Christian Lindner über Peter Sloterdijk - „Meister des intellektuellen Überraschungsangriffs“

Als „Denker auf der Bühne“ inszeniert Peter Sloterdijk Diskussionen gleichsam mit versteckter Kamera: Die Empörten werden bei ihren Reflexen gefilmt, um sie im Nachhinein zu therapeutischen Zwecken mit ihrer Empörung zu konfrontieren. Eine Laudatio von Christian Lindner.

Peter Sloterdijk, diesjähriger Träger des Europapreises für politische Kultur / dpa
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Autoreninfo

Christian Lindner (Foto dpa) ist Bundesvorsitzender der FDP und Fraktionschef seiner Partei im Deutschen Bundestag.

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Der folgende Beitrag ist die Laudatio des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner aus Anlass der Verleihung des Europapreises für politische Kultur der Hans-Ringier-Stiftung an den Philosophen Peter Sloterdijk. Die Preisverleihung fand im Rahmen des „Dîner républicain“ von Frank A. Meyer am 7. August in Ascona statt.

Diogenes von Sinope – allgemein bekannt durch seine Behausung in einer Tonne, die angeblich auch Alexander der Große besucht haben soll – verstand wie kein Zweiter, das philosophische Establishment des antiken Athens durch provakante Performances herauszufordern. In einer biografischen Beschreibung seines Lebens fand ich folgende Anekdote: Als Platon die Definition aufstellte, der Mensch sei ein federloses zweifüßiges Tier, und damit Beifall fand, rupfte Diogenes einen Hahn und brachte ihn in Platons Schule. Mit den Worten: „Das ist Platons Mensch.“ Daraufhin wurde der Zusatz gemacht: Der Mensch ist ein federloses zweifüßiges Tier – mit platten Nägeln. 

Ich habe keinen Zweifel, dass wenn man einige Namen austauscht und einige Inhalte wechselt, hier die Urszene von Arrangements zu beobachten ist, die Peter Sloterdijk mehr als einmal installiert hat. Man kann unseren Preisträger nur begreifen, wenn man ihn als Subversionskünstler versteht. Deshalb möchte ich sprechen über Peter Sloterdijk als Subversionskünstler.

Er betrat 1983 als Denker die Bühne. 200 Jahre nach Immanuel Kant legte er eine neue Vernunftkritik vor. Übrigens, seine „Kritik der zynischen Vernunft“ ist bis heute eines der erfolgreichsten Stücke philosophischer Literatur der Nachkriegszeit – mit 150.000 plus X verkaufter Exemplare.

Sloterdijk unterzieht die Aufklärung darin einer neuen Diagnose. Bei seiner Visite stellt er fest, dass die Vernunft der Aufklärung im Prozess der Zivilisation technisch und instrumentell vermachtet wurde. Er empfiehlt dagegen eine Art von heiterem Widerstand.

Heiterer Widerstand

Heiterer Widerstand – das ist zunächst ein stilistisches Programm für ihn selbst. Peter Sloterdijk hat sich gelöst von der methodischen Zielgerichtetheit der akademischen Philosophie und hat sie ersetzt durch einen gedanklichen Flow. Er erkennt Muster und Zusammenhänge dort, wo niemand anderes Muster und Zusammenhänge vermutet hätte. Peter Sloterdijk lädt als Autor in einen gedanklichen Garten ein, in dem die Wortschöpfungen blühen wie auf einem toskanischen Anwesen. Wer aber unbedarft der Einladung folgt, stellt schnell fest, dass der Garten in Wahrheit ein Labyrinth ist, dem man die Freude des Architekten bei der Konstruktion noch im Nachhinein anmerkt.

Als Stilist ist Peter Sloterdijk in der Gegenwart fraglos der unterhaltsamste wie gelehrteste zugleich. Aber auch in der Sache hat er die Programmatik der Subversion ernster genommen, als viele Parteitagsbeschlüsse ernst nehmen. In seinem Epoche machenden Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ findet sich zum Beispiel ein phänomenologisches Hauptstück, in dem er Kapitel auch bisher Vernachlässigtem widmet. Zum Beispiel schreibt er – zart besaitete Gemüter mögen das Zitat nachsehen – über „den Arsch als Clochard der Körperteile“, der ein Leben im Dunkel fristen müsse. Aber für ihn ist der Arsch der wahre „Basisdemokrat“ und „Kosmopolit“ unter den Körperteilen, denn er ist „auf den Klos aller Herren Länder heimisch“. Insofern gäbe es eine „Internationale der Ärsche“, so schrieb er: „Spielend überwindet der Arsch alle Grenzen. Im Gegensatz zum Kopf, dem Grenzen und Besitztümer viel bedeuten.“ Man mag sich vorstellen, dass dies ein „Hallowach“ an den Schreibtischen der akademischen Philosophie Anfang der 1980er Jahre gewesen ist.

„Regeln für den Menschenpark“

Kurz nach der Entschlüsselung des Genoms 1999 riet Peter Sloterdijk zu „Regeln für den Menschenpark“. Offensichtlich leitete ihn der Gedanke, dass nach der Dechiffrierung der DNA der Horizont des technisch Machbaren zu schnell dem ethisch Reflektierten enteilen könnte. Nun also forderte er die Einberufung der Generalstände der Menschheit, um darüber zu beraten, was gattungsgeschichtlich notwendig ist angesichts dieser Perspektive. 

