68er - Unsere Maoisten

Sie wurden Minister, Millionär, Landesvater. Und schwärmten einst für einen Massenmörder. Eine Deutschlandreise zu Maos alten Freunden

Erschienen in Ausgabe
Manchen gilt Mao als größter Massenmörder der Weltgeschichte, trotzdem wird er als Kapitalismusgegner gefeiert / picture alliance
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Holger Fuß, Jahrgang 1964, lebt als Autor in Hamburg. Er schreibt Reportagen und Interviews über Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen

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Wer im China Club Berlin hinter dem Hotel Adlon Zutritt begehrt, darf nicht geizig sein. Für die Aufnahme zahlt das Privatmitglied 10 000 Euro, die laufende Jahresgebühr beträgt 2000 Euro. Verzehr kostet extra. Ein exklusiver Treffpunkt für Wirtschaftslenker, Politiker und Kulturschaffende. Im holzgetäfelten Speisesaal schweift der Blick durch die rechte Fensterfront aufs Brandenburger Tor, linker Hand zum Holocaust-Mahnmal. Von der Stirnwand herab prangt das golden gerahmte Bildnis des Großen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas. Mao Tse-tung waltet als Patron von Etappensiegern im turbokapitalistischen Wettlauf um Ruhm, Macht und Geld.

Was wäre wohl, wenn hier, einen Steinwurf entfernt von der Gedenkstätte für einen millionenfachen Massenmord, stattdessen das Konterfei Adolf Hitlers an der Wand hinge? In Räumen eines Privatklubs fiele der Aushang zwar nicht unter den Strafrechtsparagrafen 86a, der die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen mit bis zu drei Jahren Haft ahndet. Unter dem Antlitz des nationalsozialistischen Gewaltherrschers zu speisen, dürfte aber zu Recht zum Skandal führen. Die Popart-Gegenwart des kommunistischen Diktators im Nobelrestaurant hat bislang keinen Unmut bekannt werden lassen.

Größter Massenmörder der Weltgeschichte

Dabei sind unter Maos Regime mindestens so viele Chinesen zu Tode gekommen, wie das von Hitler entfesselte Grauen des Zweiten Weltkriegs an Menschenleben kostete. Der niederländische Historiker Frank Dikötter schätzt, dass der rote Kaiser 45 Millionen Tote zu verantworten hat, andere Forscher sprechen von mehr als 70 Millionen. Nach einem ein Vierteljahrhundert lang tobenden Bürgerkrieg wurde 1949 die Volksrepublik China ausgerufen – der gelernte Grundschullehrer Mao hatte als kommunistischer Virtuose des Guerillakampfs über Feudalherren und japanische Fremdherrschaft obsiegt. Nun sollte das chinesische Bauernvolk zu linientreuen Gefolgsleuten umgeschmiedet werden. In Säuberungskampagnen und Industrialisierungswellen verhungerten die Menschen millionenfach, wurden gefoltert, eingekerkert, in den Tod getrieben. Während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1969 zogen die Roten Garden mit einem beispiellosen Terror durch das Riesenreich der Mitte.

Manchen gilt Mao als größter Massenmörder der Weltgeschichte. Dass ein solch blutiger Tyrann Einlass in die bundesdeutsche Popkultur fand, ist ein diskretes Beispiel von Doppelmoral und symptomatisch für eine Mentalität, die nach 1968 zum gesellschaftlichen Konsens geronnen ist. Der Zivilisationsbruch von Auschwitz hat sich als antifaschistisches Credo der Bundesrepublik etabliert. Aber der Große Vorsitzende Mao machte Karriere auf Postern, T-Shirts und Ansteckbuttons der aufmüpfigen Studenten in westdeutschen Großstädten.

Dem Geiste eines Totalitarismus entsprungen

Vor 50 Jahren ist Peter Gauweiler als Jurastudent in die CSU eingetreten, weil ihn „das ewige Vermischen von Ethik und Heuchelei“ der linken Apo-Marschierer abstieß: „Sie haben für die Befreiung der Menschheit gesungen und sind gleichzeitig unter den Bildern von Massenmördern durch die Straßen gezogen.“ Die akademische Elite der jungen Westrepublik, der seit 1968 als Impulskohorte für antiautoritäre Gesinnung, sexuelle Revolution und gesellschaftliche Liberalisierung gehuldigt wird, entsprang dem Geiste eines Totalitarismus, den sie ihrerseits den in die Nazischuld verstrickten Ahnen vorwarf.

