Selbstverschuldete Unreife - Die infantile Gesellschaft

Gefühl ist Trumpf, Argumente stören, Diskretion war gestern. Wir sind eine Gesellschaft der Kindsköpfe geworden. Erwachsene verhalten sich ungeniert wie Kinder und werden von Politikern auch so behandelt, schreibt Alexander Kissler in seinem neuesten Buch. Ein Auszug.

Erwachsene benehmen sich zunehmend wie Kinder, die Gesellschaft befindet sch in der selbstverschuldeten Unreife / dpa
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wir sind von Kindsköpfen umgeben und sind es manchmal selbst. Das Kind in uns zieht es zu lustigen Spielen für angegraute Herren, zum Duzen unter unbekannten Best Agern, zu generationenübergreifender Freizeitkleidung im Alltag, aber auch ins Tierreich, wo es kreucht und fleucht und alles wunderbar bestellt ist. Zumindest lesen wir das in immer mehr Büchern, in denen uns Tiere als die besseren Menschen vorgestellt werden. Infantil ist die Sehnsucht mündiger Erwachsener nach Unreife. Infantil ist die Weigerung, Grenzen anzuerkennen – zwischen dir und mir, Alt und Jung, Tier und Mensch. Niemand macht Kindern einen Vorwurf, wenn sie vertrauensselig die Hand ausstrecken nach einem Hund, der sie nicht kennt. Oder wenn sie jede und jeden duzen, auch die ältere Generation, auch Fremde. Kinder dürfen das.

Erwachsene freilich, die sich hinab flunkern zum Kind, das sie nicht mehr sind, sind ein trauriger Fall. Sie fingieren einen Stand von Unmündigkeit, den sie überwunden haben sollten. Sie prunken mit jenem Verstand, auf den sie verzichten. Sie bilden Herde der Ignoranz, die eine Republik mit Unvernunft infizieren. Kindern sind sie ein schlechtes Beispiel, sprechen sie ihnen doch den Ehrgeiz ab, sich entwickeln zu wollen. Dem sozialen Zusammenhalt schaden sie. Jeder Sinn für Gemeinschaft verkümmert, wenn wir im Stil der Teletubbies miteinander verkehren.

Der Mensch kann vom Tier nichts lernen

Der infantile Mensch bewundert das Kind, das er war, und das Tier, das er nie sein wird. Er bedauert nicht, ein Mängelwesen zu sein, er sucht stolz neue Mängel. Das Tier soll ihm beibringen, wie man menschlich lebt. Die Paradoxie wird vom Gag zur Norm: Tier musst du sein, um Mensch zu werden. Dass der Mensch faktisch nicht perfekt und die Natur nicht sein Spiel- und Ausbeutungsmaterial ist, mit dem er verfahren darf nach Belieben: Wer aus dieser wichtigen Wahrheit praktische Konsequenzen ziehen will, darf gerade nicht auf einen erwachsenen Geist verzichten.

Der Mensch, der es in seiner Menschenhaut nicht aushält, liest etwa im Bestseller „Einfach Mensch sein. Von Tieren lernen“ (2019) der amerikanischen Autorin Sy Montgomery: „Auch wenn unter meinen Lehrern fabelhafte Menschen waren (…), so waren doch die meisten meiner Lehrer Tiere. Und was habe ich von den Tieren gelernt? Einfach Mensch sein.“ Sy Montgomery spricht von den „Fähigkeiten“ der bewunderten Tiere. Die Fähigkeit aber der Spinne, „die Welt mit ihren Füßen [zu] erschmecken“, wird nie die Fähigkeit der Sy Montgomery sein. Kein Mensch wird je wie die Grille „mit den Beinen singen und mit den Knien hören“. Oder wie der Hund „Töne wahrnehmen, die weit über den Frequenzen des menschlichen Hörvermögens liegen“. Da gibt es nichts zu lernen. Die spezifisch tierischen „Fähigkeiten“ haben die Tiere exklusiv. Nie werden Menschen über sie verfügen.

