Der Flaneur - Vom Untergang des Automobils und fast auch des Abendlands

Städte auf der ganzen Welt ähneln sich in einer Sache: Autoverkehr. Parkende und sich bewegende Fahrzeuge bevölkern die Straßen dieser Welt und nehmen die Sicht. Dabei dient das Auto längst nicht mehr der Bewegung

Erschienen in Ausgabe
Autos versperren in den Städten die Gesamtsicht auf Häsuer
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Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Die Universität Berkeley in Kalifornien ist stolz auf ihre zahlreichen Nobelpreisträger. Dem Besucher zeigt sich dies an einem markanten Detail: Vor den Institutsgebäuden gibt es reservierte Parkplätze für die Laureaten. Ein höheres Privileg hält die Autowelt nicht bereit, größere Anerkennung kann eine Forschungsstätte ihren Besten nicht erweisen. Ruhm und Ehre, schön und gut – doch nichts geht über einen Parkplatz. Wie mag man sich fühlen, wenn man seinen Wagen dort abstellt? Man wird ehrfürchtig bestaunt als Nobelpreisträger, aber mehr noch beneidet als Parkplatzinhaber.

Letztens wurde in Potsdam ein Film gedreht. Zu diesem Zweck räumte man die Hermann-Elflein-Straße, eine der schönsten der Altstadt, von sämtlichen parkenden Autos frei – und plötzlich sah sie aus wie im Film. Ohne die Mauer aus buntscheckigen Blechkisten war die Linie der Straße wieder zu erkennen, und die Häuser waren nicht mehr ihres Parterres beraubt. Dass ein Haus am Boden beginnt, die Fassade als Ganzes wirken soll, gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die in der Moderne ihre Geltung verloren haben. Der parkende Mensch korrigiert die Architektur, greift in die Kunstgeschichte ein: Das Zeitalter des Individualverkehrs ist auch das der Eliminierung des Parterres. Wer hat das so verfügt?

Das Erdgeschoss ist Endlosband von Geschäften

Man könnte einwenden, dass in den Städten das Erdgeschoss ohnehin eine Zone beseitigter Schönheit ist. Zumal in der „City“ läuft hier ein Endlosband von Geschäften hin, die immer gleiche Konstruktion aus Schaufenstern und Glastüren und Reklamen. Ob in Berlin, London oder Moskau: Selbst prächtigste Häuser haben ihr Parterre an die Einkaufszone abgetreten, die Mode-Outlets, Supermärkte, Handyläden, Piercing-und-Tattoo-Studios, Stehbäckereien führen mit ahnungsloser Selbstgewissheit das Regiment. Macht eine parkende Kolonne da einen Unterschied? Die Autos und Geschäfte scheinen aus dem gleichen Geist geboren zu sein, und wenn ein Burger King hinter Blech verschwindet, mag man es sogar begrüßen.

In Petersburg fuhr ich letztens mit einem Touristenbötchen über die Stadtkanäle. Das Aussichtsdeck bewegt sich unter Straßenniveau, man sieht daher die Häuser von schräg unten herauf; so werden die Autos und Geschäfte weggeblendet, und die Häuser gewinnen ihre Würde zurück. Man hört noch das Dröhnen der Motoren, doch gedämpft und unwirklich, wie den Nachklang eines Traumes, aus dem man schon erwacht ist.

Nichtbewegung wird zum Normalzustand

Der Stau ähnelt einem temporären Parken. Je mehr Autos in unser Land hineingepumpt werden, desto mehr verfließen die Grenzen zwischen Parken und Fahren. Wer auf der Suche nach einem der raren Parkplätze durch die Straßen fährt, hat den Wunsch zu halten, muss aber fahren; wer in einen der vielen Staus gerät, hat den Wunsch zu fahren, muss aber stehen. Von beiden Seiten her nähert er sich der Nichtbewegung an, diese wird zum Normalzustand im mobilen Zeitalter.

Oswald Spengler stellte dem Automobil eine ungünstige Prognose. Er sah den anschwellenden Verkehr in den Städten und zog den Schluss, das Auto habe sich „durch seine Massenhaftigkeit um die Wirkung gebracht“; es besitze daher keine Zukunft. Heute wissen wir, dass er auch mit dieser Voraussage danebenlag: Das Auto ist ebenso wenig untergegangen wie das Abendland. Mag der Blechkasten auch zum Stillstand kommen, die Menschen halten ihm dennoch die Treue. Dass das Auto der Bewegung dient, ist ein Denkfehler, den wir korrigiert haben.

Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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