Mao-Gemälde in einer Andy-Warhol-Ausstellung: „Maoistische Studenten haben für die Befreiung der Menschheit gesungen und sind gleichzeitig unter den Bildern von Massenmördern durch die Straßen gezogen.“

Die Flower-Power-Revolte, die ihren Teilnehmern zu Beginn eine bislang ungeahnte Erfahrung der Befreiung und des heiteren Unangepasstseins bescherte, wich alsbald einer Atmosphäre stereotyper deutscher Tugenden von Ordnungssinn und Konformismus: Auf die wilden Sechziger folgten die roten Siebziger mit dem organisierten Linksextremismus sogenannter K-Gruppen. Die Apo-Bewegung von 1968 mobilisierte bundesweit um die 20 000 Aktivisten, im folgenden Jahrzehnt waren rund 100 000 Gymnasiasten und Jungakademiker in zahllosen rottümelnden Sekten versammelt. Die meisten von ihnen feierten Mao Tse-tung als schillernde kommunistische Alternative zur ergrauten Sowjetunion.

Projektionsfläche für idealistische Utopien

Rainer Zitelmann war einer von ihnen. Er speist oft im China Club. Der 61-Jährige hat als Schüler Mao verehrt, über Hitler eine 700 Seiten starke historische Doktorarbeit mit Bestnote abgeliefert und privatisiert als millionenschwerer Immobilienspekulant. Seine mittelgroße Statur stählt er im Fitnessstudio, unter seinem kurz geschnittenen Haar hat er ein kindliches Gemüt bewahrt. Der Vegetarier isst gern Püriertes. Dass er kostenintensive Mahlzeiten unter dem Porträt von Mao einnimmt, empfindet er so ironisch wie seine eigene Biografie. Ein lupenreiner Linker dürfte Zitelmann nie gewesen sein. Ihm war sein Ego stets kostbarer als seine Mitmenschen. Er bekennt sich gern als Narzisst: „Manche Psychologen sind der Ansicht, eine kräftige Dosis Narzissmus sei keineswegs schädlich, sondern hilfreich, um im Leben etwas Besonderes zu leisten.“

Sein pubertärer Ausflug zu den Maoisten war ein Versuch, sich über den linken Außenflügel vom Vater zu emanzipieren, der als evangelischer Pfarrer in Frankfurt linksliberal predigte. 1968 war er elf und für die Studentenbewegung zu jung. Mit 13 gründete Zitelmann eine Rote Zelle am Gymnasium und erteilte „Schulungen über die Schriften von Mao“. Im Jahr darauf gesellte er sich zum Kommunistischen Jugendverband Deutschlands, der Nachwuchsabteilung der KPD/ML (Rote Fahne), und hatte fortan am Fabriktor morgenmufflige Werktätige zu agitieren.

Doch bereits im Studium hatte er das Linkssein satt und spielte seinen Selbstfindungskonflikt fortan über die rechte Flanke. Als Cheflektor beim Ullstein-Verlag in Berlin, später als Ressortleiter bei der Welt galt er als Feuerkopf der neuen Rechten. Schließlich schulte er auf Immobilien um und spekulierte sich ein zweistelliges Millionenvermögen zusammen. Heute schreibt er Bücher, in denen er Kapitalismus und Erfolgsmaximierung hochleben lässt, und publiziert auf nationalliberalen Online-Plattformen süffisante Kommentare wider alles Linksverdächtige. „Ich bin eben immer ein Nonkonformist gewesen“, behauptet er. So unstet seine intellektuellen Pendelschwünge wirken, so sehr karikiert er damit die Unwucht der Achtundsechziger-Haltung: „Wir wussten über China und Albanien nicht so viel, nur das, was wir in der Peking Rundschau lasen. Diese Länder waren einfach nur Projektionsflächen für unsere idealistischen Utopien von einer vermeintlich besseren Welt.“

68 und der Neoliberalismus

Zu den überraschenden Missverständnissen von 1968 dürfte der antikapitalistische Impetus gehören. Tatsächlich scheint der marktradikale Neoliberalismus im Genpool der Achtundsechziger-Liberalität verankert. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler weist in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ darauf hin, von den „ursprünglichen politischen Zielen“ der Achtundsechziger sei „nur eine einzige Forderung: freie Bahn für den Individualismus im Verein mit einem unbeschwerten Lebens- und Konsumgenuss, übrig geblieben“.
 

