Okay Boomer - Wir waren immer zu viele

Mit der Bemerkung „Okay, Boomer“ werten junge Leute neuerdings die Generation der Babyboomer ab. Am Wochenende hat Alexander Grau geschrieben, dieser Trend sei Ausdruck eines längst überfälligen Generationenkonfliktes. Bernd Stegemann widerspricht ihm

Das Gesicht des Wirtschaftswunders: der Babyboomer/picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Nachdem der „alte, weiße Mann“ als abwertende Bezeichnung für Männer über 45 etabliert ist, wurde nun ein neues Geschoss aus dem Arsenal der Identitätspolitik gesichtet. „Ok, Boomer“ lautet der Ausruf, mit dem alle Menschen, die zwischen 1955 und 1969 geboren worden sind, als Problem identifiziert werden. 

Mit „Okay, Boomer“ weisen jüngere Menschen die Alten auf ihren Platz, der nun nicht mehr am gemeinsamen Tisch ist, sondern möglichst weit weg davon. So wie der Großvater im Märchen der Gebrüder Grimm, der sein Essen nicht mehr vom Porzellanteller essen darf, da seine zittrigen Hände ihn fallen lassen könnten, soll der Boomer nun aus dem hölzernen Napf essen, der in einem diffusen Jenseits der gesellschaftlichen Relevanz liegt. „Okay, Boomer“ ist der rhetorische Klaps, den man einem alten Gaul gibt, um ihm anzuzeigen, dass es Zeit für den Abdecker ist.

Nicht immer Wunschkinder

Da ich selbst, wenn auch nur knapp, in diese Alterskohorte gehöre, dachte ich anfangs, beim „Okay, Boomer“ handelt es sich um eine neutrale Bezeichnung für die Tatsache, dass es sich um die geburtenstarken Jahrgänge der jungen Bundesrepublik handelt. Mitte der 1950er Jahre, nachdem das Wirtschaftswunder in Fahrt gekommen war, hatten die Deutschen offensichtlich wieder das nötige Vertrauen, um Kinder in die Welt zu setzen. Erst die Antibabypille setzte diesem Babyboom bekanntlich Anfang der 1970er Jahre eine jähes Ende. Kinder sind seitdem Wunschkinder. Die Kinder des Babybooms sind da, weil sie gezeugt wurden. Ob gewünscht oder nicht, das spielte keine Rolle.

Was in der Zeit des Babybooms hingegen eine große Rolle spielte, war die Anwesenheit von vielen und häufig zu vielen Kindern. Als ich Anfang der 1970er Jahre in die Grundschule kam, bestand die erste Klasse aus 36 Kindern. Als ich aufs Gymnasium kam, gab es fünf Parallelklassen mit je 30 und mehr Kindern. Als ich in den 1980er Jahren das Studium begann, war mir der Satz schon allzu bekannt, mit dem die Heerscharen von Erstsemestern begrüßt wurden: Ihr seid viel zu viele.

Wir waren immer zu viele

Jedem, der damals mit seinem Studium anfing, war klar, niemand braucht so viele Akademiker. Und tatsächlich war die Universität auf den Ansturm der Babyboomer ebenso wenig ausgelegt wie zuvor Kindergarten, Grundschule oder weiterführende Schule. Wir waren immer zu viele, und das wurde uns in schöner Regelmäßigkeit nicht nur gesagt, sondern durch zu kleine Klassenzimmer, durch zu wenige Ausbildungsplätze und fehlende Plätze in Sport- und Musikvereinen, in Bibliotheken und Seminaren vor Augen geführt.

Die Pointe des Boomerlebens bestand darin, dass sich der Einzelne aufgrund seiner massenhaften Ausfertigung nicht besonders wichtig nahm. Als am Ende der zehnten Klasse beim Übergang zur Oberstufe ein Drittel der 30 Schüler aus meiner Klasse sitzen blieben, war das ein normaler Vorgang. Wir alle hatten verinnerlicht, dass wir sowieso viel zu viele sind, und dass darum ein größerer Schwund normal ist. Niemand, nicht einmal die Sitzengebliebenen, wären auf die Idee gekommen, dass ihnen vielleicht etwas individuelle Förderung gut getan hätte.

Auf uns hatte niemand gewartet

So gab es eine entspannte Jugendkultur, die sich mit Parkas, Anti-Atomkraft-Aufnähern und Null-Bock-Parolen in der Kleinstadt zusammenfand. Auf uns hatte niemand gewartet, und ob die Eltern uns gewollt hatten, war ebenso wenig gewiss wie die Frage, ob die Zukunft für uns ein Plätzchen in der Gesellschaft erübrigen würde. Wir hatten wenig Chancen, und darum war übertriebener Ehrgeiz in der eigenen Lebensplanung eher selten.

