Berlinale - Was versteht der Westen schon von Russland?

Bei der Berlinale stehen Filme über Schriftsteller im Mittelpunkt. Der fabelhafte russische Beitrag ist Favorit auf den Sieg, während ein Film über Oscar Wildes letzte Wochen kolossal enttäuscht. Und der deutsche „Transit“ stellt Fragen, die er nicht beantworten kann

Regisseur Christian Petzold und Schauspielerin Paula Beer mit „Transit“ auf dem roten Teppich der Berlinale / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wenn Dichter dichten, gibt es wenig zu sehen: ein Mensch, ein Tisch, ein Aufzeichnungsgerät. Dennoch erfreut sich das Genre der Literaturverfilmung ebenso andauernder Nachfrage wie der Poetenfilm. Man will halt doch wissen, wie es ausschaut, wenn der „Genius“ – so der Titel eines „Berlinale“-Wettbewerbsbeitrages von 2016 über Thomas Wolfe – sich materialisiert. Die Internationalen Filmfestspiele Berlin nehmen zuverlässig Filme über Dichter in ihr Programm. Manchmal geraten sie herausragend, wie der diesjährige russische Beitrag über Sergej Dovlatov und Joseph Brodsky. Manchmal gelingen sie (Christian Petzolds „Transit“), manchmal sind sie kaum zu ertragen („Eva“ mit Isabelle Huppert) oder stranden in den Tiefen der Klamotte, obwohl die Hauptfigur Oscar Wilde heißt. So geschehen in Rupert Everetts Regiedebüt „The happy prince“ mit Rupert Everett in der Titelrolle.

Triumphaler Beitrag über Brodsky und Dovlatov

Alexej German Jr., Jahrgang 1976, wusste bereits bei der Berlinale 2015 mit „Under Electric Clouds“ zu überzeugen, einer winterlichen Zustandsbeschreibung des gegenwärtigen Russlands. Nun triumphiert der russische Regisseur mit einer Verfilmung fiktiver sechs Tage Anfang November 1971 im Leben der sehr realen Schriftsteller Brodsky und Dovlatov. Der Titelheld, im Westen nahezu unbekannt, hat heute in Russland ein Millionenpublikum, doch zu Lebzeiten, in der bleiernen Breschnew-Ära, durfte er fast keine Zeile publizieren. Er starb 48-jährig in New York, im Jahr des Mauerfalls. Literaturnobelpreisträger Brodsky wurde ebenfalls zur Emigration genötigt. Er starb mit 55 Jahren in Venedig: Diktaturen verzehren Leben, immer.

German zeigt in „Dovlatov“ sechs Leningrader Tage der Zensur, des Misstrauens, der Entbehrung. Und eine Künstlergeneration, die sich davon nicht beirren lässt. „Hoffnungen“ heißt das letzte Wort eines fabelhaften Films, der zuvor Menschen, vor allem den vom Serben Milan Maric verkörperten Titelhelden, porträtierte, denen die zögerlich vorgebrachte Losung einer Frau aus Kasan Programm ist: „Man braucht Mut, um sich selbst treu zu sein, wenn man ein Nichts ist.“ Klassische Jazzmusik, bläsergetrieben, erklingt, wenn Dovlatov zu hören bekommt, Ironie sei Dekadenz, man brauche bei der Fabrikzeitung, bei der er sich verdingte, optimistische Beiträge zum Ruhm der Arbeiter. Dazu sah sich Dovlatov außerstande. Er wollte der Macht nicht gehorchen und zahlte einen hohen Preis.

Ist es heute anders? In der Pressekonferenz wies Alexej German Jr. darauf hin, dass im Gegensatz zur schlimmen Breschnew-Zeit unter Putin keine „totale Zensur“ herrsche. Sonst säße er nicht hier, sonst gäbe es diesen Film nicht, der in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Kulturinstitut und dem russischen Kultusministerium entstanden ist. Auch Geld könne eine „gewisse Zensur“ ausüben“; sich die eigene Integrität zu bewahren, werde „immer schwieriger“. Und dann sagte er drei Sätze, die weit jenseits der Berlinale Gehör verdienen: „Der Westen versteht sehr wenig von Russland, die Russen verstehen den Westen nicht richtig. Wir entfernen uns jedes Jahr mehr voneinander. Das ist eine große Tragödie, die irgendwann zum Krieg führen könnte.“ Keine Frage: „Dovlatov“ verdiente den Goldenen Bären.

