Aussteiger - Urlaub für immer

„Einfachheit heißt, das zu tun, was getan werden muss“: Immer mehr Menschen verwirklichen ihren Traum und suchen den endgültigen Ausstieg aus ihrem beruflichen Alltag. Es geht ihnen um Sinnsuche und ein selbstbestimmtes Leben. Zwei Besuche bei solchen, die es gewagt haben – und nicht bereuen

Erschienen in Ausgabe
Fotos: Oliwia Twardowska und David Richard für Cicero
Anzeige

Autoreninfo

Christian Schüle ist Philosoph, freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u.a. in CiceroZeit, mare und im Deutschlandfunk. Foto: Thomas Duffé

So erreichen Sie Christian Schüle:

Anzeige

Manchmal braucht der Mensch ein Haarwaschmittel, also stand Cynthia Wells eines Tages vor gefühlt 100 Pflegeprodukten im Regal eines texanischen Supermarkts und wurde von einer plötzlichen Paralyse ereilt. Gelähmt angesichts der Fülle, überwältigt von der Vielfalt der Produkte, wütend vor eigener Hilflosigkeit. Sie nahm die Flaschen einzeln aus dem Regal und las die aufgedruckten Inhaltsstoffe. Minuten vergingen, Stunden, vielleicht verging der ganze Nachmittag. Es war jener Tag im Jahr 2008, da Cynthia endgültig beschloss, ein Leben zurückzulassen, in dem Freiheit immer mehr bedeutete, sich permanent zwischen zahllosen Optionen entscheiden zu müssen und über ein immer aufgeregteres, lärmendes, wichtigtuerisches Leben in die Depression zu geraten. Um es gleich zu sagen: Sie besorgte sich eine Landkarte von Griechenland, schloss die Augen, setzte irgendwo die Zeigefingerspitze auf, packte drei Taschen mit Büchern, verließ ihr Land und machte sich auf den Weg auf die Insel Naxos, äußere Kykladen, Ägäisches Meer – nach der Mythologie das Exil der Ariadne. Und dann war da endlich Stille.

Wie gelingt das gute Leben?

Mit großer Dringlichkeit ist in den vergangenen Jahren der Verunsicherung, Beschleunigung und Entgrenzung die Sehnsucht nach Sinnstiftung ins zeitgenössische Leben zurückgekehrt. Was, fragen offensichtlich zunehmend mehr Menschen in westlichen Wohlstandsgesellschaften, stelle ich mit meinem Leben in den Labyrinthen seiner Fremdbestimmung an? Wie gelingt das gute Leben in Zeiten der Zeitknappheit? Die Suche nach den richtigen Umständen des subjektiven Wohlbefindens beschäftigt immer mehr jener bis zum Einzelkämpfertum individualisierten Globalisierungsbürger, die reihenweise in die Erschöpfung fallen. Deren Körper ausgebrannt, deren Psychen krank sind. Die nicht mehr arbeiten, um gut zu leben, sondern nur noch leben, um zu arbeiten. Aber wofür? Soll und kann man das noch Glück, darf man das noch Eudaimonía nennen, nach Aristoteles das höchste Gut im Leben? Oder leben im Gegenteil jene ein weit glücklicheres Leben, die aus- oder umsteigen und sich der Zeitverdichtung und Verwertungslogik des dauererregten Daseins entziehen?

Cynthia kam mit 42 nach Naxos, heute ist sie 52. Sie hatte in San Francisco und Austin Kunst studiert, als Kunstlehrerin gearbeitet, Kunst produziert. Als vor gefühlt 20 Jahren mit der Inflation der Multioptionen auch deren Entwertung offenbar wurde, als alles zugleich gültig wurde und nichts mehr galt, wollte und musste sie herausfinden, wie Einfachheit geht. „Einfachheit heißt, das zu tun, was getan werden muss“, sagt sie an einem frühen Abend Mitte Juni am Plaka Beach der Insel Naxos, „wenn du nicht rausgehst und Holz sammelst, dann bist du es, der friert, niemand sonst.“ 

