Antwort auf Rechtsextremismus - Radikal Bürgerlich

Das Bürgertum und seine Parteien haben ihre Räume und Begriffe den Extremisten überlassen. Populisten sind das Ergebnis. Zeit für die Rückeroberung. Eine Rede

Seit der Antike sind Redefreiheit und Partizipation komplexe Themen. Auch heute muss man sie wieder abhandeln / picture alliance
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Der Mensch braucht Räume, um zu leben: Lebensräume. Dazu zählt auch der nationale Raum, dem seit einiger Zeit das Absinken in die Bedeutungslosigkeit prophezeit wird – von denen, die ihre eigenen Rechtsräume, ihre eigenen Handlungsräume schaffen wollen: zur Steigerung ihrer Macht, ihres Profits – und die uns versprechen, dass diese rechtsfreien Räume dereinst Paradiese sein werden, auch für jeden Einzelnen von uns. 

Wie verächtlich wird inzwischen über die Nation hergezogen, dieses angesichts der Globalisierung angeblich so schwache Gebilde – auch angesichts der Globalisierung des Menschen selbst, der mit dem iPhone in der Hand doch flink über sein ganz persönliches Weltnetz zu gebieten glaubt. 

Was ist die Nation?

Was soll da noch die Nation? Wozu braucht es Dänemark? Wozu die Schweiz? Italien? Frankreich? Wozu Deutschland? 
Haben wir, die wir uns zur politisch-publizistischen Elite zählen dürfen, den Stolz auf die Nation nicht längst abgetreten an Populisten, die diesen Stolz mit erschreckendem Erfolg zu ihrer politischen Währung machen? 

Was ist sie, die so eilfertig verächtlich gemachte Nation? Sie ist der Raum des Bürgertums! Sie ist der Raum, in dem die Aufklärung ihre politische und rechtliche Form gefunden hat! Und so ist auch die Europäische Union nichts anderes als der Raum, den sich das Bürgertum mit seinen nationalen Räumen geschaffen hat, um die bedrohte Bürgerlichkeit zu bewahren. Bedroht ist sie nämlich täglich: durch Kriege in unmittelbarer Nachbarschaft; durch Ideologien wie den Marktradikalismus; durch religiösen Fundamentalismus wie den des historisch so fatal verspäteten Islam.

Die Rolle des Bürgertums

Das Bürgertum muss die Räume zurückerobern, die es geschaffen hat: die Nation und die Europäische Union – beides die wohl bedeutendsten geschichtlichen Leistungen überhaupt, denn sie bewahren in sich nicht nur Freiheit und Gleichheit, sie bewahren auch Brüderlichkeit in Form sozialer Strukturen, die nicht allein der brutalkapitalistischen Wirtschaft die gesellschaftlich unabdingbare Modernisierung aufgezwungen, die überhaupt erst den freien Menschen, den Citoyen und die Citoyenne möglich gemacht haben, ist doch nur ein freier Mensch, wer frei ist von existenzieller Angst. 

Rückeroberung meint auch: die Rückeroberung des Bürgerlichen – der Bürgerlichkeit. 

Was ist das, die Bürgerlichkeit? Es ist – zuallererst – die Kultur des radikalen Denkens. Des Denkens, das an die Wurzeln geht: an die Wurzeln des Geschehens, an die Wurzeln der Probleme, an die Wurzeln der Konflikte. Doch leider haben wir neben unserem Stolz auf die Nation auch den radikalen Impetus abgetreten. Zum einen an Rechtspopulisten, die damit lärmend Schindluder treiben, indem sie Probleme und Konflikte hemmungslos übersteigern, um sie dann ebenso hemmungslos zu bewirtschaften. Zum andern an linke Ideologen, die sich der Einwanderung bedienen, um endlich, endlich zu ihrem Proletariat zu kommen, dem sie, wie schon immer vorgesehen, als revolutionäre Avantgarde den Weg zu weisen gedenken. 

Radikal heißt an die Wurzel gehen

Wir haben uns daran gewöhnt, von Rechts- und Linksradikalen zu sprechen. Doch diese Wortwahl verrät unsere sprachliche Bewusstseinstrübung: Wir überlassen den edlen bürgerlichen Begriff „radikal“, ohne es zu bemerken, Extremisten rechts und links, also Bewegungen, die Ansprüche vertreten, die mit der bürgerlichen Tugend, zur Wurzel des Geschehens, der Probleme und der Konflikte vorzudringen, nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.

Radikalität ist bürgerlich – ein Urbegriff dieser wohl revolutionärsten Freiheitsbewegung. In der französischsprachigen Schweiz nennen sich Freisinnige immer noch „les radicaux“; und in der italienischsprachigen Schweiz ist das Begriffspaar „liberali e radicali“ geläufig. 

Die Rückeroberung dieses programmatischen Begriffs „radikal“ bedeutet, dass wir Radikalität als intellektuelles Handwerkszeug auch anwenden, dass unser Denken und Reden diese Radikalität auch zum Ausdruck bringt. Dass wir das Geschehen, die Probleme und die Konflikte benennen; dass wir es laut und deutlich tun; dass wir mit Feuereifer denken, argumentieren, streiten – mitreißend politisieren! 