Das Buch „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung“: Lesestoff für die theorieliebenden Studenten der 68er-Revolte

Das anfänglich unbeschwerte Lebensgefühl Ende der sechziger Jahre fand im fernöstlichen Despoten Mao ein Idol, das mit einem handlichen roten Büchlein in den Wohngemeinschaften omnipräsent war: Die „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“ waren ein Accessoire wie Jeans und lange Haare. Neben dem Superseller Mao-Bibel fand noch ein weiteres Buch des Großen Vorsitzenden im Deutschland der sechziger Jahre Verbreitung: Maos „Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt“ erschien 1966 als rororo-aktuell-Taschenbuch mit einer militärphilosophischen Einleitung von Sebastian Haffner. Bereits zum Jahresende waren 53 000 Exemplare aufgelegt. Mao wird darin als neuer Clausewitz gerühmt, der eine neue Art Krieg geschaffen habe, in dem „die Mobilisierung des gemeinen Mannes im ganzen Land ein riesiges Meer schafft, in dem der Feind ertrinkt“. Ein Ozean aus Blut, an dessen Badestrand sich westdeutsche Jungintellektuelle in der roten Sonne bräunten.

Eine Riesenerfolgsgeschichte, bei all diesen Verbrechen

Der Philosoph Rüdiger Safranski erinnert sich lebhaft an dieses Buch. „Das hat eine große Rolle gespielt. Mao war ein Popstar. Man darf nicht vergessen, Mao repräsentierte eine ungeheure Faszinationsgeschichte. Dieses Riesenland hatte sich befreit vom Kolonialismus und vom Imperialismus. Eine Riesenerfolgsgeschichte. Bei all diesen Verbrechen.“ Safranski, heute 73, der mit seinen Monografien über Schopenhauer, Nietzsche, Schiller, Goethe und die Romantik viel zur Überlieferung deutschen Selbstverständnisses beigetragen hat, erlebte den Aufbruch in zwei Phasen: „Die erste Phase ab 1967 war in meinem Erleben eine wunderbare Aufbruchssituation. Sie war libertär, verrückt, antiautoritär, experimentell. Da war die Musik, die Entdeckung der neuen Sexualität und neuen Beziehungen, ein allgemeines Befreiungsgefühl, das auf alle Bereiche ausstrahlte.“ Um 1970 war es vorbei mit dieser „großen euphorischen Welle“, ein „Organisationsfuror“ setzte ein. „Da begann dann die Geschichte dieser K-Gruppen. Andere politisch sehr Motivierte gingen in die linke Sozialdemokratie. Ein weiterer Teil radikalisierte sich Richtung Terrorismus und Rote Armee Fraktion.“

Den jungen Germanistikstudenten Safranski verschlug es 1970 an der Freien Universität Berlin zur KPD-AO (Aufbauorganisation). „Wir waren Maoisten, also eine Fraktion, die Maß nahm an China.“ Aber warum Mao? „Mao Tse-tung erschien als eine wunderbare Abgrenzung von den von uns als Spießer verachteten Anhängern des Sowjetkommunismus. Er war einfach eine große Figur, der Oberantiautoritäre! Stellen Sie sich vor: Da ist ein Parteiführer mit den Meriten des Staatsgründers, schreibt auch noch Gedichte, mobilisiert die Jugend seines Landes gegen den eigenen Parteiapparat. So kam das bei uns an! Dass da noch ein ganz anderes Spiel gespielt wurde, das wurde ja später deutlich.“

