch in Würde verabschieden?
Wir bemühen uns natürlich, ihnen trotzdem einen individuellen Abschied zu ermöglichen. Wir müssen weg von der Angst vor dem Sterben, hin zu „Carpe Diem“ und mehr Natürlichkeit beim Abschied. Rituale sind hier sehr wichtig. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass man vor der Beerdigung noch eine kleine Verabschiedung der Familie am Sarg hat. Der Sarg sollte eigentlich geschlossen bleiben, aber in manchen Fällen ist es doch möglich, ihn offen zu halten, indem man den Sarg mit einer Glasplatte verschließt.

Aber nicht jeder kann persönlich an einer Trauerfeier teilnehmen.
Das ist natürlich mega-tragisch. Für diese Menschen  ist es praktisch, als ob ein Mensch „ausradiert“ wurde, ohne dass man sich verabschieden konnte.

Aber auch Sie streamen Trauerfeiern für Angehörige, die nicht kommen können. 
Ja, aber es ist etwas anderes, ob ich an einer Video-Konferenz teilnehme, oder ob ich den Menschen gegenübersitze. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass solche Meetings nicht funktionieren. Emotionen oder Mimik zu vermitteln, das wird schon durch die Maske erschwert. Da fehlt die Hälfte vom Gesicht. Das ist bei der Trauerfeier genauso. Das ist nicht der Idealfall.

Was ist ideal?
Ideal ist, bei den Menschen zu sein und ihnen die Hand drücken zu können. Das Gefühl „Ich bin dabei“ kann man nicht durch das Internet ersetzen. Wir brauchen genau diese Elemente der Trauerarbeit, um erstmal zu realisieren: Was ist hier überhaupt passiert? Wenn uns das wegbricht, müssen wir das intellektuell leisten.

Wie geht das? 
Das ist nicht leistbar, denn der Tod ist auch nicht erklärbar. Das muss man fühlen, spüren. Da muss der Körper beteiligt werden. Das sind viele kleine Schritte. Wenn die wegfallen, ist das für die Trauerarbeit enorm schwierig. Da wird sich in den kommenden Jahren ein Phänomen ergeben, das nachbearbeitet werden muss. 

Sie meinen ein Trauma? 
Genau. 

Aber welchen Beitrag können Sie leisten, um einem Trauma vorzubeugen?
Das ist extrem schwierig. Wir bitten die Angehörigen, Fotos, selbstgemalte Bilder oder persönliche Gegenstände des Verstorbenen mitzubringen, die wir dann in den Sarg  reinlegen. Oder wir bitten die Enkel, den Sarg der Oma zu bemalen. Da muss man erfindungsreich sein. 

Aber haben Sie so etwas nicht schon vorher gemacht?
Doch, aber jetzt bekommt das nochmal eine andere Tiefe. Früher war das nice to have. Jetzt ist es elementar. Es ist das Einzige, das bleibt. 

Was sind das für persönliche Gegenstände, die an den Verstorbenen erinnern?
Mal ist das ein Stofftierchen, mal ist das ein Buch, das nicht zu Ende gelesen worden ist. Das kann aber auch ein Karnevalsorden sein. Am meisten werden natürlich Briefe geschrieben. Es gibt Dinge, die man Zeit seines Lebens verschwiegen hat. Aber nach dem Tod können die ausgesprochen werden. Auch Fotos werden gerne mitgegeben. Stellen Sie sich vor: Die Enkelin bringt das Foto ihres Freundes mit, den die Oma nicht mehr kennenlernen konnte.

Welche Anforderungen stellt es an Sie als Bestatter, dass die wesentlichen Elemente der Trauerfeier aus Sicherheitsgründen wegfallen müssen?
Es gibt einige Sachen, die wir vorher gar nicht kannten. Ein virtuelles Beratungsgespräch am Telefon oder digital über eine Internet-Plattform, das kannten wir nur, wenn die Hinterbliebenen weit entfernt wie zum Beispiel in Amerika wohnten und die Bestattung der Mutter in Köln organisieren mussten. So etwas passiert jetzt häufiger, weil sich Menschen nicht mehr trauen, aus dem Haus zu gehen.