Petzolds Mogelei und Nerviges zu Wilde

Für Christian Petzolds „Transit“ gilt das nur eingeschränkt. Der Film nach Anna Seghers gleichnamigem Roman verlegt eine Flucht vor den Nationalsozialisten ins Marseille der Gegenwart. Dort schlüpft der Radio- und Fernsehtechniker Georg, dargestellt von Franz Rogowski, in die Identität des Schriftstellers Weidel, der sich zuvor in einem Hotel umbrachte. Georg weiß davon, der Rest der Welt und die Behörden tappen im Dunkeln. Petzold verdichtet in dieser ZDF-Produktion Situationen universaler Unbehaustheit zu eindrücklichen Szenen. Rogowski spielt derart unterkühlt, dass die Lobeshymnen auf den zum Shooting-Star ausgerufenen Berliner sich wohl eher dem kommenden Wettbewerbsbeitrag verdanken, der Clemens-Meyer-Verfilmung „In den Gängen“. Petzold mogelt sich mit Raffinesse und Routine um die Frage herum, ob die deutschen Nationalsozialisten von einst in den französischen Sicherheitskräften von heute, die gegen illegale Migration ausrücken, gespiegelt werden können. Sehr vermutlich können sie das nicht.

Dennoch ist der dramaturgisch wie handwerklich gelungene Film um viele Deute besser als das Regiedebüt von Starschauspieler Rupert Everett. „The Happy Prince“ über die letzten Wochen im Leben Oscar Wildes entwickelt sich leider mit fortwährender Spieldauer zu einem schwulen Kostümfilm, in dem Hauptdarsteller Everett derart penetrant auf den hohen Tragödenton gestimmt ist, dass es spätestens nach einer Stunde nur noch nervt. Das hat Wilde nicht verdient. „The lucky prince“ leidet an einer Überidentifikation mit seiner Hauptfigur. So sehen wir Wildes Abstieg zum jammernden Poseur erst ergriffen, dann betroffen, schließlich gelangweilt zu. „Kein Geheimnis ist so groß wie das Leiden“? Es sind geheimnislose Filme wie „The lucky prince“, an denen wir am meisten leiden.

Isabelle Huppert verschwendet

Auf andere Weise gescheitert ist der Künstlerkrimi „Eva“ von Benoit Jacquot. Isabelle Huppert in der Titelrolle erleben wir als Edelprostituierte nie bei der Arbeit, immer bei Vorbereitungen und Verabschiedungen. Ihr jüngster Kunde ist Bertrand, der als Schriftsteller gilt, tatsächlich aber nur das Manuskript eines vor seinen Augen gestorbenen Autors unter seinem Namen veröffentlichte. Nun muss er einen Nachfolger vorlegen und kann seine innere Leere nur füllen, indem er die Begegnungen mit Eva wortgetreu ins Notebook hämmert. Das könnte spannend sein, doch Gaspard Ulliel gibt den ödesten Möchtegernpoeten, den eine Leinwand je sah. Sein Gesichtsausdruck changiert zwischen gelangweilt, sehr gelangweilt und extrem gelangweilt. Huppert tut das Allernötigste und spielt ihn an die Wand, dass es schmerzt. Welcher Teufel auch immer die Berlinale geritten haben mag, „Eva“ ins Wettbewerbsprogramm zu hieven, es muss ein sadistischer Dämon gewesen sein.

Dem Geheimnis dichterischer Inspiration kann „Eva“ nur ex negativo näher rücken: Wer die Realität protokolliert, ist kein Poet. Oscar Wilde ist bei und durch Rupert Everett Ironiker seiner selbst. Ihn gelingen Preziosen nur mehr im Stadium der Weinerlichkeit und der Reminiszenz. Radiotechniker Georg hat die entscheidenden Stellen im Werk des verblichenen Großautors Weidel verinnerlicht, sodass im Zitat die Poesie über das Leben triumphiert, welches ihr nachfolgt. Nur Dovlatov und Brodsky beglaubigen Dichtung durch die untrüglichste Instanz überhaupt, den Körper. Ihr Leben ist ein einziges Trotzdem, ein Dennoch, Hoffnung wider alle Hoffnung. Die Gegenwart hat sie geknechtet, die Ewigkeit gerettet. Das ist Poesie.

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