Inaugurationsgedicht von Amanda Gorman - Pathos und Poesie

Seit gestern liegt Amanda Gormans viel diskutiertes Gedicht „The Hill We Climb“ auf Deutsch vor. Die Verse, mit denen die Tochter einer alleinerziehenden Lehrerin im Januar ein Millionenpublikum begeisterte, wollen auf Papier nicht recht klingen. Sie offenbaren einen tiefen Graben zwischen Wort und Wirklichkeit.

Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Man lasse sich nicht täuschen: Eine Pathosformel ist keine Weltformel. Wenn dem so wäre, die Vereinigten Staaten von Amerika müssten längst jener gottgefälligen „City upon a Hill“ gleichen, von der es in der Bergpredigt heißt, ihr strahlendes Licht könne der Welt nicht verborgen bleiben. Doch Worte, auch wenn sie noch so weihevoll klingen, schaffen noch keine Realität.

Auf die Stadt auf dem Hügel jedenfalls müssen alle nach Gerechtigkeit Dürstenden auch weiterhin warten, und das nicht nur drüben in der Neuen Welt. Erstmals erträumt von den englischen Puritanern, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts daran machten, eben jene biblische Idealstadt jenseits des Atlantiks in den fast unberührten Weiten Neuenglands zu errichten, ist sie seither zu einem amerikanischen Arkadien geworden. 

Das amerikanische Arkadien

Und wer hat sich dieses Städtchen nicht schon alles als Luftschloss zusammengereimt: Walt Whitman und Ralph Waldo Emerson, Martin Luther King und Barack Obama, ja sogar Ronald Reagan zählte zu ihren geistigen Bauherren: „Diese strahlende Stadt ist von Gott gesegnet und von Menschen aller Art bewohnt, die in Harmonie und Frieden leben“, so der schauspielende Präsident in seiner Abschiedsrede im Januar 1989. 

Stein oder Realität geworden indes ist die „City upon a Hill“ nie. Heute, in der Ära nach Donald Trump liegt sie so weit von den Menschen entfernt wie sonst allenfalls der Garten Eden. Eine Gesellschaft, die es zugelassen hat, dass 22 Prozent ihrer afroamerikanischen Mitbürger von Armut betroffen sind und dass 2,5 Millionen Kinder ohne Schutz und Obdach auf der Straße hausen müssen, kann trotz ihres großen rhetorischen Besteckkastens nicht jene „Civitate dei“ sein, die sämtliche Päpste verheißen haben.

Poeten statt Päpste

Aber Gottes eigenes Land hat ja ohnehin keine Päpste, stattdessen hat es eine Heerschar an großen Poeten. Sie sind es, die das Land zwischen den Ozeanen seit den Pilgervätern immer wieder in blühende Landschaften verwandelt haben – zumindest in ihren Versen, ihren Gedichten und Liedern: „America! America! God shed His grace on thee“, wie es in der heimlichen Landeshymne aus der Feder Katharine Lee Bates' heißt.

Zu diesen großen Poeten eines geistigen wie geistlichen Amerikas zählt seit dem 20. Januar 2021, dem Tag, an dem Joe Biden am Capitol Hill seinen Amtseid ablegte, auch die 22-jährige afroamerikanische Schriftstellerin Amanda Gorman. Ihr Inaugurationsgedicht „The Hill We Climb“, das die Tochter einer alleinerziehenden Lehrerin aus Los Angeles damals in auffallend quietschgelber Garderobe vor Millionen Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt vortrug, wird seither in der Nachfolge von Walt Whitmans „Grashalmen“ oder von Robert Frosts „Mountain Interval“ gehandelt. An einem Tag für die Geschichtsbücher, twitterte damals der einstige US-Präsident Barrack Obama, habe Amanda Gorman ein Gedicht präsentiert, das mehr als nur den Moment getroffen habe. 