Eine Hütte in den Bergen

Der kykladische Wind tost, mild, aber spürbar, schwarze Käfer brummen durch die Luft. Prachtvoll blühen Oleanderbüsche und Bougainvillea, es riecht nach Salz und Tamariskenharz. Cynthia trägt ein rotes Sommerkleid, um den Hals liegt ein schwarzes Lederband mit daumengroßer Schraube samt Mutter aus Bronze auf dem Dekolleté. Auf einigen Fingern stecken flache Silberringe, um die Speiche liegt ein Armreif. Die Sonnenbrille im Haar, sitzt sie barfüßig im Schneidersitz auf einem schlichten Holzstuhl. Als sie vor zehn Jahren hierherkam, ging sie an einem Tag mit dem Bekannten eines Bekannten auf den Gipfel einer Hügelkuppe zwischen den Dörfern Glinado und Galanado, wo eine Holzhütte stand.

Wenn er sich gleich umdrehe, hatte der Bekannte gesagt, gehöre die Hütte ihr. Er drehte sich um, und bis heute lebt Cynthia Wells in diesem Haus ohne Strom, ohne Kühlschrank, ohne fließendes Wasser. Ein kleines Solarpanel sorgt für Licht im Wohnzimmer, Öllampen und Kerzen nutzt sie in den anderen Räumen. Ein Tank sammelt Regenwasser, im Sommer lässt sie ihn zweimal von einem Bauern im Tal auffüllen. Bei wochenlang 35 Grad ist Wasser kostbarer als Geld. Cynthia hat keine Nachbarn, sie schläft bei offener Haustür. Die Griechen, sagt sie, mögen es nicht, in der Dunkelheit umherzugehen. In welcher amerikanischen oder europäischen Stadt könnte man nachts die Türe offen lassen? 

Menschen, die aussteigen, umsteigen, neu einsteigen, die ihre Stadt, ihre Heimat, ihr altes Leben verlassen, die neu anfangen, sich den Zumutungen des permanenten Wahlzwangs entziehen und in Zeiten der Reizüberflutung die Hoheit über ihre Zeit zurückerobern wollen, suchen vordergründig Selbstbestimmung und hintergründig Lebenssinn. Manche ziehen mit Sack und ohne Pack in die Dünen des andalusischen Ambrosius, ins Aschram nach Goa, ins Tipi nach Teneriffa, ins Berghaus im Himalaya, um mental zu gesunden oder in Höhlen zu meditieren, was im Trubel der Wort- und Bilderfluten, der Impuls- und Informationskaskaden der geradezu wahnwitzigen Betriebsamkeit der spätmodernen Lebenswelt kaum möglich scheint.

Flucht vor dem Funktionieren

Man kennt Berichte von Millionären, die plötzlich ihre Villa versteigern, einen Rucksack packen und sich aufmachen, die Welt zu durchreisen, oder von ehemaligen DJs, die jetzt in Indien mit einem Ochsenkarren von Dorf zu Dorf ziehen. Ihr Streben nach Abständigkeit ist der gezielte Versuch, jener Zivilisation zu entkommen, deren Errungenschaften sie bisher stabilisierten. Mit seinem Aus- und Umstieg widersetzt der Aus- und Umsteiger sich der andressierten Funktionstüchtigkeit, dem Funktionalen und Funktionieren und allen ihm auferlegten Funktionen. Gezielt unterläuft er das Gesamtarrangement eines verwalteten Lebens, um ein weitgehend unverwaltetes Subjekt zu werden. Sein neues Glück besteht darin, dem bis dahin definierten Glück zu entsagen, weil es ein fremdbestimmtes Glück ist. Die übliche Überfülle bewirkt irgendwann innere Leere, wohingegen die Leere der Natur den Menschen auf Dauer innerlich erfüllt. Und manchmal kommt die Eudaimonía sogar in Windeseile.

