Konflikt im Gazastreifen - Free Gaza! Von der Hamas!

Die Gewalt im Gazastreifen eskaliert, die Bevölkerung steht vor einer humanitären Katastrophe. So leicht sich aber viele damit tun, Israel für die verheerende Lage verantwortlich zu machen, so schwer fällt es ihnen, den wahren Feind der Palästinenser zu benennen: die Hamas

„Für mich sieht „friedlich“ anders aus, schreibt Sarah Stricker über die Gaza-Proteste / picture alliance
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Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Und wieder gibt es Tote im Gazastreifen. Und wieder steigt die Zahl jeden Tag weiter an. Und wieder ist ein Ende der Gewalt nicht in Sicht, zumindest nicht, wenn es nach dem Willen von Hamas-Chef Yahya Sinwar geht, der seine Anhänger am Montag daran erinnerte, „dass kein Vorstoß und kein Plan uns dazu bringen kann, Frieden mit dem Feind zu schließen.“

Und wieder lese ich in den Kommentaren der Tageszeitungen, Schuld an der Wut der Palästinenser sei die Aussichtslosigkeit im Gazastreifen, die Armut, die Arbeitslosigkeit, die sich immer weiter verschlechternden Lebensbedingungen, die, ja, da gebe ich den Schreibern völlig recht, tatsächlich unerträglich sind. Vor allem aber scheinen sich alle darin einig zu sein, wer dafür die Verantwortung trägt: Israel. Wer hingegen höchstens am Rande Erwähnung findet, ist die Hamas. Dabei hat sie nicht nur mehrere Millionen in den gewaltsamen Protest investiert – und ja, ich weiß, die Hamas selbst spricht beharrlich von friedlichen Demonstranten. Aber hat schon mal jemand mit einer Steinschleuder auf Sie gezielt? Für mich sieht „friedlich“ anders aus – sie ist es auch, die die desaströse Lage im Gazastreifen überhaupt erst geschaffen hat. Und das aus purem Machthunger.

Chance auf ein Leben ohne Besatzung

Es ist mehr als ein Jahrzehnt her, dass Israel aus dem Gazastreifen abgezogen ist. 8.000 jüdische Siedler mussten damals, gegen zum Teil enorme Widerstände in der israelischen Bevölkerung, ihr Zuhause verlassen. Ja, der Schritt war einseitig, und nein, mit der Räumung war noch kein eigener palästinensischer Staat verbunden. Aber, anders als im Westjordanland, das bis heute unter israelischer Militärverwaltung steht, hatten die Palästinenser im Gazastreifen damit, zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt, die Chance auf ein Leben ohne Besatzung, weder vonseiten der Osmanen, noch der Briten, der Ägypter oder der Israelis. Statt eine Führung zu wählen, die diese Chance zu ergreifen gewillt war, entschieden sie sich bei den ersten freien Wahlen jedoch zu 44 Prozent für die radikalislamische Hamas.

Um hier Missverständnissen gleich vorzubeugen: Nein, ich bin nicht der Meinung, dass die Menschen dafür nun für alle Zeit büßen sollten; ich bin Deutsche – ich weiß, wie es passieren kann, dass ein Volk eine historisch falsche Wahlentscheidung trifft. Richtig ist aber auch, dass die Hamas, so sehr sie sich auch einen sozialen Anstrich gab, von Anfang an nur ein Ziel verfolgte: die Alleinherrschaft.

Ihr erstes Opfer waren dabei die eigenen Landsleute. Die Wahl lag gerade mal ein Jahr zurück, da entschied die Hamas, dass ihr die absolute Mehrheit nicht reichte. Im Juni 2007 stürmte sie das Hauptquartier der oppositionellen Fatah, vertrieb, folterte oder ermordete jeden, der sich ihr in den Weg stellte und stürzte die Bevölkerung in einen Bürgerkrieg, den sie erst dann zu beenden bereit war, als sie den gesamten Gazastreifen unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Auf diese Weise von inneren Widersachern befreit, war sie gewappnet, sich voll und ganz ihrem eigentlichen Gegner zu widmen.

Die Hamas will das ganze Land

In geradezu bemerkenswerter Offenheit hat die Hamas wieder und wieder erklärt, dass sie eine jüdische Präsenz in ihrer Nachbarschaft, ganz egal in welcher Form, nicht akzeptieren wird. Sie möchte nicht ein Land; sie will das ganze Land zwischen Mittelmeer und Jordan für sich.

Diesen Anspruch – und um nichts anderes geht es ihr, nicht um die Politik der jeweils amtierenden israelischen Regierung, nicht um den Status des Tempelbergs oder ob Trump nun wirklich die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt, nicht mal um die Blockade, andernfalls müsste sich wenigstens hie und da auch mal eine Mörsergranate nach Ägypten verirren, das die Blockade ebenfalls aufrecht erhält – diesen Anspruch bekräftigt die Hamas damit, dass sie regelmäßig Raketen auf Israel abfeuert; seit 2007 waren es mehr als 10.000.

