Annalena Baerbocks Buch - Es mangelt an Antworten

Wichtiger als rechtliche Unbedenklichkeit sind die persönliche und die politische Dimension am Fall Annalena Baerbock. Als vertrauenswürdig und visionär sollte ihr Buch sie zeigen. Beides misslang. Inhaltlich bleibt die Kanzlerkandidatin völlig diffus.

Annalena Baerbock signiert ihr Buch. Foto: dpa | Christoph Soeder
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Der Plot folgt einem bekannten Muster: Nachdem die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock auch mit medialer Schützenhilfe in den grünen Olymp hochgeschrieben worden ist, kommt nun der unangenehm rasante Absturz. Nach Ungenauigkeiten in der Biografie und einer beim Bundestag nicht angegebenen Weihnachtsgeldsonderzahlung ihrer Partei delektiert sich insbesondere das konservative Lager seit Tagen am Plagiatsvorwurf.

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Sie hätte zahlreiche Stellen aus ihrem neuen Buch abgeschrieben. Das behauptet jedenfalls der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber. Weber, der ansonsten im Auftrag handelt, will in der Causa Baerbock aus eigenem Entschluss tätig geworden sein. Kein Geld, bloß die Lust am politischen Tontaubenschießen treibt ihn angeblich an.

Ganz so uneigennützig scheint er indes doch nicht unterwegs zu sein. Nachdem er in diesem Jahr schon die österreichische Arbeitsministerin zu Fall gebracht hatte, erläuterte Weber freimütig sein Geschäftsmodell: „Wenn so ein großer Fall kommt, dann haben wir Aufträge für ein Jahr.“ Der Fall Baerbock erscheint so bloß als weiteres Basisinvestment in größere Geschäfte.

Webers Eigeninteresse in Sachen Baerbock verdeutlicht sich auch an einer Reihe von Plagiaten, die wahrscheinlich gar keine sind. Aber unter den unstrittigen Plagiaten bleibt genug Rohmaterial übrig, um der Grünen-Vorsitzenden Schwierigkeiten zu bereiten. Diese Gefahr sahen offenkundig auch die Grünen selbst und beauftragten den Berliner Medienanwalt Christian Schertz. Der erklärte, er könne „nicht im Ansatz eine Urheberrechtsverletzung erkennen“. Die erhobenen Vorwürfe entbehrten damit „jeglicher Grundlage“.

„Dreckskampagne“ oder Plagiate?

Was vom Grünen-Sprecher Andreas Kappler wie ein geschickter Schachzug gegen den gezielten „Rufmord“ gefeiert wurde, war in Wahrheit eine politische Selbstanklage. Denn der angebliche Freispruch von der Urheberrechtsverletzung macht ja nur dann Sinn, wenn der Vorwurf des Plagiats klammheimlich zugleich als zutreffend anerkannt wird. Demnach hat Baerbock zwar abgeschrieben und sich mit fremden Federn geschmückt, aber in angeblich zulässiger Form und daher kein Urheberrecht verletzt. Dass Baerbock für ihren Text – wie zahlreiche Politiker vor ihr – außerdem den Ghostwriter Michael Ebmeyer engagiert und dieser ihre Positionen erst aus ihr „herausgekitzelt“ hat, ist in der Debatte schon kaum noch eine Fußnote wert.

Das grüne Milieu fühlt sich und ihre Kanzlerkandidatin ganz unfair behandelt und einer „Dreckskampagne“ (Jürgen Trittin) ausgesetzt, gegen die man sich wehren müsse. Dass Baerbock über diesen Vorfall ihre Ambitionen auf das Kanzleramt einstellen muss, ist indes nicht sonderlich wahrscheinlich. Dazu trägt auch aktivistische Schützenhilfe aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk bei.

Felix W. Zimmermann wird beim ZDF als Rechtsexperte und „Korrespondent für Terrorismusfragen“ geführt und arbeitete drei Jahre lang bei eben jener Rechtsanwaltskanzlei, die nun die Interessen Baerbocks vertritt. Am 29. Juni holte er auf Twitter zu einer Verteidigungsrede auf Annalena Baerbock aus, über deren professionellen Hintergrund man nur staunen kann. Die Plagiatsvorwürfe gegen Baerbock seien „abenteuerlich“. Dort, wo Baerbock von anderen abgeschrieben habe, habe es sich bloß um „Sachinformationen“ gehandelt. Und im Unterschied zu wissenschaftlichen Arbeiten dürfe man solche „Sachinformationen“ in einem „populären Sachbuch“ auch ohne Nachweis übernehmen. Folglich bestehe auch „kein urheberrechtliches Plagiats-Problem“. Dass Baerbock wenig später bestreiten wird, überhaupt ein Sachbuch geschrieben zu haben? Geschenkt!

