Annette Schavan liest... - Das politische Buch

In seinem neuen Buch „Abschied von der Öffentlichkeit“ zeigt Michael Hüther einen Verlust der Öffentlichkeit als Raum der Freiheit. Annette Schavan hat den Essay für uns gelesen.

Annette Schavan beobachtet einen Rückzug ins Private / Laurence Chaperon
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Autoreninfo

Annette Schavan (68) war 25 Jahre in Politik und Diplomatie tätig, u.a. als Bundesministerin für Bildung und Forschung (2005–2013) sowie als Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl (2014–2018). Ihr neuestes Buch trägt den Titel: „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“, Patmos Verlag, 2. Auflage 2021. Foto Laurence Chaperon

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Annette Schavan war 25 Jahre in Politik und Diplomatie tätig, unter anderem als Bundesministerin für Bildung und Forschung. Heute wirkt sie international und publizistisch in Stiftungen.

Hannah Arendt hat eindrucksvoll den öffentlichen Raum beschrieben – als eine Voraussetzung der Freiheit, als Ort des Handelns und Verhandelns, als Schule der Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Perspektiven und als Raum der Debatten über das, was alle angeht („Vita activa oder vom tätigen Leben“). Die Öffentlichkeit ist eine Errungenschaft für das Projekt der Moderne.

Michael Hüther legt mit seinem Buch einen überzeugenden Essay vor, in dem er aufzeigt, wie der Schwung dieses Projekts stark nachgelassen hat durch eine „Krise des Allgemeinen“ als Folge einer umfassenden Individualisierung. Wo „Individualität und Privatheit als zentrales Maß in den Vordergrund“ gestellt werden, wachsen Orientierungslosigkeit und Überlastung der Individuen mit der Tendenz des Rückzugs aus dem Raum der Öffentlichkeit in die Privatheit. 

Öffentlichkeit muss auch Kritik beinhalten

Wenngleich das Buch „kein Text zur Corona-Pandemie“ ist, so zeigt sich darin gleichwohl, dass diese Zeit die Verlustgeschichte beschleunigt hat, die der Autor analysiert. Dies auch deshalb, weil damit eine umfassende und tiefsitzende Erfahrung von Kontingenz verbunden ist, eine Erfahrung also, die nicht sein darf, weil sie „die Unangreifbarkeit der modernen Gesellschaft“ infrage stellt. 

Wir erinnern uns, auf wie viel Unverständnis die Wissenschaft in der Zeit der Pandemie gestoßen ist, wenn Schlussfolgerungen aus Daten und Erkenntnissen verschieden waren, wenn abgewogen und weitergehende Fragen formuliert wurden; als seien nicht Zweifel und Skepsis notwendiger Teil der Wissenschaft. Verlust der Öffentlichkeit impliziert hier wie immer häufiger in politischen Debatten den Unwillen, mit vielfältigen Auffassungen umzugehen. Das Potenzial von Hass und Diffamierung in den sozialen Medien ist exponentiell gewachsen. Das ist eine tägliche Erfahrung derer geworden, die im öffentlichen Leben stehen.

Öffentlichkeit wird immer weniger ausgehalten. In der „Geschichte der Selbstermächtigung des Menschen“ werden Widerspruch, Kompromiss und ein kritisches Wort immer öfter als Zumutung dargestellt und mit verbaler Gewalt beantwortet. 

Freiheit muss für alle gelten

Die Selbstbezüglichkeit digitaler Gemeinden ist unübersehbar. Die Kunst des Politischen, die ohne Prozesse der Abwägung und der Suche nach Kompromissen nicht auskommt, erlebt Diskreditierung und Theorien der Verschwörung. Der „Verlust des Allgemeinen“ ist auch Konsequenz von immer weniger gemeinsamen Quellen der Erkenntnis und dem Verlust von Unternehmenskulturen mangels gemeinsamen Arbeitens. 

Damit verbundene Ansprüche können höchst unterschiedlich eingelöst werden: Homeoffice ist jenen möglich, die auch sonst ihre Ansprüche gut durchsetzen können und die Debatten über Identität bestimmen.

Wer praktischen Tätigkeiten nachgeht, in Werkstatt oder Werkshalle muss oder in beengten Wohnverhältnissen lebt, kann von der neuen Arbeits- und Zeitsouveränität herzlich wenig profitieren. Das vertieft soziale Spaltung und mentale Entfremdung. 

Michael Hüther arbeitet sehr klar heraus, wie wenig Resilienz die moderne Gesellschaft entwickelt hat. Bislang ist noch nicht klar, wie „Gesellschaft und Wirtschaft jene Flexibilität, Agilität und Dynamik regenerieren können, die sie in der Moderne für die Selbstermächtigung des Menschen gewonnen hatten“. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass der „öffentliche Raum“ konstitutiv für die Freiheit auch in Zukunft sein wird und rät zu einer europäischen Orientierung.

Michael Hüther: Abschied von der Öffentlichkeit. Eine kurze Theorie vom Ende der Moderne. Herder, Freiburg 2023. 192 Seiten, 20 €

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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