Jamaika-Sondierung - Ein Erdbeben

Die Jamaika-Sondierungen sind gescheitert, jetzt steuert die Republik auf Neuwahlen zu. Deren Ausgang ist völlig ungewiss. Deutschland steht vor einer Staatskrise

Überbringer des Scheiterns: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Es besteht kein Zweifel, der 19. November 2017 wird in die Geschichte dieses Landes eingehen. Wenn Historiker eines Tages auf das Ende der Ära Merkel in Deutschland zurückschauen, dann werden sie an diesem Tag nicht vorbeikommen. Es ist nicht allein der Tag, an dem nach vier Wochen zäher Verhandlungen nur einfach die Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen scheiterten. Es ist nicht allein der Tag, an dem ein zuletzt nur noch peinlicher Poker zwischen vier Parteien, die nicht zusammenkommen wollten und nicht zusammenkommen konnten, mit gegenseitigen Schuldzuweisungen endete.

Die historische Zäsur geht viel tiefer. Es ist zugleich der Tag, an dem das letzte Aufgebot des bestehenden etablierten Parteiensystems (und dazu wird man an dieser Stelle auch die SPD zählen müssen) vor der Aufgabe kapitulierte, das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September in eine handlungsfähige Bundesregierung zu überführen. Und es ist der Tag, an dem die Autorität der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden so nachhaltig beschädigt wurde, dass ihre Tage an der Macht gezählt sein dürften.

Kurz vor Mitternacht am Sonntagabend trat der FDP-Vorsitzende Christian Lindner vor die Presse und verkündete das Aus für Jamaika. Es ist ein politisches Erdbeben, welches das ganze politische System in Deutschland und auch die Europäische Union in eine tiefe Krise stürzt, vielleicht sogar in eine Staatskrise.

Angela Merkel nicht mehr führungsstark genug

Obwohl der Druck auf die Sondierer gewaltig war, fanden CDU, CSU, FDP und Grüne nicht zusammen. Zuletzt hatte sogar der Bundespräsident die Verhandler gemahnt, ihre politische Verantwortung für das Land wahrzunehmen und sie vor „panischen Neuwahldebatten“ gewarnt. Trotzdem konnten die Verhandler der vier Parteien ihre ideologischen und kulturellen Widersprüche nicht überwinden. Die Angst vor der Realpolitik war größer als die Angst vor dem Scheitern der Sondierungsgespräche.

Der Blick in den Abgrund, der sich den vier Parteien in den vergangenen Wochen aufgetan hatte, führte nicht dazu, die Kompromissbereitschaft zu fördern, sondern führte im Gegenteil dazu, dass vor allem CSU, FDP und Grüne sich nicht trauten, ihre ideologischen Schützengräben zu verlassen. So war in der Flüchtlingspolitik, beim Klimaschutz oder der Steuerpolitik keine Einigung möglich. Und die CDU mit Angela Merkel an der Spitze war zugleich aufgrund des schlechten Wahlergebnisses und ihrer programmatischen Beliebigkeit nicht mehr führungsstark genug, um eine Einigung zu erzwingen.

Nicht in der Lage, große Konflikte zu befrieden 

Jetzt läuft alles auf Neuwahlen Anfang kommenden Jahres hinaus, auch wenn es verfassungsrechtlich gar nicht so einfach ist, solche herbeizuführen. Aber die SPD zeigt keinerlei Neigung, doch noch politische Verantwortung für das Land zu übernehmen und für eine Große Koalition zur Verfügung zu stehen.

Natürlich spiegelten sich in den Debatten zwischen den vier Jamaika-Parteien in den vergangenen Wochen jene tiefen Gräben wieder, die es auch in der Bevölkerung gibt. Etwa in Sachen Migration und Flüchtlingspolitik, in Sachen Europa sowie in der Finanz- oder Sozialpolitik. Doch eine gemeinsame Idee, die aufzeigt, wie es gelingen könnte die großen gesellschaftliche Konflikte zu befrieden, wie etwa zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Globalisierung und Heimat oder zwischen Bürgerrechten und Innerer Sicherheit, oder wie es gelingen könnte, das Land in Sachen Bildung, Digitalisierung und Sozialpolitik zu modernisieren, haben die Parteien nie auch nur im Ansatz entwickelt.

Es wird gewaltige Verschiebungen geben

Wie die Wähler bei schnellen Neuwahlen darauf reagieren, dass die Parteien nicht in der Lage sind, nach der Bundestagswahl im September eine Regierung zu bilden, ist völlig unkalkulierbar. Wohin sich deren Unverständnis, deren Wut oder Empörung wendet, ist noch überhaupt nicht absehbar. Klar ist nur, es wird zu gewaltigen Verschiebungen in der Wählergunst kommen. Zumal sich alle Parteien nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche personell und programmatisch völlig neu aufstellen müssen.

In der CDU werden nun heftige Richtungskämpfe ausbrechen, Angela Merkel wird als gescheiterte Verhandlerin um ihre beiden Ämter fürchten müssen. Auch die CSU steht vor einem innerparteilichen Machtkampf, die Tage von Horst Seehofer als CSU-Vorsitzendem und bayerischem Ministerpräsidenten sind gezählt. Der selbsternannten bayerischen Staatspartei kann es überhaupt nicht gefallen, noch vor der Landtagswahl an der Seite der CDU einen Bundestagswahlkampf bestreiten zu müssen. Ihre absolute Mehrheit in Bayern und die Sonderstellung im bundesdeutschen Parteiensystem sind akut gefährdet.

Es ist fraglich, ob die FDP profitieren wird

Für die Grünen stellt sich sogar die Existenzfrage. Denn viele Anhänger werden der Parteiführung jetzt vorwerfen, in den Verhandlungen viele grüne Prinzipien verraten und zu viel Kompromissbereitschaft gezeigt zu haben. Und ob es der FDP tatsächlich nützt, dass sie den Wählern die Botschaft vom Ende der Sondierungen überbracht hat, wird sich erst noch erweisen müssen. Zumal die FDP nicht so recht erklären konnte, an welchen liberalen Prinzipien die Gespräche letztendlich gescheitert sind.

Stattdessen hat die FDP schon vor den entscheidenden Gesprächen am Sonntagabend den Eindruckt erweckt, als suche sie nur nach einer guten Gelegenheit, sich von den Sondierungsgesprächen und aus der politischen Verantwortung zu verabschieden. Zudem ist die FDP in den Verhandlungen noch einmal ein gewaltiges Stück nach rechts gerückt. Dass die anderen drei Parteien nun verkünden, eine Einigung wäre zum Greifen nahe gewesen, ist zunächst einmal nicht viel mehr als der Versuch, der FDP die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zu geben.

Eines allerdings steht schon jetzt fest: Jamaika war das letzte Aufgebot jener Parteiendemokratie, wie sie Deutschland bisher kannte. Dieses Parteiensystem mit zwei großen Parteien und zwei kleinen Parteien als Mehrheitsbeschaffern hat sich an diesem Sonntag endgültig verabschiedet.

Die Chance, das etablierte Parteiensystem zu stärken und das Vertrauen in die politischen Eliten wiederherzustellen, die Chance, Brücken in die Gesellschaft zu bauen, haben die Jamaika-Parteien, aber auch die SPD verpasst. Wenn nun die fundamentalistischen Parteien am linken und rechten Rand des Parteiensystems noch stärker werden, darf dies niemanden wundern.

Mehr Texte zu den Jamaika-Sondierungen finden Sie hier.

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