Finden diese Beratungsgespräche sonst bei den Menschen zu Hause statt?
Nein, das ist schwierig geworden, weil wir uns selbst auch schützen müssen. Deswegen führen wir diese Gespräche meistens in unseren Räumen durch. Da wissen wir: Es ist perfekt gelüftet. Wir haben Luftfiltern. Wir tragen FFP2-Masken. Am Ende des Tages ist das wichtig. Wir sind systemrelevant.

Der Tod in der Pandemie ist ein serielles Sterben, der vor keiner Generation und vor keiner Schicht Halt macht. Können Sie als Bestatter da noch Empathie aufbringen?
Aber das ist jeden Tag so. Jeden Tag passieren Unfälle. Jeden Tag sterben Menschen an Krebs oder am Herzinfarkt. Nur jetzt wird es plötzlich präsent für Menschen, die sich dem Tod noch gar nicht geöffnet hatten.  Für mich als Bestatter ist es aber Alltag. Ich bemühe mich, dass es keine Routine wird. Und das gelingt uns auch in diesen Zeiten sehr gut. Wir sehen immer den Einzelfall.

Im Monat organisieren Sie im Schnitt 50 Beerdigungen. Wie hoch ist der Anteil derer, die an Corona gestorben sind?
Er liegt derzeit bei rund 30 Prozent. In den vergangenen zwei Wochen ist die Zahl allerdings extrem gestiegen. Wir hatten schon den Fall, dass wir mehrere Bewohner eines Pflegeheims bestattet haben. Es sterben aber immer noch mehr Menschen an Krebs und an anderen Krankheiten. 

Sie bemühen sich seit Jahren, den Tod ins Leben zurückzuholen. Ihre Leichenwagen fahren grundsätzlich ohne Gardinen. Jetzt wird das Abschiednehmen durch Corona extrem erschwert. Macht das Ihre Bemühungen nicht zunichte?
Medial ist der Tod im Moment sehr präsent. Im Frühjahr kannte man die Bilder der Särge nur aus Bergamo. Jetzt ist es auch in Deutschland ein Thema. Jeder denkt daran, was wäre, wenn seinen Eltern etwas passiert. Mit diesen Gefühlen gehen wir in die Feiertage. Wen darf ich besuchen? Wem mute ich ein Risiko zu? 

Aber die Praxis in Ihrem Gewerbe sieht doch anders aus. In Ihrem Buch „Der Tod ist Dein letzter großer Termin“ schreiben Sie, dass immer mehr Hinterbliebene sagen, der Verstorbene sei ihnen egal. Muss man jetzt nicht so ehrlich sein und zugeben: Corona kommt einigen vielleicht auch entgegen?
Das kann ich nicht feststellen. Ich merke, dass es für Familien schon sehr tragisch ist, wenn der Tod durch die Pandemie verursacht wird. Da ist eine enorme Betroffenheit. Jeder denkt ja: „Das passiert nur anderen.“ Aber wenn die eigene Mutter plötzlich doch stirbt, ist es eine ganz andere Situation. Ich würde eher sagen, die Betroffenheit ist größer geworden..

Wann haben Sie das letzte Mal bei einer Beerdigung geweint?
Gute Frage. Es sind Momente, wenn eine bestimmte Musik kommt oder wenn ich so anrührende Szenen erlebe, dass Enkelkinder ihre Oma betrauern und herzzerreißend anfangen zu weinen, dann muss ich schon schlucken, und es kullert auch  bei mir ein  Tränchen. Das passiert nicht jede Woche, aber häufiger, als Sie denken. Ich erlebe das immer, wenn Angehörige Geschichten über den Verstorbenen erzählen, und plötzlich wird der Mensch offenbar.

