200. Geburtstag Dostojewskis - Dokumentarist der Moderne

Wie kaum ein anderer Autor griff Fjodor Dostojewski die Verwerfungen seiner Zeit auf, die Spannungen zwischen Konservativen und Progressiven, Adel, Bürgertum und Intellektuellen, Religion und Moderne, Industrialisierung und ländlichen Traditionen. Entsprechend hatte er ein feines Gespür für die kulturellen und ideologischen Strömungen seiner Zeit und ihre grausamen Konsequenzen.

Zeitströmungen im Blick gehabt: Dostojewski-Denkmal in Dresden / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Er gilt als einer der ganz großen Autoren der Weltliteratur. Wir verdanken ihm Werke wie „Schuld und Sühne“ („Verbrechen und Strafe“), „Die Dämonen“ oder „Die Brüder Karamasow“. Sein Leben war gekennzeichnet von höchsten Höhen und tiefstem Fall. Er war Salonlöwe und Internierter eines Arbeitslagers, Revolutionär und Reaktionär, Atheist und großer Frömmler: Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Heute vor 200 Jahren wurde er in Moskau geboren.

Sein überragender Ruf als Weltromancier, sein unglaublicher Erfolg und die ungeheuerliche Wirkung, die er im 19. und 20. Jahrhundert entfaltet hat, trüben jedoch mitunter den Blick auf sein Werk. Wie bei vielen Künstlern, so gibt es auch in diesem Fall nicht nur den einen Dostojewski, den Titanen der Literatur und russischen Nationalheiligen, sondern ziemlich viele, höchst unterschiedliche Dostojewskis. Das liegt zum Teil in seiner Biografie begründet, aber nicht nur.

Im Wodkafass ersäuft

Dostojewskis Vater, Michail Andrejewitsch, war Arzt an einem Moskauer Waisenspital. Die Mutter, Marija Fjodorowna, stammt aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Die Familie wird nobilitiert, die Lebensumstände bleiben ärmlich. Als Fjodor Michailowitsch 15 Jahre alt ist, stirbt die Mutter an Tuberkulose. Der Vater hat sozialen Ehrgeiz und hat ein kleines, ärmliches Landgut erworben. Zudem ist er jähzornig und ein Trinker. Er stirbt 1839. Die einen sagen: an einem Schlaganfall. Andere behaupten, er sei von seinen Leibeigenen in einem Wodkafass ersäuft worden. Die Familie glaubt an einen Mord.

Der brutale Vater, dessen fragwürdiger Tod, die frömmelnde, früh verstorbene Mutter, das Elend der Waisenklinik, die in der Nähe eines Irrenhauses liegt, die bedrückende häusliche Atmosphäre: Dostojewskis Jugend erscheint wie ein Setting aus einem Dostojewski-Roman. Er selbst sieht seinen schriftstellerischen Werdegang jedoch nicht als Aufarbeitung einer traumatischen Kindheit, sondern als Frucht der wertvollen Saat der Eltern. Sigmund Freud wird den in „Die Brüder Karamasow“ geschilderten Vatermord als Ausdruck tiefer Schuldgefühle seitens des Autors interpretieren.

Zehn Jahre Deportation

Keine Frage: Dostojewski ist nicht mit großer Glücksfähigkeit gesegnet. Er schwankt zwischen tiefer Melancholie und noch tieferer Verzweiflung. Er leidet an seiner Umwelt, der Gesellschaft, der Ungerechtigkeit und vor allem: an sich selbst. So jemand wird kein Sonnyboy.

Im Jahr 1846 erscheint Dostojewskis erster Roman „Arme Leute“, der ein großer Erfolg bei der Moskauer und Petersburger Intelligenzija wird. Dort hängt man einem utopischen Frühsozialismus an. Der junge Literat verkehrt in Kreisen um den berühmten Kritiker Wissarion Belinski und Michail Petraschewski, einen streitbaren Intellektuellen.

Die Bekanntschaft mit Letzterem wird Dostojewski fast zum Verhängnis. 1849 werden Petraschewski und seine Anhänger verhaftet. Dostojewski wird zum Tode verurteilt, jedoch scheinhingerichtet und in ein Arbeitslager nach Sibirien verfrachtet. Wie durch ein Wunder überlebt er die brutalen Bedingungen der Haft. Nach vier Jahren wird er entlassen – muss allerdings in Kasachstan Kriegsdienst leisten. Der neue Zar Alexander II. begnadigt ihn. Zehn Jahre nach seiner Deportation kehrt Dostojewski nach St. Petersburg zurück.

Künstlerische Ambivalenz

Dostojewski rehabilitiert sich schnell und hat Erfolg, auch ökonomisch. 1862 reist er über Deutschland nach Paris und London. Auf dieser Reise lernt er das Roulette kennen, das in Russland verboten ist. Er wird schwer spielsüchtig. Seine Erfahrungen in Baden-Baden und Wiesbaden verarbeitet er in dem Roman „Der Spieler“. „Schuld und Sühne“ ist da schon erschienen. Es folgen die großen Romane, Ruhm und Ehrungen. In seinen letzten Lebensjahren zunehmend krank, stirbt Dostojewski 1881.

Wie kaum ein anderer Autor greift Dostojewski die Verwerfungen seiner Zeit auf, die Spannungen zwischen Konservativen und Progressiven, restaurativem Adel, liberalem Bürgertum und progressiven Intellektuellen, zwischen Religion und Moderne, Industrialisierung und ländlichen Traditionen. Entsprechend hat er ein feines Gespür für die kulturellen und ideologischen Strömungen seiner Zeit und ihre grausamen Konsequenzen.

Vielleicht deshalb flieht Dostojewski mitunter in den intellektuellen Kitsch. Man denke nur an den Plot von „Schuld und Sühne“: Student ermordet alte Wucherin, hat ein schlechtes Gewissen, stellt sich der Polizei und findet im Arbeitslager dank seiner großen Liebe zum rechten Glauben. Naja. Andere Romane haben unglaubliche Längen, ein kaum übersichtliches Personal oder versinken in aufgesetzten Glaubensdebatten. Dem gegenüber stehen echte Meisterwerke: Die „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“, „Der Spieler“, „Die Dämonen“. Doch gerade auch in dieser künstlerischen Ambivalenz bildet sich die ganze Zerrissenheit des Menschen Dostojewski und seiner Epoche ab. Auch in diesem Sinne war er ein großer Dokumentarist unserer Moderne.

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