Damit der Bürger uns hört. Und versteht. Damit junge Bürgerinnen und Bürger aufschrecken aus ihrer digitalen Lethargie. 
Ich erlebe die bürgerlichen Parteien, von den Sozialdemokraten über die Christdemokraten bis zu den Liberalen, in ihrer Sprache technokratisch, taktisch – und duckmäuserisch. Für Letzteres gilt dann die Ausrede: Mit offenem Denken und Reden über heikle und deshalb heiße Probleme betreibe man das Geschäft der rechten oder linken Extremisten. Exemplarisch dafür ist das Verhalten der Demokraten in der Flüchtlingsfrage: Nur nicht laut darüber reden. Vor allem: Bloß nicht darüber streiten!

Streit als Partizipation

Populisten aber sind nicht das Resultat des demokratischen Streites – sie sind das Resultat dieses bürgerlichen Wegduckens.
Der Streit ist eine weitere Urvokabel bürgerlichen Bewusstseins! Der Streit als konstituierendes Element der Demokratie. Wer könnte ihn gezielter, kompetenter, erfolgreicher, brillanter, kultivierter führen als die Bürgerlichen aller politischen Farben? 
Streit ohne Feindschaft. Aber in solider Gegner­schaft. 

Der Streit benötigt einen Raum, wie wir das vom Fußball kennen oder vom Tennis, auch von unseren Kinderspielen, die doch immer mit der Festlegung von Räumen zu tun hatten. Überhaupt ist der Raum das ursprüngliche Bedürfnis des Menschen. Des Kindes zum Beispiel, wenn es sich unter dem Tisch seinen ersten ganz persönlichen Raum – sein Haus – einrichtet, das Tischtuch zur Hauswand erklärt und Geschwistern den Zutritt verwehrt. Später ist die erste eigene Wohnung der Raum, der den jungen Menschen mit dem frühen Stolz der Emanzipation erfüllt. Schließlich beschäftigt uns das Raumschaffen das ganze Leben als Sehnsucht und Utopie. 

Die Gemeinde, der Kanton, das Bundesland, die Nation, die Europäische Union sind die Räume, in denen wir über unser privates Wohlergehen hinaus tätig werden können – und unsere Freiheit leben. 

Diese Räume sind Räume, weil sie Grenzen haben. Ist das banal? Leider nicht in einer Zeit, in der uns die Anbeter grenzenloser Macht Grenzenlosigkeit schmackhaft machen möchten: Ortlosigkeit, in der sie ihre Anarchie der Mächtigsten installieren.
Grenzenlosigkeit ist das Gegenteil von Bürgerlichkeit. 

Das Bürgertum muss sein Schweigen brechen

Ich weiß, Begriffe wie Diskurs und Dialog fehlen kaum je in Beteuerungen, wenn es um bürgerliche Politik geht. Ich halte die beiden so nobel tönenden Vokabeln für Dimmer, wie wir sie für Lampen haben: Sie dimmen die gleißende Beleuchtung der Probleme auf ein Halbdunkel herunter. Es lässt sich darin angenehmer, entspannter, eingeweihter, einvernehmlicher parlieren. Vor allem ohne jede Radikalität.

Mit dieser salonattitüde entfernt sich die bürgerliche Elite seit einiger Zeit von den Bürgerinnen und Bürgern, die gerne mitdiskutieren möchten, die danach fiebern, ihre Sorgen, ihre Anliegen, nicht zuletzt ihren Zorn deutsch und deutlich zu Gehör zu bringen. Aber weil deutsch und deutlich sich nicht mehr reimen, fehlen die Bausteine für den öffentlichen Streit: die Wörter, die Worte, die Sätze. 
Das aber würde doch eigentlich zum Handwerk der Eliten gehören: den Bürgerinnen und Bürgern das Material zum demokratischen Streit anzubieten – nicht sedierende Sentenzen, wie sie Regierungssprecher, Oppositionssprecher, Tagesschausprecher, Zeitungsschreiber, Professoren und Pastoren absondern. 

Suggeriertes Wirtschaftswissen

Schweigen durch vielsagendes Nichtssagen ist auch eine äußerst perfide Herrschaftstechnik. Es suggeriert Herrschaftswissen. Der Schweigende muss über geheimes Wissen verfügen. Wie sollen Bürgerinnen und Bürger nichtgesagten Sätzen widersprechen? 
Vielsagendes Schweigen – wie man diese Taktik nennt – ist bürgerfeindlich. Und den Demokraten macht es ratlos. Freudlos auch. Das gehört ja mit zur Malaise: Es fehlt die Freude am Demokratiefest – denn müsste Demokratie nicht ein Fest sein?
Ein Fest des Denkens, der Sprache, des Streites. Erobern wir uns diesen Raum zurück. Demokratie und Rechtsstaat, das sind wir; unmissverständliche Sprache, das sind wir; radikales Denken, das sind wir. 
Lasst uns Radikale sein!

 

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