Anfang Juli fegt ein Mistral über L’Isle-sur-la-Sorgue und putzt den provenzalischen Himmel blank, das Blau ist noch bestechender als sonst. Die kleine Stadt befindet sich inmitten der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, wird von zwei Armen des Flusses Sorgue zur Insel gemacht, zählt 20 000 Einwohner und liegt eine knappe Stunde nördlich von Marseille, eine halbe östlich von Avignon. Vor dem geradezu berühmten Café de France sitzt zum wiederholten Mal ein neuer Bürger dieses „Klein-Venedigs“ mit seinen Kanälen, hölzernen Schaufelrädern und schmalen Brücken, und er hat das ihm Wichtigste auf Erden mitgebracht: Zeit. Schwarzes Hemd, luftige Hose, Espandrillos, schwarzer Kaffee, Zigaretten, bronzierter Teint. Dazu die innere Ruhe eines Mannes, der um seinen 50. Geburtstag herum aus der Mitte von 3,5 Millionen Einwohnern in die Mitte von 20 000 gezogen ist, von Berlin-Mitte nach L’Isle-sur-la-Sorgue. Das war vor vier Jahren. Von Ausstieg spricht Christoph Slangen nicht, von Neuanfang durchaus. Jetzt ist er 54 und mit allem zufrieden. Mehr noch: Im Frieden mit sich. „Nein“, sagt er, „Heimweh habe ich nicht.“ 

Vom politischen Machtzentrum in die Bucht am Mittelmeer

Mit Gerhard Schröder, Angela Merkel und anderen Spitzenpolitikern hat er über die Jahre hinweg zigfach gesprochen, gespeist und Interviews geführt für seine Kunden – ein Dutzend Regionalzeitungen im Bundesgebiet, flächendeckend von Schwerin bis Passau, mit einer Gesamtauflage in Millionenhöhe. Slangen war ein Name im nervös-fiebrigen politisch-publizistischen Betrieb. Als selbstständiger Parlamentskorrespondent mit eigenem Büro im Haus der Bundespressekonferenz und den Schwerpunkten Finanzen/Wirtschaft/Soziales war Slangen bestens vernetzt und immer top informiert, erst in Bonn, dann in Berlin. „Ein toller Job“, sagt er, „noch immer machen die Kollegen eine gute Arbeit.“ Das alte Leben: Das waren Pressekonferenzen, Parteitage, Hintergrundgespräche. Hektik, Hetze, Masse. Manchmal vier Artikel pro Tag, zack, zack. Und jetzt: vier Artikel in vier Jahren. Dafür poliert er Silberbesteck und kauft Art-déco-Stühle ein.

Dienstag bis Freitag steht Slangen in seiner Galerie & Brocante im Nachbarort Coustellet, 100 Quadratmeter, zwei Ebenen. Samstags fährt er zum Antiquitätenmarkt gegenüber von Avignon, montags rauscht er mit seiner Freundin Emmanuelle runter ans Meer, Cassis, eine Bucht unter Kalksteinklippen, ein paar Kilometer östlich von Marseille. „Luxus ist für mich die Freiheit, meine Öffnungszeiten selbst zu bestimmen.“ Slangen handelt mit Gemälden, Lithografien, Geschirr, Tischen, Stühlen, Schränken, Regalen, das macht man so in L’Isle-sur-la-Sorgue, das neben Paris und London der drittgrößte Umschlagplatz für Antiquitäten in Europa sein soll. „Als ich vor vier Jahren kam, hatte ich noch die immer tickende Uhr im Kopf: Redaktionskonferenzen, Deadlines, die politische Agenda. Nach ein paar Monaten war das komplett weg.“ 

Öffnungszeiten sind Lebensbedingungen, Betriebs­­zeit ist Lebenszeit. Thermodynamisch gesprochen war Slangen die erste Berufshälfte der hochgetaktete Insasse eines auch durch ihn erhitzten Betriebssystems, mit Beginn der zweiten Lebenshälfte sitzt er in der Hitze der Provence und führt den wilden Garçon Gassi, den kleinen Hund seiner Freundin Emmanuelle.