Kein Bedarf für tierische Hebammenhilfe

Montgomery schrieb ein Erbauungsbuch für Menschen, die menschliche Wahrheiten erst glauben, wenn sie sie Tieren unterschieben können. Ein Wiesel taucht zu Weihnachten vor Sys Haus auf? Das kleine Tier mit dem weißen Fell verbannt „Wut und Ärger aus meinem Herzen“ und schafft „Platz für ehrfürchtiges Staunen und den Balsam der Vergebung“. Die immer fröhliche Border-Collie-Hündin Tess wiederum ist „der Inbegriff der Grazie“ mit ihren „hündischen Superkräften“, „nie zuvor hatte mich jemand so tief und rückhaltlos geliebt.“ Zu lernen, wirklich und handfest zu lernen gibt es von Tieren nichts – nichts zumindest, worauf man durch Nachdenken und Nachlesen nicht auch selber käme, ohne tierische Hebammenhilfe. Weil man Mensch ist und weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Die Schriftstellerin steht an der Spitze einer Pyramide von Büchern, Artikeln und Filmen, die allesamt versprechen, was Sy Montgomery nicht einlösen konnte: dass man von Tieren etwas lernen könne. Vielleicht gelingt es anderen Autoren, anderen Büchern, vielleicht jenem, das im Titel zu verraten ankündigt, „was wir von Vögeln lernen können“? Oder dem hier, das die „Weisheit alter Hunde“ entschlüsseln will und „was wir von grauen Schnauzen über das Leben lernen können“? Erfahre ich alles im Werk „Die Intelligenz der Tiere: Wie Tiere fühlen und denken“? Oder bei Gary Ferguson, der im gleichnamigen Sachbuch „die 8 großen Lehren der Natur“ vorstellt und „was wir von Tieren und Pflanzen lernen können“? Der Verlag wirbt für Ferguson mit den Worten, das Buch handele von „empathischen Wildgänsen, respektvollen Affen und nachsichtigen Moosen“ – drei Tugenden, die im klassischen philosophischen Denken Menschen zukommen. Und die Menschen von sich aus entwickeln kann. Weiß Oliver Tanzer mehr?

Die Hinwendung zum Tier als Befreiungsschlag 

Dessen Buch „Animal Spirits. Wie uns Fledermäuse, Pantoffeltierchen und Bonobos aus der Krise helfen können“ ist lehrreich, amüsant und aufschlussreich. Die Krise, die Tanzer meint, betrifft „das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem“ dieser Tage, dem der Autor das Etikett „neoliberal“ verpasst. Es sei gekennzeichnet durch „die Ausbeutung von Ressourcen, die Reichtums-Disparität, die Zerstörung von Lebensräumen und das Massensterben der Arten.“ Soweit die bekannte Diagnose, das Lamento, das je nach Betrachtungsweise bitter notwendig oder heillos übertrieben ist.

Bei Tanzer hören wir den Hintergrunddonner der neu erweckten Sehnsucht nach dem Tier klar und unverstellt. Andernorts bleibt dieses Grundrauschen ausgespart. Hier wird es explizit. Am Anfang der Überlegung steht eine menschengemachte Krise, aus der dann die Hinwendung zum Tier befreien soll. Kulturpessimismus ist die Basis der animalischen Aufrufe. Die Erde muss in einem großen Schlamassel stecken, aus dem kein Mensch heraushelfen könne. Was gestern der fatalistische Blick war hinauf zu den Göttern, ist heute der Blick hinab zum Tier: Hilf, Amöbe, hilf! Beim Bonobo!

Einzeller als Vorbild für multilaterale Zusammenarbeit

Mit einem Tusch heißt Oliver Tanzer die Pantoffeltierchen willkommen: „Die Bakterien antworten auf Krisen mit einer Strategie, die höchst erfolgreich genau das Gegenteil von dem tut, was die Krisenmanager der angeblich höchstentwickelten Spezies vorschlagen – und schädlicherweise auch noch umsetzen.“ Nämlich? Die „großartigen Extremlebewesen“ kennen den Wert der multilateralen Zusammenarbeit.

Die Menschen täten „derzeit das Gegenteil von dem, was Einzeller im Krisenmodus tun würden. Anstatt horizontal in Austausch zu treten und intensiver als je zuvor miteinander zu kooperieren, ziehen wir künstliche Grenzen ein. Wir entwickeln politische Leitbilder, die alles Fremde als Gefahr brandmarken und die Nationen isolieren – unter dem Vorwand, 'das Volk' oder 'das Abendland' retten zu wollen.“ Die Einzeller haben demnach letztlich die Ideen der Europäische Union und der Vereinten Nationen vorweggenommen. Woher diese Sehnsucht, den Mensch als Mensch für defekt oder zumindest dramatisch unvollständig zu halten?

Demut ja, Handlungsanweisungen nein 

Natürlich ist der Aufruf, schonend mit Tieren und Pflanzen umzugehen, vernünftig. Natürlich schadet es nicht, sich der Menschennatur als eines kleinen Teils der Schöpfung neu zu vergewissern. Mehr Demut hat noch keinem geschadet. Der Anspruch der Tierautoren und -apostel jedoch ist ein anderer, und er wird um einen zu hohen Preis erkauft. Hier werden im Medium der Tierbeobachtung Handlungsanweisungen an den Menschen ausgesprochen.

Die Natur wird in das moralische Korsett des jeweiligen Autors gezwungen. Indem man sich dabei auf Bienen beruft statt auf Aristoteles oder Thomas von Aquin oder Immanuel Kant, tritt man aus der menschlichen Gattung heraus. So wird die eigene Weltanschauung immunisiert gegen Einwände. Wer aber das Tierreich zum philosophischen Lehramt verklärt und alle Abgründigkeit ausblendet, der unterschätzt sich gewaltig und tut den Tieren unrecht. Genau das zeichnet eine infantile Gesellschaft aus: dass man sich selbst nichts zutraut und anderen Menschen nicht traut.

Dies ist ein Auszug aus dem soeben bei HarperCollins erschienenen Buch des Autors: „Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife“. 256 Seiten, 20 Euro

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