Seine Zeit als Mao-Jünger in der KPD-AO beschreibt Safranski „psychodynamisch als eine Art Selbstbestrafung. Als ob wir uns für dieses Überbordende der ersten Phase auf kleinbürgerliche Weise selbst bestraft hätten – indem wir uns zu einem unglaublichen Arbeitsplan verdonnert haben.“ In der Regel waren es 14- bis 16-Stunden-Tage, die morgens um fünf vor den Werkstoren von Siemens und Borsig begannen, um das Zentralorgan Rote Fahne zu verteilen. „Da war vom Hedonismus der Phase davor, von dieser lustvollen Entfesselung, kaum etwas übrig geblieben.“

Winfried Kretschmann, Ex-Maoist

Politisch blieben diese K-Gruppen folgenlos, es waren „Intellektuellenorganisationen, in denen wir Proletarier mit der Lupe suchen konnten“, und die überwiegend damit beschäftigt waren, die Mitglieder ideologisch auf Linie zu halten. K-Gruppen waren nie ein Hort des wirksamen gesellschaftlichen Widerstands, sondern Trainingslager für heranwachsende Opportunisten, die dort so lange Gemeinschaftswärme fanden, bis sie sich reif fühlten für die Ellbogengesellschaft da draußen. Der Verfassungsschutz hielt die Maoisten für eine
„ungefährliche Beschäftigungstherapie“ (Safranski), weil sie den RAF-Terror als für die Revolution untaugliche Ballerei ablehnten.

K-Gruppen waren Durchlauferhitzer für Leute, die es später zu verblüffenden Karrieren brachten. Führungsköpfe der Grünen wie Krista Sager, Ralf Fücks und Reinhard Bütikofer waren im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv, ebenso der Musiker und Schriftsteller Sven Regener. Der frühere Telekom-Personalvorstand und heutige FDP-Bundestagsabgeordnete Thomas Sattelberger und der Ex-Chefredakteur des Handelsblatts Bernd Ziesemer waren Maoisten. Zur KPD/AO gehörten der Rechtsanwalt Horst Mahler, später RAF-Terrorist und schließlich NPD-Mitglied, der Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt-Gruppe, Alan Posener, sowie der Maler Jörg Immendorff.

„Ich war ja früher Maoist“, sagt Winfried Kretschmann und klingt dabei, als habe er mal Leistungssport getrieben und ihn aus Altersgründen aufgegeben

Winfried Kretschmann, heute 70 Jahre alt, regiert als grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Er empfängt zum Gespräch in der getäfelten Bibliothek seines Dienstsitzes Villa Reitzenstein hoch über Stuttgarts Innenstadt. Auch in den Bücherregalen ist Mao präsent. Die Bibliothekare des Staatsministeriums haben neben der Gesamtausgabe von Erich Fromm und Monografien über Robespierre und Napoleon die Bestseller des konservativen Publizisten Klaus Mehnert einsortiert: „China nach dem Sturm“ (1971) und „Kampf um Maos Erbe“ (1977). Kretschmann strahlt unter seiner schlohweißen Bürstenfrisur schwäbische Behaglichkeit aus. Wenn er sagt: „Ich war ja früher Maoist“, klingt das, als habe er mal Leistungssport getrieben und ihn aus Altersgründen aufgegeben. „Von Mao gab es den Spruch: Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen. Das ist einer der falschesten Sätze, die wahrscheinlich jemals gesagt wurden über Politik und Macht. Aus den Gewehrläufen kommt die Gewalt! Und eben keine Macht.“

Prominente Maoisten

Nach dem Willen seines Vaters sollte er katholischer Priester werden, war an der Universität Stuttgart-Hohenheim in der katholischen Studentenverbindung Carolingia aktiv, um sich während des Lehramtsstudiums den Maoisten zuzuwenden. Weil Kretschmann für kommunistische Splittergruppen kandidierte, drohte ihm Berufsverbot durch den Radikalenerlass, 1978 wurde er doch noch als Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik verbeamtet. Im Jahr darauf hob er die Grünen im Ländle mit aus der Taufe. Seine maoistischen Jahre, insbesondere 1973 bis 1975 in der Politsekte KBW, bezeichnet er als „fundamentalen politischen Irrtum“. Der KBW beutete seine Mitglieder aus, die Getreuen mussten 10 Prozent des Lohnes abliefern, auch vor Psychoterror wurde nicht zurückgeschreckt. Kretschmann schaudert es heute: „Wenn ich die Zeugen Jehovas sehe, denke ich: Auf dem Niveau warst du auch mal.“

