Besinnung auf das Abendland - Mehr Eurozentrismus wagen

Wer die Menschenrechte verteidigen will, darf nicht Europa schmähen. Denn dort sind sie nicht zufällig entstanden. Plädoyer für eine selbstkritische Besinnung auf das Abendland

Erschienen in Ausgabe
Der Mathematiker und Philosoph Christian Freiherr von Wolff: Alter weißer Mann – und Vorbereiter der Aufklärung / picture alliance
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Ronald G. Asch hatte den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Freiburg inne

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Vor zwei Jahren, im Januar 2017, zog eine Kontroverse an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Eine Gruppe von Studenten hatte verlangt, den Lehrplan in Philosophie radikal zu „dekolonisieren“. Statt sich überwiegend mit weißen Philosophen zu beschäftigen, sollte das Curriculum in Zukunft dominiert werden von Denkern, die den „globalen Süden“, also vor allem Asien und Afrika repräsentierten. Nun hat die SOAS eine sehr spezifische Klientel, und wer in erster Linie Philosophie studieren will, wird sich vermutlich nicht diesen Ort zum Studium aussuchen. Was an dem Anliegen dennoch irritierte, war der Vorwurf, jeder Lehrplan – wohlgemerkt an einer europäischen Universität –, der europäischen Traditionen eine größere Bedeutung beimesse als der Überlieferung anderer Kulturen, sei per definitionem rassistisch und spiegle den Wertehorizont des europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts wider.

Keineswegs nur Studenten erheben solche Vorwürfe. 2017 publizierte der amerikanische Gelehrte Bryan W. Van Norden ein „Multicultural Manifesto“ namens „Taking Back Philosophy“, in dem er dafür plädierte, den Kanon großer philosophischer Werke in der universitären Lehre radikal zu erweitern, da er viel zu eurozentrisch sei. Van Norden geht es in erster Linie um die asiatische, vor allem die chinesische Philosophie, sein Spezialgebiet. Das Argument, dass diese Tradition in Amerika und Europa zu Unrecht vernachlässigt werde, mag plausibel sein, aber auch er kommt nicht ohne den Vorwurf aus, dies sei auf eine Verengung des Kanons bedeutender Werke im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus zurückzuführen. Es handle sich also um eine Form des Rassismus. Im Gegensatz könnte man freilich auch annehmen, dass die moderne Welt durch den Rationalismus und die Skepsis gegenüber allen Autoritäten geprägt sei, die für das westliche Denken seit dem 17. Jahrhundert charakteristisch wurden – weniger durch die älteren europäischen oder nichteuropäischen Weisheitslehren, mit ihrem zum Teil ganz anderen Wahrheitsbegriff.

Eurozentrismus ist nicht verwerflich

Hinter den Angriffen auf einen vermeintlichen oder wirklichen Eurozentrismus steht fast immer das moralische Postulat, auf keinen Fall dürfe man von der Überlegenheit der eigenen Kultur über andere ausgehen. Dieser Überlegenheitsanspruch habe in der Vergangenheit die Unterwerfung und Ausbeutung der Welt durch die Europäer respektive den Westen legitimiert. Dass die Europäer sich in der Zeit ihrer globalen Vorherrschaft, vor allem im langen 19. Jahrhundert, in der Tat oft heuchlerisch auf ihre kulturelle Überlegenheit beriefen und für sich eine „mission civilisatrice“ in Anspruch nahmen, wenn es galt, andere Weltteile zu unterwerfen und zum Teil rücksichtslos auszubeuten: unbestritten.

Aber diskreditiert das die europäische oder westliche kulturelle Tradition per se? Wenn man sich manche Debatte über die Verwerflichkeit des „Eurozentrismus“ in der Wissenschaft und der akademischen Welt anhört, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Die Gegner einer kulturellen Dominanz Europas argumentieren dabei entweder damit, dass universelle Werte wie die Menschenrechte sich gleichermaßen mit jeder beliebigen Kultur kombinieren lassen, oder sie gehen noch einen Schritt weiter und lehnen jede Orientierung an solchen Werten per se ab. Im zweiten Fall kann das dann dazu führen, dass man eine radikale Beschränkung der Meinungsfreiheit oder eine grundsätzliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen für vollständig akzeptabel erklärt, solange solche Regelungen in asiatischen oder afrikanischen Ländern gelten und eben nicht für Europäer. Dass eine solche Haltung gerade dann, wenn sie von Intellektuellen vertreten wird, die sich selber als links betrachten, auf ihre Weise genauso herablassend ist wie die Einstellung der Kolonialherren des 19. Jahrhunderts zu ihren Untertanen, muss kaum näher erläutert werden.

Universelle Werte sind nicht kulturell neutral

Weniger leicht ist eine Position zu widerlegen, die darauf beharrt, dass es universelle Werte wie Menschenrechte gebe, dass diese aber von jeder konkreten kulturellen Tradition unabhängig seien. Aber ist das wirklich der Fall? Setzt nicht zum Beispiel die zentrale Bedeutung, die der individuellen Freiheit in unserem Rechtsdenken zugemessen wird, eine Kultur voraus, die Individualismus grundsätzlich als etwas Positives sieht, was früher auch in Europa keineswegs unbedingt der Fall war? Und ist der moderne demokratische Verfassungsstaat nicht doch am Ende ein Produkt vor allem der westlich-europäischen Geschichte, was keineswegs ausschließt, dass es heute nichtwestliche Länder geben kann, in denen Rechtsstaat und Demokratie besser funktionieren als in manchen Teilen Europas?