Aufgrund einiger provokanter Züchtungsmetaphern in Bezug auf den Menschen wurde sein Beitrag indessen missverstanden als Appell dazu, biologisch einen moralischeren Menschen zu entwickeln. Aus Starnberg wurden Interpretationshilfen für diesen Text verschickt. Es kann heute – über 20 Jahre später – kein Zweifel bestehen, dass damals ein soziales Phänomen ungewiss vorausgedeutet wurde, das heute unter dem Begriff „Cancel Culture“ Karriere macht. In führenden deutschen Medien erschienen Versuche, Peter Sloterdijk aus dem Kreis der Reputierlichen auszuschließen. Er selbst sprach später von einer „Fatwa aus Starnberg“, die ihn ereilt habe. Damit hat er einen Metaskandal illuminiert. Wenngleich ihm niemand glauben sollte, dass es damals ein von Skandal überraschter Text gewesen wäre …

Viele europäische Wohlfahrtsstaaten sind heute Tag und Nacht arbeitende „Pumpwerke der Einkommen“ geworden. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Gesten der wahren Mitmenschlichkeit an vielen Stellen delegiert werden an die professionellen Agenten der Solidarität. Vielleicht hat Peter Sloterdijk genau dies umgetrieben, als er den Vorschlag unterbreitet hat, staatliche Zwangsabgaben zu ersetzen durch freiwillige Bürgerspenden. Dies wurde missverstanden als die Bildung einer Allianz der Starken gegen die Schwachen. Ich habe es gelesen als Erinnerung daran, dass es auch Grenzen der Belastungsfähigkeit der gebenden Hand gibt, und dass die mitmenschlichste Form des Umgangs die frei entschiedene Solidarität jenseits der Agenten der professionellen Sozialstaatlichkeit ist.

Übrigens ist Peter Sloterdijks über zehn Jahre alte These heute aktueller und dringlicher denn je in Deutschland, denn die letzte Steuerreform mit Ambition geht auf einen früheren Bundeskanzler zurück und nicht auf die aktuelle Amtsinhaberin.

Sloterdijk und die Flüchtlingskrise

Peter Sloterdijk hat während der Flüchtlingskrise 2015 geschrieben, man habe das „Lob der Grenze nie richtig gelernt“. Er diagnostizierte einen Souveränitätsverzicht, der am Ende zur „Überrollung“ führen konnte. Man kann sich nur zu gut vorstellen, wie die publizistische Reaktion gewesen ist. Aber war die Erinnerung an die Souveränität als die klassische Mission von Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet eigentlich falsch? Spricht die Mahnung, an Souveränität zu denken und sie zu beanspruchen, eigentlich gegen Pluralität und eine humane Gesellschaft? Oder ist es nicht tatsächlich so, dass erst die Entscheidung, dass erst die Kontrolle über den Zugang zu einer Gesellschaft soziale Sicherheit und öffentliche Ordnung zu garantieren vermag?

Jüngst hat er einen Band vorgelegt, für den er den bezeichnenden Titel wählt, der Staat habe seine Samthandschuhe ausgezogen. Man liest von der „eisernen Faust des Staates“, die sich während der Pandemie gezeigt habe. Ein Beispiel ist ja, dass diese Preisverleihung im vergangenen Jahr nicht hat stattfinden können. 
Niemand von uns würde bestreiten, dass der Staat tatsächlich für den Gesundheitsschutz in unsere bürgerlichen Freiheiten eingreifen kann. Aber spätere Zeitdiagnostiker – vielleicht Peter Sloterdijk selbst – werden im Nachhinein fragen, ob die Pandemie möglicherweise mentalitätspolitische Kollateralschäden hat. Für Schweizer Verhältnisse übersetzt: Der Tell hat den Gesslerhut nicht gegrüßt; in Deutschland wäre der Gesslerhut immer gegrüßt worden.

Pandemie und Mentalitätswandel

Aber dennoch stellt sich die Frage, ob infolge der Pandemie sich mentalitätspolitisch in Deutschland eine Beweislastumkehr im Nachhinein wird diagnostizieren lassen. Nämlich, dass viele nicht mehr den Staat in der Pflicht sehen zu begründen, warum, wie lange und wie weit er in die bürgerlichen Freiheiten des Souveräns eingreift. Sondern dass es der Souverän selbst sein soll, der nachzuweisen hat, dass er seine Freiheit eigenverantwortlich noch ausüben darf. 

Peter Sloterdijk als Subversionskünstler: Man muss das, was er in der Sache schreibt, ernst nehmen, vielleicht nicht immer wörtlich. Man muss es begreifen als eine Lehre über die Art und Weise, wie wir diskutieren selbst. Seine Debattenbeiträge entpuppen sich nämlich im Nachhinein nicht selten als experimentelle Anordnungen philosophischer Eulenspiegelei. Er ist ein Meister des intellektuellen Überraschungsangriffs auf den Mainstream. Als „Denker auf der Bühne“ inszeniert er Diskussionen gleichsam mit versteckter Kamera, die die Empörten bei ihren Reflexen filmt, um sie im Nachhinein zu therapeutischen Zwecken mit ihrer Empörung konfrontieren zu können.

Lieber Peter, in Deinem zauberhaften Zuhause, dieser Wohngemeinschaft mit Hund und tausenden Büchern, gibt es in dem Zimmer neben der Küche an der Wand eine Tafel. Und auf dieser Tafel steht: „Ich brauche einen neuen Kopf – der alte denkt zu viel“. Möge dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen, denn Deine Debattenbeiträge und Dein Denken sind zur Revitalisierung unserer öffentlichen Diskussion und der politischen Kultur als solcher unverzichtbar. 

Der Europapreis für politische Kultur 2021 geht deshalb, völlig verdient, völlig zurecht, an Peter Sloterdijk. Herzliche Gratulation!

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