Wissenschaftler in der Coronakrise - Endlich Zeit für Erkenntnis

In der Coronakrise sind Wissenschaftler an den Universitäten privilegiert. Sie können ihre Arbeit im Home Office erledigen – und sie haben dafür jetzt zum ersten Mal auch genügend Zeit. Michael Sommer über einen Wissenschaftsbetrieb, der eigentlich ein Wissenschaftsverhinderungsbetrieb ist.

Die Krise als Chance: Endlich haben Wissenschaftler Zeit für ihre eigentliche Arbeit / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

So erreichen Sie Michael Sommer:

Anzeige

Es gibt eine Zeit vor Corona und eine danach. Wir spüren das daran, dass Probleme, die wir noch vor wenigen Wochen für existentiell erachteten, sich als Scheinriesen entpuppt haben. Nichts illustriert die disruptive Kraft des Winzlings SARS-CoV-2 besser als das rückstandsfreie Verschwinden vermeintlicher Großthemen aus der öffentlichen Debatte. Das Virus ist, wenn man das große Ganze im Blick hat, das genaue Gegenteil von Aufregern wie Klimatod und Postdemokratie: ein Scheinzwerg.

Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Der Verfasser ist sich dessen bewusst, dass er als Landesbediensteter und Professor, Geisteswissenschaftler zumal, privilegiert ist und nicht an vorderster Front steht. Er betreut keine Patienten, hält keine Lieferketten in Gang, sitzt nicht an der Supermarktkasse, läuft nicht als Polizist Streife und braucht auch keine Angst vor Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder Konkurs zu haben. Hätte er kleine Kinder, er würde bei der Betreuung als „nicht systemrelevant“ weit hinten in der Schlange der Wartenden stehen.

In der Krise schlägt die Stunde der Introvertierten

Deshalb kann er sich einen Luxus erlauben, der denen, die vom Virus oder dem durch ihn verursachten Lockdown betroffen sind, womöglich vorkommt wie blanker Zynismus. Er kann der Situation etwas Positives abgewinnen, privat wie beruflich. In der FAZ schrieb Melanie Mühl vor einigen Tagen, in Zeiten der Pandemie schlage „die Stunde der Introvertierten“. Ich würde mich nicht als introvertierten Menschen bezeichnen, beobachte aber die Entschleunigung fast aller Facetten des Alltags doch mit einer gewissen Dankbarkeit.

Manch einem mögen Menschenaufläufe, innerstädtische Konsumschlachten, Großveranstaltungen, Geschrei und Gedudel auf jeden Schritt und Tritt schmerzlich fehlen, ich vermisse sie nicht, wenn ich ehrlich sein soll. Die Vögel im Garten singen weiter, der Autolärm ist weniger geworden. Recht so! An mir selbst fällt mir die ungeheure Produktivitätssteigerung auf, die ich, an der Schwelle zum sechsten Lebensjahrzehnt und im mittleren Abschnitt meines Arbeitslebend stehend, kaum noch für möglich gehalten hätte.

Feuerwerk der Schaffenskraft 

Der Sammelband, der seit Monaten mein Gewissen belastet? Seit gestern beim Verlag! Die Rezensionsleiche aus vorsintflutlichen Zeiten? Abgearbeitet! Die Monographie über die Punischen Kriege, für die der Verlagsvertrag seit drei Jahren im Aktenordner vor sich hinschimmelt? Fast fertig und im Korrekturstadium. Und das Schönste: Ich habe die Arbeit an diesen Texten, die vielen nichts, mir aber eine ganze Welt bedeuten, zu keinem Zeitpunkt als anstrengend oder gar belastend empfunden. Viele Kollegen berichten von ähnlichen Erlebnissen.

Wie kommt es zu solch einem Feuerwerk der Schaffenskraft quer durch die Universitätslandschaft? Was setzt so plötzlich Energien frei, die im Handumdrehen gelingen lassen, wozu es sonst Monate harten Arbeiten bedurfte? Und was hat das mit Corona zu tun? Das Virus hat uns mehr Zeit geschenkt, gewiss, hat uns Reisen stornieren, auf Opernabende verzichten lassen. Aber es hat uns auch neue Lasten aufgebürdet: Wir alle machen uns jetzt fit für die Online-Lehre, mit der wir im kommenden Semester für unsere Studenten zu retten versuchen, was zu retten ist – und auf die wir völlig unvorbereitet sind. Wir tun das trotzdem gern. Unsere Studenten haben es verdient. Etliche Kollegen müssen sich jetzt, da Kindergärten und Schulen zu sind, mehr um ihre Kinder kümmern. Auch das knabbert am Zeitbudget.

Die Suche nach Erkenntnis als Berufsziel

Es ist also nicht der Faktor Zeit alleine. Vielmehr ist es die Möglichkeit, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Was ist das Wesentliche? Als Max Weber mitten im Ersten Weltkrieg, vor genau 103 Jahren, vor Studenten in Bayern zum Thema „Wissenschaft als Beruf“ sprach, hatte er nicht die universitäre Selbstverwaltung im Sinn, nicht Gremiensitzungen oder das Managen von Etats und Arbeitsgruppen, keine Akkreditierung von Studiengängen und auch nicht das immer kunstvollere Ausfeilen von Studienordnungen mit dem Ziel, sie juristisch zu uneinnehmbaren Festungen aufzurüsten.

Weber nannte es den eigentlichen Daseinszweck des Wissenschaftlers, etwas zu leisten, das „dauern wird.“ Der Forscher arbeite womöglich ein Leben lang auf den Moment der Erkenntnis zu, mit „Leidenschaft“, ja im „Rausch“. Wer das nicht könne, der habe „den Beruf zur Wissenschaft nicht“. Dem Beruf zur Wissenschaft haben den Verfasser drei Wochen in der quasi-Isolation näher gebracht als zwanzig Jahre Tätigkeit für diverse Universitäten in In- und Ausland. So wird bewusst, dass die Universität nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach ihr aufgezwungenen ökonomischen Logiken funktioniert.

Heilung von der Dauermalaise 

Sie ist, mit ihrem Modus operandi aus Gremien, Berichten, Strategiepapieren, Projekten und Zielvereinbarungen, das Gegenteil dessen, was sie sein sollte: kein Wissenschafts-, sondern ein Wissenschaftsverhinderungsbetrieb. Eine Organisation, die, indem sie die Suche nach Erkenntnis in ein wissenschaftsfremdes Format presst, Innovation nicht fördert, sondern ihr letztlich im Wege steht. Man kann es auch so sagen: Wer sich vier Stunden in einem Fakultätsrat um die Ohren geschlagen hat, wird danach nicht mehr zu wissenschaftlicher Hochform auflaufen.

So steht am Ende das Paradox, dass der disruptive Erreger SARS-CoV-2 einstweilen Heilung von der Dauermalaise des Universitätsbetriebs bringt. Ich wünsche mir, dass wenigstens hier die Unterbrechung des Alltags bleibende Wirkungen hat: Indem wir wieder lernen, was uns als Forscher ausmacht, was, mit dem Wort Webers, unser „Beruf“ ist. Und indem wir den Mut finden, diesen Beruf gegen die Zumutungen des Hochschulalltags in Schutz zu nehmen. 

Anzeige