Vertrauen und Integrität

Die parteiische Argumentation Zimmermanns leidet indes gleich an multiplen Kategorienfehlern. Und das liegt daran, dass Politik und Wissenschaft ihrem Kern nach mehr miteinander zu tun haben, als einige Diskutanten wahrhaben wollen. Wissenschaft als System der Wahrheitssuche ist ohne persönliche Integrität der Wissenschaftler nicht zu haben. Dabei ist es ziemlich gleichgültig, ob „Wissenschaftler“ Testergebnisse einfach erfinden, um ihre steilen Thesen rechtfertigen zu können, oder ob Ergebnisse anderer Wissenschaftler gestohlen werden, um sich mit ihnen zu profilieren: In beiden Fällen spiegeln die Akteure etwas vor, was nicht der Fall ist und doch als Einsatz im Kampf um Ehre und Karriereoptionen fungieren soll. Und Beides zum Schaden der Wahrheit.

Zwar geht es in der Politik eher um Macht als um Wahrheit, aber auch Macht erfordert in einem repräsentativen politischen System dieselbe Ressource wie in der Wissenschaft: persönliche Integrität. Und dazu gehört in der Politik, dass man nicht vorgibt, jemand zu sein, der man nicht ist. Der Sinn der politischen Repräsentation besteht ja gerade darin, dass der Wähler sein Schicksal in die Hände von Menschen legen soll, denen er vertraut, so dass sie schadlos an seine Stelle treten können. Und dieses Vertrauen erfordert wie die Wahrheitssuche in der Wissenschaft persönlichen Anstand, Ehrlichkeit und Authentizität.

Annalena Baerbock indes scheint die persönliche Dimension der Politik einigermaßen fremd zu sein. In ihrem aktuellen Buch bekennt sie sich stattdessen dazu, die Demokratie an „der Qualität und Unbestechlichkeit ihrer Institutionen“ messen zu wollen: „In diesem Sinne bin ich Institutionalistin.“ Unbestechlich können allerdings nur Menschen sein.

Was das grüne Milieu nun als niederträchtigen Angriff des konservativen Lagers auf ihre Frontfrau interpretiert, ist letztlich nur Ausdruck ausgleichender kosmischer Gerechtigkeit. Wie keine deutsche Partei haben es die Grünen in den letzten Jahren zur Meisterschaft im „politischen Moralismus“ (Hermann Lübbe) gebracht. Regelmäßig werden Mitmensch und Welt an überdrehten Maßstäben gemessen – auch, um sich dabei selbst zu erhöhen. Die teils scharfen Angriffe auf Baerbock und die Grünen dieser Tage, das schonungslose Offenlegen der Lücke zwischen moralisch tadellosem Anspruch und allzu menschlicher, eigener Wirklichkeit dürfen daher niemanden überraschen. Die grüne Kanzlerkandidatin wurde in den letzten Tagen bloß von jenen Geistern heimgesucht, die die Grünen seit Jahren wachrufen.

Kaum konkrete Vorschläge

Das besonders Missliche an der aktuellen Debatte ist, dass angesichts der gegenwärtigen moralischen und gegenmoralischen Sprechakte über den Inhalt des Buches kaum noch ein Wort verloren wird. Die ursprüngliche Strategie war dabei so offensichtlich, wie sie es nur sein konnte: Rund zwei Jahre hatten es sich Baerbock und Habeck in der letzten Reihe eines Theaters mit einer großen Tüte Popcorn gemütlich gemacht und dabei zugesehen, wie die anderen Schauspieler auf die Bühne drängten und anschließend vom Feuilleton zerrissen wurden. Der Aufstieg der Grünen erfolgte im Schlafwagen und vor allem durch die Fehler des politischen Gegners.

Aber wer nach der Kanzlerschaft greifen will, muss irgendwann die Zuschauerplätze verlassen, ebenfalls auf die Bühne stürmen und die Stimme erheben. Baerbocks Buch sollte so den Grundstein für eine große grüne Erzählung legen. Die Politik der letzten Jahre unter Merkel sei nämlich „mutlos“ gewesen und der Staat inzwischen „ausgezehrt“. Deutschland stehe an einer „Wegscheide“, heißt es dräuend in ihrem Buch. Und sie wolle Deutschland deshalb in eine „neue Epoche“ führen – und die sei grün.