Zeit ist die Währung des Wachstums

Die zweifelsohne für viele Menschen zu großem Wohlstand führende Kultur des Kapitalismus organisiert sich primär über fremdverfügte Zeit und ihre Verdichtung. Oder anders: Zeit ist die Währung des permanenten Wachstums in immer kleineren Einheiten. Der Preis für die Beschleunigung ist der Verlust von Zeit. Das Organisationssystem westlicher Industriegesellschaften fordert den flexiblen Menschen. Der Zeitgenosse ohne Zeit kommt nicht mehr an, weil er ständig nur noch aufbricht. Er lebt in der Unwägbarkeit permanenter Kurzfristigkeit, im Status des ewigen Projekts. Seine Berufsbiografie ist ein ritualisiertes Ablaufprogramm kurzfristiger Arrangements, die aber ständig neu koordiniert werden müssen. Er ist getrieben vom Gefühl des Zeitdrucks, von Stress und Konkurrenzdenken in hochkompetitiven Ballungsräumen und ein Opfer dessen, was der italienische Philosoph Giacomo Marramao mit dem Begriff „Zeitsyndrom“ als Grundlage der globalisierten Gesellschaft erfasst hat: der wachsenden Diskrepanz zwischen dem Übermaß an Möglichkeiten und der fehlenden Zeit zu ihrer Erfahrung.

Erfahrung gelingt erst in Zeit, und der größte Luxus könnte doch darin bestehen, nicht Geld, sondern Zeit in ihrer Unermesslichkeit so zu verschwenden, dass sie keine Rolle mehr spielt. Ist denn die Ironie der jüngeren Geschichte nicht, dass mehr Freiheit zu weniger geführt hat? Kaum ein anderes Phänomen ist in den letzten Jahren branchenübergreifend zu einer machtvolleren gesellschaftlichen Konstante geworden als die Erschöpfung. Die Zahl der Burn-outs wächst, Panikattacken nehmen zu, Angst im Verbund mit Depression gehört mittlerweile zur vierthäufigsten Todesursache in westlichen Industriestaaten und wird im Jahr 2020 nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur zweithäufigsten aufsteigen. Stress ist nicht mehr guter Stress zur Motivation, sondern in teilweise besorgniserregendem Maße schlechter Stress als Belastung. Der Einsatz von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Muntermachern steigt jährlich um 8 bis 10 Prozent, und Untersuchungen der US-Historikerin Juliet Schor zufolge haben Amerikaner seit Mitte der 1970er-Jahre 37 Prozent ihrer Freizeit eingebüßt. Was für ein Leben ist das, in dem Ehepaare am Tag im Schnitt nur noch acht Minuten miteinander reden? 

Beobachten und zuhören, sonst nichts

Wenn sie diese Farbe essen könnte! Diese zwischen Aquamarin und Eisbonbonblau changierende Lieblichkeit des Ägäischen Meeres! Am Strand sitzen und das Wasser beobachten, sonst nichts. Auf dem Stuhl sitzen und den Spatzen zuhören, sonst nichts. Das ist es. Das reicht. Da ist sie in Verbindung mit der Umgebung. Des Weiteren liest Cynthia viel, erforscht Pflanzen, betreibt Kräuterkunde. Bienen will sie bald züchten, und manchmal werden ihre Gespräche mit Felsen und Insekten so real wie mit den Menschen.

Als sie Texas im Jahr 2008 verließ, war ihr Denken bereits infiziert mit der Frage: Was ist „genug“? „Wenn ich all das weglasse, Haus, Auto, Geld, dann bleibt die wichtigste Frage übrig: Was und wer bin ich?“ So konnte und kann vermutlich nur jemand fragen, der die Fülle kennt: den bunten Bombast der Stadt, den materiellen Wohlstand, die Saturiertheit der relativen Komfortzone. Wer im Mangel aufwächst, fragt nicht nach dem Genug; Aus- und Umsteigen ist ein Luxus. Oft sind die, die das einfache Leben begehren, gepäppelte Bürgertumskinder, die aus der Inflation aller Möglichkeiten den Gehorsam gegen dieses auf Steigerung, Gewinn und Bonuskult ausgerichtete Leben – und vielleicht auch gegen die erfolgreichen Eltern – verweigern und wenn es existenziell bedrohlich wird, zu Hause anrufen und sich einen Scheck schicken lassen.