Der renommierte, in den USA lehrende Ideenhistoriker Anthony Pagden hat einmal zutreffend bemerkt, dass derjenige, der an universelle Normen glaube, kaum vermeiden könne, sich zumindest zu einigen der Werte zu bekennen, die mit einem sehr spezifischen „way of life“, einer konkreten Kultur untrennbar verbunden seien. Diese Aussage ist auch deshalb einleuchtend, weil universelle Werte eben nicht kulturell neutral sind, wenn man unter Kultur mehr als nur Folklore verstehen will. Wer für Rechtsgleichheit aller Menschen und die Gleichstellung von Frauen eintritt, greift damit eben Kulturen in ihrem Kern an, deren Fundamente eng mit einer hierarchisch-patriarchalischen Sozialordnung verbunden sind. Insofern ist die Zurückweisung westlicher Menschenrechte durch die Vertreter etwa eines konservativen Islam konsequent. Sie haben verstanden, dass ihre kulturelle Tradition die Übernahme von Normen und Diskursregeln nicht unbeschadet überleben wird, die ihren Ursprung in der europäischen Aufklärung haben. Eine Erfahrung, die dem vormodernen Katholizismus und anderen Traditionen in Europa auch nicht erspart blieb.

Die Nähe von rechter und linker Identitätspolitik

Solange wir an Rechtsstaat und Demokratie und an dem Ideal einer autonomen Wissenschaft als normativen Vorstellungen festhalten, ist ein gewisser Eurozentrismus nicht vermeidbar, so düster viele Kapitel der Geschichte Europas auch tatsächlich waren – und das gilt keineswegs nur für den Kolonialismus. Die „regressive Linke“ in der akademischen Welt, für die nicht mehr die Stärke des Arguments zählt, sondern viel eher, ob die Person, die es vorbringt oder in der Vergangenheit vorgebracht hat, Mitglied einer Opfer- oder einer vermeintlichen Tätergruppe (alle weißen Männer, alle Europäer, alle Westler) ist, hat die Idee rationaler Wahrheitsfindung in der Wissenschaft oft weitgehend aufgegeben. Sie hat sich auf ein Weltbild eingelassen, das seine Ursprünge in der Revolte der Romantik gegen die Aufklärung und der Vorstellung von der Inkommensurabilität der Werte unterschiedlicher Kulturen hat.

Die Kritik der Romantik am Rationalismus und Universalismus der Aufklärung mag in manchen Punkten berechtigt gewesen sein. Aber auf diese Art von Gegenaufklärung können sich eben doch sehr viel eher rechte, antimoderne als „progressive“ Bewegungen berufen. Der Ethnopluralismus, den ein französischer Denker wie Renaud Camus – der Stichwortgeber der „Identitären“ – propagiert, hat seine Wurzeln auch in dieser romantischen Vorstellungswelt.

Ethnische Quoten als Ideal

Auf seltsame Weise nähern sich damit die linken Vertreter eines postkolonialen Multikulturalismus und einer radikalen Identitätspolitik ihren rechten Gegnern an. Das ist keine erfreuliche Entwicklung. Man sollte die praktischen Auswirkungen solcher Tendenzen nicht unterschätzen. Wenn an einer angesehenen britischen Universität wie Oxford der Lehrplan in Philosophie partiell feminisiert wird, weil er bislang zu sehr durch die Werke von Männern dominiert war (so geschehen 2018), dann ist das eine Quotenpolitik, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nachhaltig untergräbt, auch wenn zunächst noch die Kategorie Gender im Vordergrund steht.

Man wird auf die in dieser Logik der Identitätspolitik freilich unvermeidlichen ethnischen Quoten vielleicht noch drei oder vier Jahre warten müssen. Doch selbst wenn man auf die sehr viel harmlosere, aber heute weitverbreitete Tendenz blickt, eine Globalgeschichte, die Europa als eher periphere Provinz der Weltgesellschaft erscheinen lässt, zur eigentlichen Königsdisziplin jeder Form von Geschichtswissenschaft zu erklären, spürt man einen verwandten Geist der politischen Korrektheit. Auch hier geht es zum Teil darum, die Diskurse der „Täter“ durch die der „Opfer“ zu ersetzen, von denen keineswegs immer klar ist, ob sie wirklich Opfer waren. Imperiale Großreiche und ihre oft brutalen Herrschaftsmethoden sind indes keine europäische Erfindung.

Für einen selbstkritischen Eurozentrismus

Sicherlich ist es sehr zu begrüßen, dass sich unser Horizont in einer globalisierten Welt erweitert und die Geschichte Chinas oder des Osmanischen Reiches ihren Platz neben der Geschichte des antiken Roms oder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches findet. Aber am Ende ist die europäische Geschichte nicht nur unsere eigene Geschichte als Europäer. Ihr kommt im Positiven wie im Negativen – man denke an die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die die Welt heute an die Grenzen ihrer Überlebensfähigkeit zu führen droht – eben doch eine besonders prägende Kraft zu für die Welt, in der wir leben.

Außerdem: Wenn wir unsere eigene Geschichte und Kultur nicht mehr verstehen oder sie sogar ganz ignorieren, wie sollen wir dann fremde Kulturen verstehen? Und wie sollen wir denjenigen in Europa eine neue Heimat bieten können, die als Migranten gerade deshalb nach Europa gekommen sind, weil es ihnen einstweilen noch eine individuelle Freiheit und einen Wohlstand zu bieten vermag, die sie in ihren Herkunftsländern nicht finden? Ein selbstkritischer Eurozentrismus ist unter solchen Bedingungen nicht nur zulässig, sondern ein Gebot der Stunde.

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.









 

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