Winfried Kretschmann - „Aber führen muss man“

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann über das konservative Profil seiner Grünen Partei, über ökologische Marktwirtschaft, den Klimawandel und über politische Führung

Erschienen in Ausgabe
Ein Grüner mit offenem Ohr für die Heimatbedürfnisse der Konservativen: Winfried Kretschmann / picture alliance
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Autoreninfo

Holger Fuß, Jahrgang 1964, lebt als Autor in Hamburg. Er schreibt Reportagen und Interviews über Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen

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Herr Ministerpräsident, Sie haben unlängst geäußert: „Demokratie braucht Führung.“ Aus dem Munde eines 68ers klingt das überraschend, immerhin lehnte die Studentenbewegung jede Autorität ab. Haben ehemals linke Rebellen wie Sie ein neues Verständnis von Macht und Autorität gelernt?
Revolutionäre Bewegungen neigen immer dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das ist ihr Problem. Die 68er waren eine notwendige Bewegung, denn sie haben viel infrage gestellt, zum Beispiel Gehorsam gegenüber jemandem, nur weil dieser ein Amt innehat. Allerdings wurde damit natürlich Autorität an sich infrage gestellt. Aber das ist falsch, denn nur eine Autorität, die hohl ist, die sich nur auf äußerliche Formen stützt, gehört infrage gestellt. Also Autorität, die ins Autoritäre abgleitet. Eine Autorität, die sich legitimiert und für die es gute Gründe gibt, bleibt jedoch unerlässlich – in der Erziehung, in der Gesellschaft, in der Politik.

Ist dies eine Lektion, die Ihre Generation lernen musste?
Wir haben es gelernt, wir sind ja selber in Ämter gekommen. Joschka Fischer als Außenminister oder ich als Ministerpräsident. Man kann in einer modernen Demokratie nur führen, wenn man Menschen überzeugt und sie einem folgen in den Überzeugungen, die man hat. Das bedeutet zu führen. Aber führen muss man.

Führen in dem Sinne, dass Sie die Menschen begeistern?
Ja, es gehört dazu, dass man Menschen für eine Idee begeistert. Wir machen ja eine Politik des Gehörtwerdens und der Bürgerbeteiligung. Dazu gehört aber, dass ich mit einem eigenen Vorschlag und einer eigenen Haltung in die Debatte gehe. Wenn ich ein kollektives Brainstorming in der Republik vom Zaun breche, ertönt zum Schluss nur ein allgemeines Quakkonzert.

Solche Führungsansprüche kennen wir bislang eher von den Konservativen als von den Grünen.
Ursprünglich sind wir Grünen mit der Umweltbewegung auf die politische Bühne gekommen. Natur als Politik – das hat es vorher nicht gegeben. Vor 40 Jahren glaubten die Menschen blindlings an den technischen Fortschritt. Der Erhalt der Schöpfung ist ein konservatives Projekt. Dass ein solches Projekt Sinn macht und wichtig ist, dafür musste man die Menschen erst einmal gewinnen und begeistern. Und erst dann konnte man sie hinter dieser Idee versammeln.


„Heimat ist ein Sehnsuchtsort“
 

Heute versucht die SPD die Grünen basisdemokratisch zu überholen.
Martin Schulz ist gescheitert, weil er keine Führung übernommen hat. Radikale Aussagen machen, dann immer wieder das eigene Handeln widerrufen, um zum Schluss die Basis abstimmen zu lassen – das ist ein irrer Zickzackweg. Schulz ist zweifellos eine gute Persönlichkeit, gerade als Europapolitiker habe ich ihn sehr geschätzt. Aber dass er auf einmal gestrauchelt ist, liegt daran, dass er, aus welchen Gründen auch immer, nicht geführt hat. Das ist das Entscheidende. Auch die Bundeskanzlerin kann die Führung nur zurückgewinnen, wenn sie zuerst ihre eigene Partei und dann die Bevölkerung wieder hinter sich bekommt.