Sich weigern, vereinnahmt zu werden

Cynthia wurde in eine wohlhabende Familie geboren, der Vater war Anwalt, die Mutter Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft, die Schwester in den USA hat mehrere Kinder. Wer die Einöde der Kykladeninsel Naxos der Betriebsamkeit San Franciscos vorzieht, schätzt die Erhabenheit der Gebirgszüge und die Einsamkeit der Ebenen, das so lässig Unarrangierte, Perfektionslose, Hingeworfene und die fortgesetzte Weigerung, von irgendetwas vereinnahmt zu werden. „Ich kenne niemand anderen“, sagt Cynthia Wells, „der mit so wenig zufrieden ist, wie ich es bin.“ 

Kein Theater, kein Kino, keine Museen, aber langweilig sei ihr nie in den langen Weilen des neuen Lebens. Natürlich gab und gibt es Phasen, da das Gespür der wahren Essenz hart erkämpft ist – ewiger Urlaub ist die Transformation ja keineswegs. Fast alle Um- und Aussteiger arbeiten. Sie haben ihren Arbeitsplatz nur an Orte verlegt, die ihnen spirituelle Wohlfahrt, seelisches Heil oder eigene Zeitgestaltung ermöglichen, wo sie nicht getrieben werden, sondern sich treiben lassen können, wo sie nicht in unbewusster Lebensverneinung überleben, sondern in gezielter Lebensbejahung erleben.

Zeit ist wichtiger als Geld

Cynthia besitzt einen hellgrün-metallischen Kleinstwagen, der Kotflügel ist gedellt, das Fenster der Fahrertür stets offen. Mit dem Auto fährt sie über die Dörfer der Insel, um Griechen Englisch und Yoga zu lehren, täglich zwischen drei und sechs Stunden. Und jeden Juli reist sie für sechs Wochen nach England, um dort in einer Summerschool Englisch zu unterrichten. Monatlich braucht sie 620 Euro: 100 für Miete, 400 für Lebensmittel, 120 für Benzin. Sie spart nichts, sie kauft nichts, sie hat keine Krankenversicherung. Zeit ist wichtiger als Geld. Geld braucht man nur, um sich den Luxus der Zeit leisten zu können. Es geht um ein anderes Verdienst. Um eine andere Gratifikation. Um die immaterielle Währung einer Suche nach dem, was das Leben im Eigentlichen lebenswert macht.

Stimmen vielfache Beobachtungen, vollzieht sich dieser Tage ein Kulturwandel. Wohlstandsbürger werfen Besitz ab, schränken Konsum ein, teilen sich Autos oder sind, wie in den Vereinigten Staaten, Teil der Tiny House Movements, deren Mitglieder seit der Finanzkrise nach 2008 in winzige Häuser mit höchstens 46 Quadratmetern ziehen. Kooperativen wachsen, in den Metropolen und Städten entstehen immer mehr Gemeinschaftsgärten. Die weltweite Commons-Bewegung – die mit Kommunismus und Kommunardentum nichts und mit den Commons, den allen gehörenden Ressourcen Wissen, Wasser oder Zeit sehr viel zu tun hat – basiert auf Strukturen, die der Konsumgüter-Verbrauchsbetrieb mit seinen Markt- und werbepsychologisch stimulierten und zugleich mit Waren befriedigten Bedürfnissen nicht mehr hervorbringt.

Gemeinschaftlichkeit vor Kapitalakkumulation

Prozess steht gegen Produkt, das Herstellen gegen das Verbrauchen. Der erschöpfte Mensch wendet sich an die Elemente der Schöpfung. Diese Bewegung einer rationalen Avantgarde im öffentlichen Raum ist indirekt eine Gegenbewegung zum Regime der Kontrolle und der Einverleibung des Öffentlichen durch das Private, durch Eigentum. Lebensqualität statt Geldzuwachs, Gemeinschaftlichkeit statt Kapitalakkumulation, Zeit statt Wachstum.

Dieses Commons-Netzwerk wächst auch in Deutschland, langsam zwar, aber stetig, zwischen Berlin und Freiburg entfalten sich immer mehr Projekte. Eng verbunden damit ist die Care- (oder Sorge-)Arbeit. Unter dem Begriff der Sorge subsumieren sich alle Tätigkeiten, die mit Reproduktion, Kultur, Sozialität zu tun haben. Bedürfnisorientierung funktioniert nicht länger im Investitions-Rendite-Modus, sondern in der Sorge um sich, den anderen und damit die Gesellschaft als Ganze. Reproduktion ist ja nichts anderes als die praktische Sorge um sich und den anderen: Zeugung und Erziehung von Kindern, Bekümmerung und Pflege der Eltern, Pflege des Haushalts.