Mit Paul Breitner schaffte es ein Mao-Fan in die Fußballweltmeister-Elf 1974. Der abgebrochene Student der Sonderpädagogik trug Afrolook und verwegene Backenbartkreationen und liebte die Provokation: „Ich verehre Mao, weil er jeden Tag 800 Millionen Menschen eine Schale Reis verschafft.“ Der „rote Paul“ ließ sich im Wohnzimmer mit der Peking Rundschau in der Hand vor einem Mao-Poster ablichten. Der Spiegel nannte ihn einen „Schein-Maoisten“. Tatsächlich surfte der WM-Kicker durch den linken Zeitgeistnebel, um seinen Marktwert zu konsolidieren, wie er später eingestand: „Es war einfach so interessant, gegen etwas zu sein. Ich habe viel Blödsinn gemacht, was mir wiederum geholfen hat, dass sich die Leute mit mir selber nicht mehr beschäftigt haben. Die haben Stoff gekriegt, ich hab Schlagzeilen geliefert und hab dann meine Ruhe gehabt.“ Inzwischen ist Breitner 67 und kümmert sich um seine Immobiliengeschäfte.

Weltmeister und Maoist: Fußballlegende Paul Breitner mit dem Weltmeisterpokal 1974

Ins Amt der Vizepräsidentin des Bundestags hat es die 69-jährige Sozialdemokratin Ulla Schmidt getragen. Bei der Bundestagswahl 1976 trat sie als Direktkandidatin im Wahlkreis Aachen-Stadt und auf Platz zwei der Landesliste für den KBW an: „Ich hatte 170 Stimmen bekommen. Irgend so was.“ Schmidt sitzt in ihrem Berliner Abgeordnetenbüro und nestelt nervös an ihrem langen Seidenschal. Unlängst hatten Zeitungen gemeldet, sie habe im Vorjahr bis zu einer Viertelmillion Euro an Nebeneinkünften aus der Pharmaindustrie bezogen. Von 2001 bis 2009 war sie Bundesgesundheitsministerin. Sprechen möchte sie über ihre Nebeneinkünfte nicht. Zitate will sie gegenlesen.

Alle Fäden zur Realität abgerissen

Schmidts erste K-Gruppe war die katholische Kirche. „Dort ging es um Jugendarbeit und soziale Fragen.“ 1968 machte sie Abitur. An der Aachener Uni diskutierte sie in K-Gruppen wie dem Kommunistischen Bund und der KPD/ML. „Wir hatten das große Gefühl der Ungerechtigkeit. Uns rüttelte der Vietnamkrieg auf, wir wollten bessere Lebensbedingungen für die Arbeiter in der Dritten Welt.“ Mao war für Schmidt ein Popstar, „weil er dafür sorgte, dass die Leute alle zu essen hatten. Dass das mit der Unterdrückung derer einherging, die nicht dafür waren, darüber wurde nicht geredet.“

Ihre Bundestagskandidatur für den KBW brachte Ulla Schmidt jahrelange Konflikte mit der Schulbehörde ein, die sie wegen „Erschleichens des Beamtenverhältnisses rausschmeißen“ wollte. Sie blieb im Staatsdienst, unterrichtete behinderte Menschen, wechselte 1983 zur SPD und sitzt seit 1990 im Bundestag. War sie früher Kommunistin? „Nein. Es ging mehr um das Gefühl: Jeder soll seine Arbeit haben.“ Was sie nicht gehindert hat, als Gesundheitsministerin die Fallpauschalen einzuführen. Seither müssen die Mediziner die Behandlung des Patienten innerhalb eines zuvor festgelegten Kostenrahmens gestalten – Heilkunst wird durch Profitabilität verdrängt.