Führung schafft Orientierung. Danach scheinen sich viele Menschen derzeit zu sehnen. Von Sicherheit, Verlässlichkeit, Geborgenheit ist die Rede. Sogar Ihr Parteichef Robert Habeck denkt öffentlich über Heimat nach – ein Begriff, der noch vor kurzem als kitschig und reaktionär verpönt war.
Heimat ist zunächst ein Sehnsuchtsort. Immerhin hat der marxistische Philosoph Ernst Bloch mit Heimat die Erfüllung des Menschlichen beschrieben, eine Erfüllung, die uns in die Kindheit leuchtet. Heimat ist dort, wo wir geprägt werden. Es ist der Ort und die menschliche Umgebung, wo wir Vertrautheit spüren. Ich kann auch in Spanien in eine Messe gehen, wo ich kein Wort verstehe, und bin trotzdem beheimatet, weil mir der heilige Ritus geläufig ist. Oder wenn ich Jürgen Klinsmann im Fernsehen sehe, wie er in Kalifornien sagt: „Die, wo …“ dann ist er sofort mein Landsmann. Der Dialekt ist eine Heimat, die kann man überall antreffen.

Dieses Gefühl der Beheimatung scheint verloren zu gehen in unserer zunehmend schnelllebigen Gegenwart.
Wir erleben derzeit einen gewaltigen Schub von Entgrenzung durch Globalisierung und Digitalisierung. Wo bleibt die Heimat, wenn ich mit dem Smartphone alles Wissen der Welt, jeden Ort der Welt, jede Person sofort präsent sein lassen kann? Oder nehmen Sie unsere Arbeit. Früher hat man einen Beruf erlernt und ihn ein Leben lang ausgeübt. Damals galten Lebensweisheiten wie: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. So ein Spruch gehört heutzutage in den Giftschrank. Wir haben ein Leben lang zu lernen. Auch hier sehen wir eine Entgrenzung, die dem Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit zuwiderläuft.
 

„Das Heimatministerium ist Politkitsch“
 

Dann ist unsere Sehnsucht nach Heimat kein reaktionärer Reflex, sondern eher die Kehrseite unserer Beschleunigungskultur?
Auf jeden Fall halte ich das Bedürfnis nach Behütetsein für legitim. Heimat ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Dazu gehört, wenn man eine bestimmte Musik hört, mit der man aufgewachsen ist – bei mir löst es Heimatgefühle aus, wenn ich „Take Five“ von Dave Brubeck höre. Daran ist gar nichts reaktionär. Oder wenn ich Immanuel Kant lese, fühle ich mich beheimatet. Das sind schließlich universale Werte, die er vertritt. Aber natürlich kann Heimat auch etwas Enges haben. Sie übt im Dorf Sozialkontrolle aus. So schön es sein kann, dort aufzuwachsen.

Das klingt, als würden Sie der CSU den Rang ablaufen wollen.
Nein, darum geht es nicht. Wenn der Seehofer jetzt ein Heimatministerium einrichten will und niemand weiß, was das eigentlich sein soll, dann ist das nichts anderes als Politkitsch. Das Heimatgefühl ist gerade in Zeiten des rasanten Wandels und tief greifender Umbrüche wichtig. Wir brauchen wieder einen stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber benötigen wir dafür ein Bundesministerium? Die modernen demokratischen Gesellschaften des Westens pluralisieren sich. Die Lebensentwürfe der Menschen werden vielfältiger. Dabei gehen traditionelle Verbindlichkeiten verloren und neue Unsicherheiten kommen hinzu. Die Migrationskrise machte diese Verunsicherungen nur sichtbar, entstanden sind sie viel früher.

Was bleibt denn als ultimativer Zusammenhalt in unserer pluralistischen Gesellschaft, als unverbrüchliche Verbindlichkeit – unser Grundgesetz?
Ja. Aber unser Verfassungsstaat lebt nicht aus sich selbst heraus, er speist sich aus Voraussetzungen, die er selbst nicht herstellen kann. Deshalb wird über die Regeln unseres Miteinanders auch so heftig gestritten. In dieser Debatte entdecken wir gerade wieder sogenannte konservative Werte wie Verlässlichkeit, Vertrauen und Vertragstreue.