Sorgearbeit könnte künftig dezentral gedacht werden, wenn die Bewohner eines Viertels oder Ortsteils die Gestaltung ihres Quartiers in die eigenen Hände nehmen und anhand der Bedürfnislage seiner Teilnehmer dessen Strukturen ausarbeiten. Galt seit langer Zeit das Bruttosozialprodukt als zentraler Indikator für das Wohl und Wehe einer Gesellschaft, so wird jetzt das Post-BIP zum Indikator fürs Volksglück, das Post-Bruttosozialprodukt, das eher ein Sozialbruttoprodukt ist: Alle nichtmateriellen Werte, Verbindungen und Bindungen, kleinere Gemeinschaften und Netzwerke, Freundschaften und Vereinigungen in einer Gesellschaft sind für das wirtschaftliche Wohl des Volkes von entscheidender Relevanz.

Ein Prozess, kein Schlüsselerlebnis

Als er von Bonn, wo er Geschichte und Politik studiert hat, im Jahr 1998 in die neue Hauptstadt Berlin umzog, wusste Christoph Slangen, dass das eine nervenaufreibende Sache werden, dass er die Wochenenden in Parteitagshallen verbringen, sechs Tage von morgens bis abends auf Achse und die freie Zeit sehr begrenzt sein würde. Seit dieser Zeit habe er gewusst, sagt Slangen, dass er auf die gesamte Lebenszeitspanne besehen mal etwas anderes machen wolle. Ein Prozess also, kein Schlüsselerlebnis. Eine Entscheidungsverdichtung, die viel mit dem Fahrrad zu tun hat. 

Eine unter vielen Fahrradtouren durch die Provence in den vergangenen 20 Jahren spülte Slangen 2011 zufällig nach L’Isle-sur-la-Sorgue. Voilà, es war Liebe auf den ersten Blick! Die barocke Kirche, der helle Stein, die Angler, die Restaurants und die Anmutung einer reizvollen Vergangenheit. Slangen mag mittelalterliche Geschichte, Kirchenstaat und Papsttum im Arrondissement Avignon sind spannende Historie, dazu die Schlösser des Marquis de Sade und überhaupt die französische Sprache. 2011 hatte er sein Apartment in Berlin-Mitte abbezahlt, er vermietete unter, hob seine Ersparnisse ab und unterzeichnete ein Jahr später den Kaufvertrag für eine Vierzimmerwohnung in einem alten Stadthaus am Quai Clovis Hugues, 300 Meter vom Café de France entfernt, fast direkt an einem Arm der Sorgue, in deren kaltes, klares Wasser sich gern die Äste tief geneigter Feigenbäume hängen. Weder auf Kinder noch auf eine Partnerin hatte er Rücksicht nehmen müssen. Er kam an, kannte niemanden und genoss fortan die Langsamkeit. Zwei Semester Sprachunterricht an der Universität Avignon, rein ins Studentendasein mit über 50 und regelmäßig im Bistro Au Chineur sitzend, kam er dort nach ein paar Monaten mit der Lampendesignerin Emmanuelle ins Gespräch. Nach drei Jahren in ihren eigenen Wohnungen wollen sie in Kürze zusammenziehen. 

„Irgendwie wusste ich immer, dass das alles gehen wird, weil ich diesen Schritt schon seit 20 Jahren innerlich vorbereitet habe, das hat mir eine große innere Ruhe gegeben.“ Samstags steht Slangen um vier Uhr früh auf, belädt seinen Peugeot Boxer, fährt nach Villeneuve-lès-Avignon links der Rhône zum Antiquitätenmarkt, baut auf, steht, redet, baut ab. Wenn es gut läuft, nimmt er 500 Euro am Tag ein. Nicht immer läuft es gut. Manchmal bleiben nur 200 Euro im Monat, während Kranken- und Autoversicherung aus den Berliner Mieteinnahmen beglichen werden. Im Winter ist es zwar tot in L’Isle, aber für Slangen immer noch schöner als die deutsche Tristesse, das Grau der Hauptstadt, die Kälte, der Regen. „Bonjour!“, ruft einer freudig herüber, Slangen steht auf, Handschlag und Plausch, während der Mistral immer heftiger durch die drei gigantischen Platanen vor dem Café de France tobt. 