Seit nunmehr zwanzig Jahren unterrichte ich nun an Kunsthochschulen und bin immer wieder überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit die nachrückenden Generationen ihren Platz einfordern. Sie haben das beneidenswerte Selbstbewusstsein von Menschen, denen von klein auf gesagt wurde, dass es genau auf sie ankommt und die Welt gerade auf ihren Auftritt gewartet hat. Für die Theaterberufe, die ich ausbilde, sind das hervorragende Voraussetzungen. Die Zuversicht, dass die eigene Stimme zählt, ist ein großes Pfund, wenn man die Bühne des Theaters wie der Welt betreten will.

Die Unlogik der Identitätspolitik

Was ihnen dabei ein Boomer-Kind mitgeben kann, das ihnen als Professor gegenübersteht, müssen selbstverständlich die Studierenden beantworten. Meine Hoffnung ist, dass ich ihr Selbstvertrauen durch die eine oder andere nachdenkliche Frage von einem biographischen Glücksfall zu einer gesellschaftlichen Relevanz entwickeln kann. Insofern habe ich bis heute den Unterschied der Generationen als vorhanden aber konstruktiv erlebt.

Dass das Verhältnis zwischen den Babyboomern und den nachfolgenden Generationen nun ein toxisches sein soll, wie die Bezeichnung des „alten, weißen Mannes“ und der negativ gebrauchte Ausruf „Ok, Boomer“ unterstellt, hat mich darum erschreckt. Nach dem anfänglichem Missverständnis, bei dem ich die negative Absicht der Boomer-Bezeichnung erst gar nicht gesehen hatte, kam ich ins Nachdenken, was für ein Konflikt etabliert werden soll. Bald wurde mir klar, dass es sich dabei um einen weiteren Versuch handelt, die Unlogik der Identitätspolitik in immer mehr Bereiche der Gesellschaft hineinzutragen.

Einsperren in eine kollektive Identität

Wie schon beim „alten, weißen Mann“ soll eine negative Bezeichnung durchgesetzt werden, um eine weitere Menschengruppe in eine kollektive Identität einzusperren. Was mir dabei nicht einleuchtet, ist der feindselige Wunsch, alle mögen in ihren jeweiligen Identitätsschablonen eingezwängt leben. Ich lehne den Zwang und die damit verbundene Beleidigung jedoch bis heute ab, da ich die identitätspolitische Logik dahinter ablehne. Die Konstruktion von Schicksalsgemeinschaften ging noch niemals gut aus. Zu allen Zeiten zogen junge Männer hinter der Fahne ihrer Identität in Kriege, um dort zu sterben oder als Krüppel zurückzukehren.

Zu allen Zeiten wurden für die Anderen Identitäten konstruiert, um sie als Gruppe dingfest machen und abwerten zu können. Was als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Soziologie seit einigen Jahren erforscht wird, gibt Aufschluss über die Mechanismen. Wie man aber denjenigen, die immer neue Identitätsgruppen herbeireden, erklären kann, dass sie das besser sein lassen sollten, ist leider noch unerforscht.

Ich als Maßstab der Welt

Ich werde das Etikett Boomer weiter als historisch zutreffende, wenngleich verkürzende Bezeichnung verstehen. Und wenn ich es überhaupt mit Inhalt füllen wollte, dann wäre es der Stolz, dass aus einer Jugend, in der die eigenen Impulse wenig galten und die Existenz als eine, die zu viel ist, erlebt wurde, so viel politisches Bewusstsein entstanden ist, dass ich die Verirrungen reaktionärer Identitätskonstrukteure erkennen und ablehnen kann. Vielleicht ist eine Jugend, die einem beibringt, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen, der beste Schutz davor, das Ich zum Maßstab der Welt erklären zu wollen.

Ich höre schon das ironisch abwertende „Okay, Boomer“, doch es berührt mich nicht. Wenn jemand einen Konflikt mit mir anfangen will, so braucht er dafür Argumente. Mir eine Identität anzudichten, um mich damit beleidigen zu können, ist genauso abwegig wie alle anderen Angriffe aus dem Baukasten der persönlichen Beleidigungen. Wenn es außer meines Geburtsdatums keine anderen Argumente gibt, bin ich als Boomer fein raus. Denn das war seit dem ersten Tag in der Welt die Grundierung meines Lebens. Wenn jetzt davor gewarnt wird, dass mit dem Renteneintritt der Boomer endgültig die Lichter im Sozialstaat ausgehen werden, kann ich nur sagen: Wir waren schon immer zu viele. Es gab genug Zeit, sich damit abzufinden.

Wem diese Antwort noch nicht reicht, dem empfehle ich, das Märchen zu Ende zu lesen. Denn nachdem der Großvater sein Gnadenbrot aus dem Holznapf löffeln muss, bemerken die Eltern bei ihrem Kind ein seltsames Spiel. Auf ihre Frage, was es denn dort treibt, antwortet der kleine Sohn: „Ich baue ein Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter einst essen, wenn ich groß bin“.

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