Offenbar waren die K-Gruppen Schulungsstätten, um eine tiefenwirksame Selbstentfremdung und Zwiedenken von orwellscher Qualität einzuüben. „Wir waren in gewisser Weise wie Maschinen, die sehr stramm in einem ideologischen Mechanismus gedacht haben. Da waren alle Fäden zur Realität und zu dieser Welt abgerissen“, beschreibt es ein KBW-Gründungsgenosse.

„Mao war die Mona Lisa der Weltrevolution“

Der 73-jährige Publizist Gerd Koenen kam 1968 zum Studium nach Frankfurt, um über die Demokratietheorie von Marx zu promovieren. 1973 trat er dem KBW bei und legte die Doktorarbeit auf Eis. Die Jahre 1967 bis 1977 hat er in seinem Buch „Das rote Jahrzehnt“ als „unsere kleine deutsche Kulturrevolution“ erzählt, eine Anspielung auf Maos Kulturrevolution, eine Terrorkampagne, durch die zwischen 1966 und 1976 Millionen Chinesen gefoltert und ermordet wurden. In Westdeutschland ging es weniger blutrünstig zu, aber verbissen genug. In „Lesekursen“ wurde Marx’ „Kapital“ durchbuchstabiert, um die frömmlerischen Sektierer auf „eine große weltwirtschaftliche Krise, die wir für gesetzmäßig hielten“, einzustimmen. „Das würde wieder in Krieg und Faschismus münden. Und es müsste dann jemand da sein, der Bescheid wusste.“ Eben Leute mit Durchblick wie die KBW-Kader.

Was in der Rückschau Komik entfacht, erfüllte die Akteure mit fundamentalistischem Ernst. Die Revolutionsunterweisung geriet durch eine straff orchestrierte Wagenburgmentalität zum Endlosgebet. Horrende Mitgliedszahlungen und Erbschaften brachten der Partei ein Vermögen ein. Allein zwischen Herbst 1976 und 1977 sollen es über sieben Millionen Mark gewesen sein. „Darauf waren wir stolz“, erinnert sich Koenen. Das Geld wurde in die Immobilie der Frankfurter Parteizentrale investiert, in Druckereien und in eine Flotte von 50 Saab-Limousinen, in der bis zu 67 Festangestellte ihre „Kurierfahrten und Instruktionsreisen“ unternahmen.

Über den Nimbus von Mao kann Koenen heute nur staunen. „Mao war die Mona Lisa der Weltrevolution“, knurrt er. „Brigitte Bardot ließ sich mit Mao-Mütze fotografieren. Andy Warhol malte ihn. Es waren auch Konservative von Mao fasziniert. Alain Peyre­fitte, französischer Kulturminister unter de Gaulle, reiste Anfang der siebziger Jahre nach China und war beeindruckt. 1975 traf Franz Josef Strauß auf Mao in Peking, kurz darauf war Helmut Schmidt dort – beide waren tief beeindruckt. Aber man musste sich schon heftig desinteressieren für das, was wirklich passiert, um dieses Bild aufrechtzuerhalten.“

Rigide Alt-68er

Diese Ignoranz mit einhergehender Selbstgerechtigkeit erschreckt noch heute manche Veteranen. Wahnhaft sei „die Selbstüberschätzung des Möglichen“ gewesen, sagt der Historiker Jörg Friedrich, 74 Jahre alt. Ausgerechnet „die Alt­achtundsechziger behaupten heute noch, dass sie 1968 die Demokratie in der Bundesrepublik eingeführt hätten!“ Er lacht schallend. „Dabei waren das doch Leute, die gesagt haben ,Scheißliberal!‘, und jedem Professor, der das Falsche lehrte, ein Ei an den Kopf geworfen haben.“ Wie sehr das Echo von 1968 nachhallt, erlebte Friedrich, als er 2002 sein Buch „Der Brand“ veröffentlichte, in dem er aufzeigte, warum seiner Meinung nach die Bombenangriffe auf deutsche Städte spätestens seit 1944 keinen strategischen Sinn mehr ergaben und vorrangig einer menschenverachtenden Militärdoktrin folgten. Auf Lesereisen bekam er den Unmut derer zu spüren, die jedes Hinterfragen von Kriegshandlungen der Alliierten als Relativierung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg tabuisieren.