Warum findet gerade bei den Grünen diese Renaissance des Konservativen statt?
Das ist nicht so überraschend. Wir Grünen haben den Begriff Heimat mit etwas Fundamentalem angereichert, nämlich damit, dass dieser Planet unsere Heimat ist. Dass der Planet als Ganzes unsere unteilbare Heimat ist. Das wissen wir spätestens seit dem ersten Foto der Erde aus dem Weltraum …

… das berühmte Foto aus der Apollo-17-Kapsel anno 1972.
Seitdem wissen wir aber auch, dass diese Heimat hochgradig gefährdet ist. Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber hat gesagt: Der Klimawandel ist wie ein Asteroid, der langsam auf uns zukommt. Und wenn er einschlägt, ist der Planet nicht mehr das, was er vorher war. Das heißt, wenn der Klimawandel die berüchtigten Kipppunkte erreicht, wird es die Erde und die Zivilisation so sehr verändern, dass wir in einem umfassenden Sinn unserer Heimat beraubt werden. Die Leute werden ihr Land verlieren. Es wird Dürreperioden geben. Die Umweltkatastrophen nehmen zu.
 

„Die soziale Marktwirtschaft gehört zu unserer Verfassungsordnung“
 

Das wird mit großen Vernichtungen verbunden sein?
Unsere Heimat wird richtig zerstört! Sie wird auf fundamentale Weise unwirtlich. Deshalb gibt es für die Wirtschaftspolitik ein grünes Paradigma: Wir müssen das Wirtschaftswachstum von Naturverbrauch und Naturzerstörung entkoppeln. Oder umgekehrt gesagt: Wir müssen wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen verbinden. Das ist die große politische Aufgabe für dieses Jahrhundert.

Mehr Heimat, mehr Sicherheit, mehr Geborgenheit für die Menschen bedeutet aber auch eine andere Wirtschaftspolitik.
Die neoliberalen Jahre unter Schröder und Merkel haben das soziale Klima erkalten lassen.
Diese wirtschaftliche Heimat haben wir bereits. Das ist die soziale Marktwirtschaft.

Wir haben die soziale Marktwirtschaft dem Namen nach. Durch die Deregulierungen kommt sie uns zunehmend abhanden.
Ich spreche hier erst mal vom Begriff. Diese ökonomische Heimat, diesen sozialen Frieden hat die junge CDU geschaffen, durch Ludwig Erhard und andere. Da ist Heimat sozusagen neu entstanden. Man hatte die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, die mit zum Faschismus geführt hat. Man wusste, dass der Sozialismus im Stalinismus endet. Und es steckte die Zerstörung von politischer Heimat durch die Nazis in den Knochen. Deshalb wurde die soziale Marktwirtschaft geschaffen – auch als ein Gegenprogramm zum angloamerikanischen Kapitalismus und marktradikalen Ideen, die heute wieder bei Neokonservativen wie Trump fröhliche Urstände feiern.

Sie wollen die soziale Marktwirtschaft mit neuem Leben füllen?
Dieses Modell ist ja vorhanden, es gehört zu unserer Verfassungsordnung. Dazu zählt die Eigenverantwortung genauso wie die Eigentumsverpflichtung für das Gemeinwohl aus Artikel 14 des Grundgesetzes und die soziale Verantwortung für die Schwachen in unserer Gesellschaft. Jetzt geht es darum, das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft unter den Bedingungen von Globalisierung und digitaler Revolution weiterzuentwickeln und mit neuem Leben zu füllen.