Wer sich von Baerbock allerdings eine streitbare „Vision“ für eine der größten Industrienationen der Welt im Zeitalter des Klimawandels erhoffte, sieht sich schnell enttäuscht. Anstelle mutiger und argumentativ überzeugender Reformvorschläge finden sich teils unvermittelt ausschweifende Anekdoten aus ihrem Leben – offenbar um das Publikum mitmenschlich einzulullen. An jeder Stelle, an der es interessant und streitbar werden könnte, prallt der Leser an einer dicken Schicht Teflon ab. So wird auf über 200 Seiten das Thema Rente nur dreimal erwähnt, allerdings in ganz anderen Kontexten und völlig beiläufig. Für eine der größten Herausforderungen des deutschen Sozialstaates in diesem Jahrzehnt hat die Autorin weder analytisches Problembewusstsein noch eigene Vorschläge in petto.

Unerkannte Selbstwidersprüche

Sie wolle doch aber mit ihrem Buch auch gar keine konkreten Antworten auf drängende Fragen liefern, bekennt sie vorsorglich, sondern bloß „Pfade“ ausleuchten. Das Ungefähre wird so auch noch rechtfertigend in eine eigene Terminologie gekleidet. Baerbocks Text ähnelt damit dem Regierungsstil Merkels mehr, als die Autorin es wahrhaben will. Und so möchte man ihr entgegenrufen: „An Antworten (…) mangelt es – nicht an Gesinnung.“ (Hermann Lübbe)

Dabei enthält der Text durchaus Zündstoff – ja, wenn die Autorin ihre Argumente denn bis zum Ende durchdächte und sich bewusst wäre, was sie da eigentlich sagt. Ausgerechnet im Schlusskapitel liefert sie eine schonungslose Kritik der real existierenden parlamentarischen Demokratie, wie sie – aus dem politischen System heraus – Seltenheitswert besitzt.

Baerbocks Argumentation geht dabei ungefähr so: In einer parlamentarischen Demokratie ist das Parlament eigentlich der wichtigste Ort der Willensbildung. Nur dessen Mitglieder werden vom Volk gewählt und auf diese Weise mit substanzieller demokratischer Legitimität ausgestattet. Angesichts dieser Tatsache erscheint ihr die demokratische Realität der Bundesrepublik ernüchternd. Nicht das Parlament, sondern die Regierung sei das wahre Machtzentrum der Republik. Die Regierung degradiere über die Mehrheit der Koalition das Parlament zum „verlängerten Arm der Exekutive“. Auf diese Weise werde der Bundestag seiner eigentlichen Funktion beraubt, nämlich als Ort der sachlichen, unparteiischen Willensbildung für das gesamte Volk zu fungieren.

„Ich will“, so bekennt Baerbock, „dass das Parlament wieder zu dem Ort wird, an dem Debatten stellvertretend für die ganze Gesellschaft geführt werden – in aller Öffentlichkeit und so transparent und verständlich, dass auch Laien die Aushandlungsprozesse nachvollziehen können. Zu einem Ort, an dem es als Stärke der Regierungsfraktionen angesehen wird, Ausschussdiskussionen zu berücksichtigen und Vorschläge der Opposition aufzugreifen.“

Neben diesem Bekenntnis, das man aus gutem Grund für folgerichtig und sehr sympathisch halten kann, steuert die selbsterklärte Institutionalistin aber nur einen einzigen Reformvorschlag zur Erneuerung der Demokratie bei. Sie wolle als künftige Kanzlerin einen „Bürgerrat“ ins Leben rufen. Dessen Aufgabe solle es sein, die politische Debatte wieder zu „qualifizieren“. Dabei fällt ihr nicht einmal auf, dass sie damit ihr Ziel, das Parlament wieder in seine eigentliche Funktion zu versetzen, verfehlt, sondern es stattdessen an eine extrakorporale Herz-Lungen-Maschine anschließen will.

Eine institutionelle Kapitulationserklärung: Eindrücklicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass man es eher hundert Laien zutraut, dem Wohle des Volkes zu dienen, als hunderten hauptamtlichen politischen Repräsentanten, deren Aufgabe genau dies wäre.

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