100. Geburtstag von Stanislaw Lem - Der Skeptiker

Stanislaw Lem gilt als bedeutendster Vertreter der Science-Fiction. Dabei hat er dieses Genre immer verachtet. Ihn interessierte vor allem die Fremdheit des Menschen sich selbst gegenüber, seine Grenzen und Unzulänglichkeiten. Am heutigen Sonntag wäre er 100 Jahre alt geworden.

Stanislaw Lem im Jahr 2000 / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Er studierte Medizin, arbeitete als Automechaniker, Übersetzer und Monteur und war zeitweise Assistent für angewandte Psychologie in Krakau. Nebenbei studierte er Philosophie und beschäftigte sich intensiv mit Naturwissenschaften und Technologie, mit Kybernetik, künstlicher Intelligenz, Nanotechnologie, Genetik und Bioinformatik. 

Vor allem aber war er ein Bestsellerautor. Seine Werke wurden in über 50 Sprachen übersetzt, die Auflage seiner Bücher liegt weltweit bei über 40 Millionen. Er war mit Sicherheit der erfolgreichste und bekannteste Schriftsteller Polens: Stanislaw Lem. Am heutigen Sonntag wäre er 100 Jahre alt geworden. Nach eigener Auskunft wurde Lem übrigens erst am 13. September geboren und das Geburtsdatum aus Aberglauben vordatiert. So berichtet es jedenfalls sein Biograf Wojciech Orlińskis. Ob das nun Flunkerei war oder nicht – schwer zu sagen.

In einem Fernsehinterview beschreibt Lem seine Jugend in seiner Geburtsstadt Lemberg als Paradies. Das änderte sich im Herbst 1939. Erst kam die Wehrmacht. Dann kamen die Rote Armee und der NKWD und liquidierten alles, was nach Intelligenz, Widerstand und Bürgerlichkeit aussah. Dann kam die SS und liquidierte, was an möglicher Opposition übrig war. Vater, Mutter und Sohn Lem überlebten mit gefälschten Papieren. Andere Angehörige hatten dieses Glück nicht.

Visionär, Prophet, Hellseher

In die Annalen der Literaturgeschichte ist Lem als der große Science-Fiction-Autor eingegangen, gewürdigt als Visionär, Prophet, ja Hellseher. Das alles ist nicht falsch und kann man gut begründen. Übersehen wird dabei aber gern, dass Lems Blick zunächst einmal ein sehr gegenwartsbezogener war, mitunter sogar der Vergangenheit verhaftet: dem Holocaust, der Besatzungszeit, den Gräuel des NKWD, des SS. Lem verbrachte seine Jugend im Epizentrum der „Bloodlands“, dort, wo die Vernichtungsorgien des 20. Jahrhunderts mit unvorstellbarer Grausamkeit wüteten. Wenn Lem über die Zukunft schrieb, schrieb er auch immer über die blutige Geschichte. Die fremden Welten, denen seine Protagonisten begegnen, sind zwar fremde Welten. Aber was bedeutet Fremdartigkeit, wenn man den Holocaust und Stalins Schergen miterlebt hat, Erschießungen, Verfolgung und Vertreibung?

Lems Science-Fiction-Romane sind daher nicht einfach nur Zukunftsromane von Raumschiffen, Astronauten und fantastischer Technik. Es sind Meditationen über das Menschsein. Aus diesem Grund sind Lems Protagonisten auch nie herausragende Heldenfiguren. Hier gibt es keine Skywalkers oder Kirks. Aber auch kein Imperium oder Klingonen. Das wäre Lem vermutlich zu platt gewesen. Die Astronauten Kelvin, Snaut und Sartorius in Lems berühmtestem Roman „Solaris“ begegnen keiner bösen Macht, sie begegnen etwas viel irritierenderem: sich selbst, ihren eigenen Gedanken, die der intelligente Planet in ihnen lebendig werden lässt.

Entsprechend ist das Fremde in Lems Romanen, sei es in „Eden“, in „Der Unbesiegbare“ oder Lems Erstling „Der Mensch vom Mars“ zwar gefährlich, aber nicht verwerflich. Das Fremde ist hier nur unendlich fremd. Lem wusste nur zu genau: das wirkliche Bösartige liegt im Menschen, nicht irgendwo da draußen im Universum.

Anders als im klassischen Genre-Roman siegen bei Lem nie brillante, mutige oder entschlossene Menschen über Maschinen. Meist bleibt einfach nur eine ungreifbare Bedrohung, der man sich abwendet – und der Blick in die eigenen Abgründe und Unzulänglichkeiten. Dass Lem der klassischen Science-Fiction-Literatur eher kritisch gegenüberstand, verwundert nicht.

„The World as Holocaust“

Dazu gehört auch, dass er die technische Entwicklung nie einfach nur nach dem Motto, größer, schneller, weiter extrapoliert hat. Lem wusste, wovon er schrieb und hatte die strukturellen Eigenarten moderner Technologie verstanden. Das erlaubte es ihm, einige Entwicklungen pointiert vorauszusehen: vom Internet über Suchmaschinen bis zum Smartphone. Genau diese Einsicht in die Logik technischer Entwicklung ließ ihn aber auch immer skeptischer werden. Der Prophet digitaler Vernetzung nutzte das Internet nicht. Der Technikbegeisterte misstraute der Technik zutiefst – und noch mehr dem Menschen. Und anders als die Visionäre des Silicon Valley wusste Lem nur zu genau, dass die Steigerung der technischen Leistungsfähigkeit „mit einem Verfall der Phantasie und Intelligenz der Menschen einhergeht“.

Die naive Idee, dass der Mensch sich durch technische Entwicklung quasi selbst erlösen kann, war Lem fremd. Dafür hatte er zu viel gesehen. Und zugleich ahnte er, dass Grausamkeit und Massenmord nicht einfach nur singuläre Verbrechen sind, sondern Ausdruck eines kosmischen Prinzips – so Lem in „The World as Holocaust“, von seinem Verlag verschämt zu „Das Katastrophenprinzip“ umbenannt. 

Entsprechend skeptisch sah Lem gegen Ende seines Lebens in die Zukunft. Auch wegen der Sinnentleerung, die der Fortschritt mit sich bringt: „Was bleibt dem Menschen dann noch?“, schieb Lem 1964 in seiner „Summa technologiae“, „Die Angst vor Alter und Krankheit und die Pillen, die das seelische Gleichgewicht wiederherstellen – das er verliert, weil er unwiderruflich von der Transzendenz getrennt ist.“

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