In seiner Bücherwohnung in Berlin-Charlottenburg berichtet Jörg Friedrich von „Gehirnwäsche und Denkverboten“. Nach dem Abitur in Essen wurde er Schauspieler, arbeitete als Drehbuchautor und Regieassistent bei Helmut Käutner. 1968 war er 24, es zog ihn nach Westberlin, der Hauptstadt der Studentenbewegung. Er schrieb sich an der Freien Universität ein und ließ sich durch die Diskussionsgewitter der Wohngemeinschaften treiben. „Es war Aufklärung von morgens bis abends. Eine einzige große Bewusstseinsmaschine. Plötzlich verstand ich die ganze Welt!“ Sie liefen im Laufschritt gegen die Bannmeile vorm Schöneberger Rathaus, skandierten „USA-SS-SA!“, verteilten Flugblätter an Siemens-Arbeiter vor den Werktoren, „damit unsere Proletarier gefälligst sich mit den unterdrückten Völkern in der Dritten Welt solidarisch erklärten“.

Vor ein paar Jahren traf Friedrich sich mit dem früheren Studentenführer Bernd Rabehl. „Ich sagte: Mensch Bernd, wenn der Göring 1968 auferstanden wäre und uns vor dem Café Kranzler hätte schreien hören: Sieg im Volkskrieg! Was hätte der wohl gesagt?“ Friedrich nimmt belustigt Anlauf: „Der hätte gesagt: Deutsche Jugend! Schüttelt die Besatzungswillkür ab! Lehnt sich auf gegen die Unterdrücker! Der Amerikaner ist ja kein Befreier, sondern ein Unterdrücker!“

Die Alt-68er prägten mit ihren Lebenslügen den linksliberalen Mainstream

Mit Junglehrern saß Friedrich in Lektürezirkeln, vertieft in „Das Kapital“ von Marx. Einer der Referendare wurde „Millionen-Gerhard“ genannt. „Weil der gesagt hat: Im Fall einer Machtergreifung müssen wir ein paar Millionen an die Wand stellen.“ Aus Millionen-Gerhard wurde später ein „ordentlicher Schulrat“. Friedrichs Ausflug in eine maoistische Gruppierung wie die KPD/ML währte kaum zwei Wochen. Dann wollte der Führungskader ihn auf Linie bringen. „Den obrigkeitlichen Tonfall vergesse ich nicht: Genosse Friedrich! Auf einmal galt das Führungs- und Gehorsamsprinzip.“ Adorno schrieb 1950: „Es ist ein Teil des Geheimnisses totalitärer Führung, der Gefolgschaft das Bild eines autonomen Charakters vor Augen zu stellen, der zu sein ihr in Wahrheit verwehrt wird.“ Die antiautoritäre Bewegung hat Adornos Befund spiegelverkehrt eingelöst.

Der einstige Straßenkämpfer Joschka Fischer (rechts neben dem No-Nukes-Schild) trieb später in der rot-grünen Regierung mit der Agenda 2010 und Hartz IV den neoliberalen Ökonomismus voran

Die Altachtundsechziger prägten mit ihren schmutzigen Familiengeheimnissen und Lebenslügen den linksliberalen Mainstream. „Wir waren Rudis Rote Garde“, sagt Friedrich, „und sollten als Undercoveragenten auf den langen Marsch durch die Institutionen gehen. Heute sind die Leute Landgerichtspräsidenten, Minister, Kanzler geworden.“ Der Marsch gipfelte 1998 in der rotgrünen Regierungskoalition. Ex-Maoist Jürgen Trittin führte als Umweltminister das Dosenpfand ein und etablierte im Prekariat das Leergutsammeln als Einkommensquelle. Mit Agenda 2010 und Hartz IV wurde unter Kanzler Schröder, dem Ex-Juso-Vorsitzenden, und Vizekanzler Fischer, dem einstigen Straßenkämpfer, das soziale Klima vereist. Die ehemals Linksradikalen trieben den neoliberalen Ökonomismus voran.

Fotos: picture alliance

Dies ist ein Text aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.
















 

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