Postfaktische Politik - Die Welt als willige Vorstellung

Von der Bewertung der Corona-Maßnahmen bis zur Gender-Debatte: Die Wirklichkeit zählt nicht mehr, als wahr gilt, was von Politik und Medien empirie- und faktenfrei als solches verkündet wird. Vorangetrieben wird diese Demontage der Realität allerdings nicht von Trump-Anhängern oder Rechtspopulisten, sondern von der Linken, die sich einst so viel auf ihren Materialismus zugute hielt.

Künstliche Wimpern für die künstliche Realität / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Linke lügen nicht. Es gehört zur DNA linkspolitischen Bewusstseins, fest im Boden des Faktischen verwurzelt zu sein. Das Sein bestimmt hier schließlich das Bewusstsein, wie es beim Vordenker des historischen Materialismus an prominenter Stelle einmal heißt: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt“, so Karl Marx im Vorwort zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie“. Ein Gassenhauer des progressiven Denkens.

Das heißt natürlich nicht, dass Linke nicht dann und wann auch einmal flunkern, im Kern aber sollten sie auf festem Boden stehen. Für alle Genossen klassischer Bauart zählt eben die normative Kraft des Faktischen – auch wenn diese im Zweifel beinhart und von sozialer Gnadenlosigkeit gekennzeichnet sein mag.

Eine Post-Truth-Welt a la Donald Trump indes? Ein Geschwurbel? Ein permanentes „Bullshitting“ (Harry Frankfurter) gar? No way! Wo die Realität noch auf den Überbau einwirkt und der Mensch eher zwischen Webstuhl und Gewerkschaftsheim denn zwischen Wischiwaschi und Wolkenkuckucksheim in das Gefüge der Welt eingehängt ist, steht das Wort „Postfaktizität“ nicht einmal im politischen Wörterbuch. Linkssein, das heißt schließlich in der Welt sein; das heißt, der Versuchung zu entgehen, überhaupt auch nur einen Millimeter Distanz zwischen Welt und Wahrheit zu vermuten. Hier gilt einzig das, was offensichtlich ist. What you see is what you get: Auch wenn es nicht mehr als ein Jammertal vor den Toren Edens sein mag! 

Der Fake steht rechts

Mehr als ein Jahrhundert lang konnte man sich darauf verlassen. Mochte der Rest der Welt längst schon von oben bis unten mit Täuschungen durchzogen sein, mochten Medien, Wirtschaft und Kultur den Fake mindestens zum Faktum zweiten Grades erkoren und für das Wort Unehrlichkeit laut Ralph Keyes mehr Euphemismen erfunden haben als für Kopulation und Defäkation; stets galt das nur für den Plebs auf der falschen Seite des Arguments: für die Trumpisten und die Brexiteers, für die Fidesz-Wähler, die Neos, die Falken, die Rechtspopulisten. 

Linke aber, sie blieben die Schwippschwager einer unermüdlich behaupteten Wahrheit; eingeheiratet in ein familiäres System aus Progressiven, Realisten und anderen Wirklichkeitsfetischisten. Seit geraumer Zeit aber, so muss man wohl durchaus irritiert – nein: ernsthaft besorgt! – konstatieren, scheint sich an dieser historischen Gewissheit einiges verändert zu haben. Irgendjemand hat, um ein bekanntes Engels-Zitat einmal abzuwandeln, seinen Marx von den Füßen auf den Kopf gestellt. 

Denn täuscht man sich etwa, oder sind es seit geraumer Zeit nicht tatsächlich eher die Denker links der Mitte, die, ähnlich wie einst auch der ausgemachte Lügenbaron Donald Trump, Wahrheit per Proklamation festlegen? Ganz nach dem Motto: Wenn ich sage, etwas ist eine Tatsache, dann ist das auch so!

Tischlein deck dich, Esel streck dich!

Dieses politische Tischlein-deck-dich-Prinzip findet man dieser Tage einfach viel zu oft, um nicht allmählich Methode dahinter zu wittern. Beispiel Corona: Da mögen noch so viele Evaluationen, internationale Metaanalysen, Experten, ja Studien von wirklich großem Format die hiesige Maßnahmenpolitik Lügen strafen – wenn SPD-Minister Lauterbach via Tweet verkündet, dass eine niederländische Zwei-Personen-Studie zu einer ganz anderen Wahrheit geführt hat, dann folgt halb Deutschland garantiert dem ministerialen Post-Truth-Postulat, als wäre man ohnehin längst von allen guten Weltgeistern nebst der von ihnen durchspukten Wirklichkeiten verlassen. 

Und wenn auch der scheinbar letzte Statistikexperte irgendwann erklärt haben wird, dass die vom RKI noch immer an jedem neuen Morgen feinsäuberlich zusammengekehrten Neuinfektionszahlen in keinem unmittelbaren Verhältnis zum tatsächlichen Infektionsgeschehen stehen, so wird sich sicherlich dennoch irgendeine meist links-orientierte Tageszeitung finden, die vor der großen Sommerwelle zu warnen weiß.

Welcome to the Post-Factual Age! Einem Zeitalter übrigens, in dem die Lügner immer die anderen sind. Dabei hat der Fake wahrlich kein Parteibuch mehr. Spätestens seit die Kinder der sogenannten Neuen Linken in den frühen 1990er-Jahren ihren ollen Marx von der Säule geholt und durch die heilige Judith Butler ersetzt haben, hat man sich auch hier ins Zeitalter der „Post-Wahrheit“ hineingeschummelt. Es lebe die Welt als willige Vorstellung!

Homo Deus

Nicht mehr, was ist, nimmt man für bare Münze, der Diskurs allein ist das einzig noch realitätsproduzierende Element. Eine Kopfgeburt von besonderer Güte. Wurde nicht in der Genesis einst schon bewiesen, dass selbst der größte Wahn mit einem Wort beginnt? Nicht also Sein gebiert Bewusstsein, der performative Sprechakt allein bestimmt, was überhaupt zu sein hat. Also spricht der Homo Deus … Und das längst nicht mehr nur bei seinen Lieblingsthemen: Sex, Gender, Identität. 

Hier aber wütet er am verstocktesten: Denn mögen auch noch so viele Biologen, Mediziner und Psychiater bestätigen, dass es nach biologischem Verständnis kein drittes Geschlecht geben kann, die identitäre Linke lässt das kalt. Ganz wie Bolsonaro oder Trump erschaffen sich trotzige Transaktivisten ihre alternativen Fakten aus Worten. Es werde neutrois. Und es wurde neutrois. 

Eine Weile mag das auch durchaus gut gehen. Irgendwann aber folgt zwangsläufig ein abermaliger Zusammenstoß mit der Realität. Aus der Post-Truth-World taumelt man dann ins Reich der Fakten zurück. Ein schmerzlicher Wiedereintritt ins nackte Dasein. Das nämlich gibt es wirklich. Ganz ungelogen. 

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