Wertverlagerung und Bewusstseinserweiterung

Im Ausstieg aus dem bisherigen System vollzieht sich eine Wertverlagerung. Ob die Suche nach der Wahrheit des Selbst oder die Rückgewinnung von Zeit – im Shift erhält das Leben eine neue Qualität der Bewusstseinssteigerung. Wertverlagerung bewirkt Sinnverlagerung, Sinnverlagerung Selbstverlagerung: die Rettung der eigenen Schöpfung vor der Erschöpfung in eine qualitativ neue Dimension. Wert hat dann nicht mehr, was sich zählen, messen und anhäufen lässt. Wert hat, was unter dem Verdacht auf inneren Frieden steht. Was das ist, entscheidet jeder für sich.
Der Aus- und Umsteiger ist insofern eine Art Metaphysiker. Cynthias Ausstieg war weder Flucht noch Feigheit, weder Kapitulation noch Verzweiflung, sondern Mut zur Metaphysik und Bereitschaft zum Risiko, die Frage nach Wahrheit und Wichtigkeit nicht ständig zu vertagen. Der letzte Winter auf Naxos war ungewöhnlich kalt. Cynthia fror, aber ihr wurde nicht kalt. Ein Wunder? Nein, ein Erfolg innerer Arbeit. Übers Jahr hinweg hatte sie Holz gesammelt und gekauft, im Winter war das Holz trocken, und das Wissen, trockenes Holz zu haben, hielt sie in der griechischen Kälte zu frieren ab. Zwischen äußerer Kälte und innerem Frost besteht ein spirituell bedeutsamer Unterschied. „Jeder kann das erleben, dafür braucht man keinen Mut“, sagt Cynthia, „es muss einem nur wichtig genug sein. Mich hätte es gebrochen, wenn ich es nicht getan hätte.“ 

Fehlt da nichts, obwohl man es getan hat? Nein, fehlt nichts, nichts für Christoph Slangen. Mit wem er zu tun haben will, mit dem hat er es auch. Mit alten Freunden telefoniert er, häufig kommt Besuch aus Deutschland vorbei, und der Polit- und Medienbetrieb macht keineswegs süchtig, Slangen brauchte keinen Entzug. Fast alles ließ er zurück, nur einige Gemälde, einen Aktenordner mit seinen ersten Artikeln und Erinnerungen nahm er mit ins neue Leben. Dieses Leben entspricht ihm. Das alte hatte ihm auch entsprochen. Womöglich sind im Menschen ja mehrere Bestimmungen angelegt, und irgendwann setzt er von einem Gleis aufs andere über und sitzt dann zum Beispiel im zauberhaften Garten des Restaurants Le Mas Tourteron mitten auf dem Land im Département Vaucluse und raucht eine Chesterfield, während die als Spitzenköchin in Frankreich gerühmte Mutter von Emmanuelle ihr Lamm-Dreierlei zubereitet.

Und manchmal kommt das alte Leben auf merkwürdige Weise zurück. Unter dem 22. Juni 2017 ist auf der Mailbox von Slangens iPhone ein Anruf verzeichnet. Man kennt die Stimme gut, der Anrufer spricht französisch. „Bonjour, Monsieur Slangen.“ Er wolle sich erkundigen, wie es ihm in Frankreich so gehe, sagt er, just seien zwei ehemalige Kollegen bei ihm. Der Anruf dauert 30 Sekunden. Der Anrufer ist Martin Schulz. 

Der einst freie Journalist Slangen ist zu ausgeglichen, um mehr zu wollen als den Moment. Sollte Frankreich aber dereinst an den Front National und die Le Pens fallen, wird er hier nicht alt. Im Februar waren Emmanuelle, er und Garçon in Lissabon. „Tolle Atmosphäre dort!“