In den deutschen Medien wird über die alle paar Wochen, manchmal mehrfach täglich, heulenden Sirenen im Süden Israels, wo jede Wohnung ihren eigenen Bunkerraum hat und Spielplätze in raketensicheren Hallen ohne Fenster gebaut werden, nahezu nie berichtet. Schlagzeilen machen erst die Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Streitkräfte IDF, was dann bisweilen zu Sprachblüten wie „Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza“ (Spiegel Online) oder „Israel droht mit Selbstverteidigung“ (Focus Online) führt. Oft muss man ziemlich weit in den Text hineinlesen, bis man überhaupt erfährt, dass es sich bei dem israelischen Gegenschlag eben tatsächlich um eine Reaktion handelt, der eine Aktion der Hamas vorausgegangen ist. Was hingegen praktisch nie fehlt, sind die Verurteilungen vonseiten der so genannten Weltgemeinschaft, bevorzugt durch UN-Generalsekretär António Guterres und/oder die EU-Außenbeauftrage Federica Mogherini, die für gewöhnlich erst beide Seiten zur Mäßigung aufrufen, dann aber doch allein Israels Beschuss als „unverhältnismäßig“ bezeichnen.

Was unternimmt die UN gegen die Hamas?

Nun könnte man die Frage stellen, welche Reaktion denn verhältnismäßiger wäre – Israels Vergeltungsmaßnahmen gelten in der Regel entweder den Angreifern selbst oder militärischen Einrichtungen. Die Hamas hingegen feuert wahllos auf israelisches Territorium und nimmt dabei zivile Opfer nicht nur in Kauf; sie setzt ganz gezielt auf größtmögliche Opferzahlen – je mehr tote Juden, desto besser. Würde es dem gleich-mit-gleich-Prinzip eher entsprechen, wenn Israel sich an dieser Strategie ein Beispiel nähme?

Man könnte auch die Frage stellen, was Guterres‘ UN eigentlich unternimmt, um den Beschuss aus Gaza zu unterbinden oder wie es sein kann, dass während des Gaza-Kriegs 2014 in den Schulen des UN-Hilfswerks UNRWA ganze Waffenlager gefunden wurden, ohne dass irgendein Mitarbeiter zuvor etwas bemerkt haben will.

Und natürlich wäre es ebenfalls interessant zu wissen, wie Mogherini sich eigentlich erklärt, dass der Gazastreifen, trotz millionenhoher Hilfszahlungen aus den Töpfen der EU, am Rande einer humanitären Katastrophe steht, während der Hamas anscheinend weder das Geld für Waffen ausgeht, noch für kilometerlange, zum Teil mit Lastenaufzügen, Belüftungssystemen und Sprechanlagen ausgestatteten Tunnel, mit denen sie diese Waffen transportiert.

Eines ist klar, Israel reagiert immer

Aber, um all das geht es nicht. Viel wichtiger ist Folgendes: Selbst wenn man Israels Reaktion für unverhältnismäßig hält, so ist sie doch eines: vorhersehbar, denn Israel reagiert immer. Immer. Nicht mit Appellen oder Drohungen oder Sanktionen, sondern mit Waffengewalt. Das muss man nicht gutheißen; die Deutschen, die sich ihren Pazifismus jahrelang von den Amerikanern haben verteidigen lassen, verfolgen da oft eher den Glaubenssatz „der Klügere gibt nach“. Aber, so oder so, ist es ein Fakt. Und die Hamas weiß das. Sie weiß, dass ausnahmslos jeder Angriff gesühnt wird. Und sie weiß auch, dass ab einer gewissen Eskalationsstufe immer Unschuldige ums Leben kommen.

Nun kenne ich genug Israelis, die seit Jahrzehnten beim Militär sind und deren Berichten ich vertraue, um für meinen Teil davon überzeugt zu sein, dass der Staat sein Bestes tut, um zivile Opfer zu vermeiden. Aber natürlich muss man auch das nicht glauben. Oder man kann der Meinung sein, dass Israels „Bestes“ eben noch nicht gut genug ist. Oder dass ein Angriff, bei dem sich nicht hundertprozentig ausschließen lässt, dass Unbeteiligte verletzt werden, eben von vorne herein illegitim ist, auch wenn mir dann die Antwort darauf fehlt, was denn die Alternative wäre: Sich einfach beschießen lassen? Den Süden ganz aufgeben? Weiter gen Norden ziehen – wo man dann in die Schusszone der Hisbollah im Libanon gerät?

Der Hamas opfert das eigene Volk

Eins lässt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Die Hamas selbst glaubt den israelischen Streitkräften das mit der Vermeidung ziviler Opfer sehr wohl. Andernfalls würde sie kein siebenjähriges Mädchen losschicken, damit es inmitten des Steine- und Kugelhagels über den Grenzzaun klettert. Andernfalls würde sie ihre Abschussrampen nicht neben Krankenhäusern aufbauen. Andernfalls würde sie Menschen, die von der IDF vor der Zerstörung eines Tunnels per SMS zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert werden, nicht zwingen, zurück zu gehen.

Während des Kriegs 2014 war der Bruder eines guten Freundes von mir als Soldat in Gaza. Plötzlich kamen zwei kleine Jungs auf ihn zu gerannt und erklärten ihm mit Händen und Füßen, sie bräuchten Hilfe, er solle bitte mitkommen. Ich weiß nicht, ob derjenige, der ihnen aufgetragen hatte, das zu sagen, mit angesehen hat, wie der Bruder meines Freundes ihnen in das nebenstehende Gebäude folgte. Ich weiß nur, dass es ein paar Sekunden später in die Luft flog und dass es demjenigen völlig egal war, dass die beiden Jungs dabei ebenfalls in Stücke gerissen wurden.

Und trotzdem skandieren jene, die auch in diesen Tagen wieder auf die Straße gehen, weil ihnen das Schicksal der Menschen in Gaza angeblich am Herzen liegt, „Kindermörder Israel“, während sie gleichzeitig die Fahne der Hamas schwenken.

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