Sie wissen, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Ihre erste Frau war 35, als sie bei einem Motorradunfall starb. Hat Sie das abgehärtet oder sensibler gemacht?
Es macht einen viel sensibler. Wenn man plötzlich auf der anderen Seite steht, weiß man, was die Hinterbliebenen in so einem Moment wirklich brauchen. Sowas steht in keinem Lehrbuch.

Wie schützen Sie sich bei der Arbeit mit Corona-Toten? 
In den Totenscheinen wird wenn überhaupt uns nur rudimentär erklärt, woran jemand gestorben ist. Deshalb haben wir immer schon Schutzkleidung getragen. Für uns ist jeder Verstorbene erstmal potenziell infektiös. Wir haben es auch mit Hepatitis und anderen Erregern zu tun. Wir haben deshalb immer schon Schutzkleidung, Kittel, Brille, Maske und Handschuhe getragen.

Herr Kuckelkorn, neben Ihrem Beruf als Bestatter sind Sie noch Präsident des Kölner Karnevals. Wie passt das zusammen?
Für mich ist es kein Unterschied, ob ich eine Beerdigung oder den Rosenmontagsumzug  organisiere. Beides sind hochemotionale Ereignisse. Wenn ich meinen Beruf mal auf drei Kernaufgaben reduziere, dann bin ich a) Trauerbegleiter der Hinterbliebenen, und  b) derjenige, der sich um die Versorgung der Verstorbenen und ihren medizinischen Wiederaufbau nach Unfällen kümmert.

Und c)?  
Da bin ich auch noch Veranstaltungsorganisator, das nimmt am meisten Zeit in Anspruch. Der Weddingplanner für Beerdigungen, sage ich immer. Es geht um Termine, Einladungen, Dekoration, Essen, Trinken, Musik, den Pastor, Klamotten, Blumengebinde und die Kirche. Das ist im Karneval genau das Gleiche. Mit einem Unterschied: Es geschieht nur in einer Woche, nicht im ganzen mit dem Vorlauf von einem Jahr.

Aber macht es für Sie keinen Unterschied, ob der Anlass ein fröhlicher oder ein trauriger ist?
Nein, hinter den Kulissen des Karnevals ist es nicht immer witzig. Ich haben den Kölner Rosenmontagsumzug mit einer Million Zuschauer und Zehntausenden Teilnehmern zwölf Jahre lang nicht nur organisiert, sondern auch verantwortet. Das ist ein hochbrisantes Business, da haben sie die Gefahr von Terrorszenarien und Bombendrohungen im Hintergrund. Sie müssen das am Ende auch noch finanzieren. Das ist kein Spaß.

Aber warum binden Sie es sich dann noch freiwillig ans Bein?
Sie kommen nicht aus Köln, oder?

Nein.
Weil es für Köln einfach nichts Schöneres gibt. Der Karneval ist ein Fest, das alle Kulturen und alle Menschen berührt. Wenn Sie an Weiberfasnacht in eine Bank kommen, dann steht da vielleicht ein Fass Bier, und alle trinken mit, ohne dass es ausartet. Deswegen kämpfen wir ja auch so dafür, dass der Karneval in der Pandemie stattfinden kann.

Wie soll das gehen? 
Es geht nicht darum, auf der Straße Bier zu trinken. Aber in den Palliativstationen und in den Hospizen gibt es Menschen, deren letzter Karneval das ist. Die sehnen sich den herbei. Und deshalb besuchen wir die. Sie müssen mal erleben, was das bedeutet, wenn das Kölner Kinder-Dreigestirn im Krankenhaus  krebskranken Kindern begegnet und was dabei zwischen den Kindern passiert. Das ist so großartig. Dafür mache ich diese Arbeit am Ende des Tages.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

Über seine Arbeit hat Christoph Kuckelkorn ein Buch geschrieben: „Der Tod ist Dein letzter großer Termin. Ein Bestatter erzählt vom Leben", Fischer, Paperback, 16 Euro. 

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