Mehr als fünf Stunden Arbeit sind schlecht für das Gehirn

Die organisierte Rationalisierung durch Robotik und Automation wird künftig in weit stärkerem Maße als bisher zu einer Entkörperlichung der Arbeitswelt führen und Arbeit in den Kopf verlagern: Programmierung, Vernetzung, künstliche Intelligenz. Worin könnte die Conditio humana dann bestehen, wie gelingt das gute Leben in der kognitiven Epoche? 2000 Kilometer nördlich von L’Isle-sur-la-Sorgue arbeiten Wissenschaftler und Politiker an einem reizvollen Experiment. Seit einiger Zeit wird in Göteborg ein neues Arbeitszeitmodell getestet, das politische und ökonomische Sprengkraft besitzen könnte. Mehr als 25 Stunden Arbeitszeit die Woche, haben Arbeitspsychologen herausgefunden, seien schlecht für das Gehirn; der Mensch könne sich nur bis zu fünf Stunden konzentrieren und also könne er nur fünf Stunden am Tag produktiv arbeiten – was in summa auf eine 25- statt 40-Stunden-Woche hinausläuft. Mit Unterstützung der Politik haben Göteborger Unternehmen projektweise auf den Sechs-Stunden-Tag umgestellt, um ihren Mitarbeitern mehr Frei- und mehr Familienzeit zu lassen – bei gleichem Gehalt und vollem Lohn. Ein Pflegeheim etwa hat die Schichten seiner 82 Mitarbeiter und Krankenschwestern reduziert, wodurch sich in der Folge, wie es heißt, die Betreuung der Patienten deutlich verbessert hat. Ein Krankenhaus probt den Sechs-Stunden-Tag und hat dafür 15 neue Mitarbeiter eingestellt, was zwar teuer gewesen ist, aber die Geschäftsleitung lässt verlauten, dass seit dem Wechsel in das neue Arbeitszeitmodell offenbar weit weniger Angestellte krank seien, mehr Operationen durchgeführt werden konnten und die Wartezeiten für Patienten verkürzt worden seien.

Die Mechaniker eines Automobilwerks und die Informatiker eines IT-Start-ups arbeiten nur 30 Stunden die Woche, und in beiden Fällen, ist zu hören, seien sowohl Produktivität als auch Gewinn gestiegen. Kunden erhalten schneller einen Termin, Mitarbeiter freuen sich über geschenkte Zeit, und im ersten Jahr ist der Profit offenbar um 25 Prozent gestiegen. Wer die Produktivität erhöhen will, lautet die Lehre des Göteborger Experiments, muss die Arbeitszeit verkürzen. Eine Win-win-Situation für alle: den Arbeitgeber, den Arbeitnehmer, die Volksgesundheit, den Sozialstaat.

Der Aussteiger gewinnt

Führte eines Tages der Sechs-Stunden-Tag politisch gewollt und rechtlich gerahmt flächendeckend zu einem neuen Lebensarbeitszeitmodell, dürfte man von einer kopernikanischen Wende sprechen: Dann wird die Arbeitsweise dem Lebensstil angepasst, nicht mehr der Lebensstil der Arbeitsweise. So gesehen könnte der Aus- und Umsteiger der ungewollte Etappensieger im Wettbewerb der Ideen um das bessere Leben sein.

Nach zehn Jahren in Naxos ist Cynthia Wells der Weisheit über ihr Wesen nähergekommen. Wie nahe, weiß sie nicht. Aber näher. Sie bedauert nichts, weil Bedauern auf Dauer verrückt macht. Anfangs wollte sie auf Naxos eine Yoga-Community aufbauen, Mantra-Gesänge und Meditation, wie sie es in den USA getan hatte. Doch Griechen sind keine Amerikaner, sie scheiterte an Verschlossenheit und Unzuverlässigkeit. „Ich gehe nicht mehr auf die Menschen zu, aber wenn sie zu mir kommen, bin ich offen.“ Sie hat einen Facebook-Account zur Kommunikation mit den alten Freunden in der anderen, der komplizierten Welt. Ihr Handy vernetzt sie mit der Welt, im Café des Nachbardorfs lädt sie den Akku. Die meiste Zeit aber ist Cynthia Wells allein. Manchmal ist sie glücklich, manchmal nicht. Manchmal sitzt sie vor ihrer Hütte ohne Strom und Licht und sieht nach oben, und über ihr entfaltet sich in unglaublicher Pracht die Milchstraße. Das ist einfach. Das ist ehrlich. Das ist wichtig. Das ist sie, Cynthia. Das ist genug. Mehr ist nicht zu haben. 

Die Augustausgabe des Cicero erhalten Sie unserem Online-Shop.

Anzeige