Eine Sisyphosiade

Viele Momente später liegen Gormans Verse nun auf Deutsch vor: „Den Hügel hinauf“, ein Titel, der kaum noch etwas von jener amerikanischen Verheißung in der „City upon a Hill“ versprüht, die im Original noch anklingen mochte. Vielmehr hört man aus den deutschen Worten schweißtreibende Arbeit, ja eine regelrechte Sisyphosiade heraus. Den Stein ins Rollen gebracht hat dabei vermutlich die niederländische Dichterin Marieke Lucas Rijnveld. Nach öffentlicher Kritik war die Anfang März von der ehrenvollen Aufgabe zurückgetreten, Gormans Verse ins Niederländische zu übertragen. Einer weißen Übersetzerin, so hieß es damals, fehle schlicht die Befähigung, das Gedicht einer jungen US-amerikanischen Farbigen in eine andere Sprache zu übersetzen.

Einen solchen Fehler wollte Tim Jung, Verleger des Hamburger Medienhauses Hoffmann & Campe wohl bewusst vermeiden. Anders ist es nicht zu erklären, dass Jung für die deutsche Übersetzung jegliche Diversitätskompetenz auffahren ließ, die ein weißer und zudem männlicher Verleger derzeit haben kann. Für die zweisprachige Ausgabe beauftragte er ein Team aus drei Leuten: der erfahrenen Lyrikübersetzerin Uda Strätling, der muslimischen und feministischen Autorin Kübra Gümüsay und der Politologin mit Schwerpunkt Schwarze Diaspora und Sprache Hadija Haruna-Oelker.

Ein dünnes Bändchen

Gelohnt hat sich die Mühe indes kaum. Denn „Den Hügel hinauf“ ist ein äußerst dünnes und karges Bändchen geworden. 64 Seiten mit einem einzigen Gedicht, mit großzügigem Weißraum, zehn Seiten Fußnoten und einem schwärmerischen Vorwort der TV-Moderatorin Oprah Winfrey, der zufolge Gormans Lyrik „Kadenzen einer Klugheit“ enthalte, die im Blut pochten.

„Unversehens gehört uns der Morgen. / Irgendwie geht’s. / Irgendwie, gelitten und gelebt“, heißt es da etwa gleich zu Beginn leicht unbestimmt. Aber irgendwie geht’s eben. „Sicher, es läuft längst nicht so prächtig, / längst nicht perfekt“. Zeilen, die im Jubeltaumel von Bidens Inauguration fast untergegangen sind, erhalten auf Papier gedruckt eine fast depressive Wurschtigkeit; eine Lethargie, die kaum in Schwingung zu versetzen ist. Sie passt so gar nicht zu jenem Fahnenmeer, in dem die junge farbige Lyrikerin am Fuße des Capitol Hills baden durfte. 

Prophetische Emphasen

Doch nach jedem folgenden Zeilenbruch dreht Gorman ein Stück weiter auf. Am Ende ist sie bei jener prophetischen Emphase angelangt, die die politische Lyrik Amerikas nicht nur für europäische Ohren zuweilen fremd und sonderbar erscheinen lässt: „So führt der Weg ins versprochene Licht, / den Hügel hinauf, wenn wir uns trauen. / denn amerikanisch sein ist mehr als / der uns überkommene Stolz – / es ist die Vergangenheit, die wir beerben und die wir gutmachen werden.“

Doch wie gesagt: Eine Pathosformel ist keine Weltformel. Das neue und strahlende Amerika wurde von Whitman bis Woody Guthrie prophezeit. Am Ende werden es aber nicht die Worte sein, die den Hügel hinaufführen. Der Weg nach Oben sollte schon Hand und vor allem Fuß haben – für Amerika wie auch für seine jungen Lyriker.
 

 

 

Amanda Gorman: „The Hill We Climb – Den Hügel hinauf": Zweisprachige Ausgabe. Hoffmann und Campe. 64 Seiten. 10,- Euro.

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