Was bedeutet das für einen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg?
Zur Heimat in Baden-Württemberg gehört zum Beispiel der Mittelstand. Wir haben praktisch in jedem Tal einen Hidden Champion, also einen heimlichen Weltmarktführer, zumeist in Familienbesitz. Das gehört zu unserer DNA. Ich habe noch als Kind erfahren, wie auf dem Heuberg, dem ärmsten Teil der Schwäbischen Alb, aus kleinen Schraubenfabriken erfolgreiche Mittelständler entstanden sind. Das ist etwas völlig anderes als Google oder Apple. Das sind keine Monopolisten, die sich wie Kraken über die Welt stülpen. Das sind Leute, die denken nicht an den maximalen Profit, sondern daran, dass ihr Unternehmen auch noch für ihre Nachkommen existieren soll. Die haben eine sehr nachhaltige Philosophie. Es ist eine Form von Wirtschaft, die dort zum gesellschaftlichen Leben dazugehört und Verantwortung übernimmt.
 

„Konservative Ideen zeitgenössisch machen“
 

Das Ländle als Laboratorium für eine Ökonomie, die dem Menschen dient?
Das hat bei uns Tradition. Was ja sehr wenig bekannt ist: Wir haben auch so etwas wie sozialistische Elemente in unserer Wirtschaft, nämlich das Genossenschaftswesen. Jeder Dritte in Baden-Württemberg ist Genosse, also Mitglied in einer Genossenschaft. Dieses Wirtschaftsmodell erfährt derzeit eine richtige Renaissance! In der Energiewende haben sich Energiegenossenschaften gebildet. Jetzt entstehen Seniorengenossenschaften: Die Leute verkaufen ihr Eigenheim im Vorort und ziehen mit anderen in die Stadt, um dort im Alter zusammenzuwohnen.

Früher hätte Ihre Generation so etwas ein Kollektiv genannt.
(Lacht) Das Genossenschaftsmodell ist der ganz alte Gedanke: Alle für einen, einer für alle. Es geht eben nicht nur um Solidarität, sondern auch um Eigennutz. Das heißt, der Einzelne profitiert von der Genossenschaft genauso wie die Gemeinschaft insgesamt. Ich selbst bin Mitglied bei einer regionalen Volksbank. In dieser Genossenschaft kann ich fünf Anteile erwerben, dann ist Schluss. Dadurch ist die Teilhabe breit gestreut unter Tausenden von Mitgliedern und in der Gesellschaft fest verankert. Das ist eine Form des Eingebettetseins in ein unübersichtliches wirtschaftliches Gefüge.

Und mithin ein Stück Heimat.
Aus dem sich sofort Aufgaben ergeben: Ich muss mit der EU streiten, weil Brüssel das Regelwerk, das jetzt für die Investmentbanken nach der Finanzkrise gemacht wurde, auch bei den kleinen Banken anwenden will. Diese Wahnsinnsregulatorik ist für sie eine echte Bedrohung. Dabei waren die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen ein Stabilitätsfaktor in der Finanzkrise.

Es entbehrt nicht der Ironie, wenn Sie solche sozialistischen Wirtschaftselemente als konservative Stabilitätsfaktoren beschreiben.
Was ist denn konservativ überhaupt? Konservativ sind jene Ideen, die die zivilisierte Menschheit schon immer für richtig gehalten hat. Diese Ideen müssen wir immer wieder erneuern und zeitgenössisch machen. Das Christentum ist jetzt 2000 Jahre alt. Und dass der Fremde unser Nächster ist, ist in Wirklichkeit eine höchst konservative Idee. Wir müssen uns immer wieder fragen: Was heißt das in der heutigen Zeit? Was bedeuten so starke Bilder wie vom barmherzigen Samariter oder vom heiligen Martin? Was bedeutet das Teilen heute für uns?

Das berührt Fragen unseres Wertekanons. Manche sprechen von Leitkultur.
Dazu habe ich ein schönes Zitat von dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset gefunden. Ich habe es kürzlich in einer Rede verwendet: „Machen wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns überwiegt der Europäer bei Weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen. Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“
 

„Die Mini-Jobs waren eine richtige Idee“
 

Ortega y Gasset war ein Konservativer und durchaus kein linker Denker.
Genau. Und trotzdem weist er auf unsere europäischen und universalen Werte hin. Auch er empfand Europa als Heimat. Wir haben jetzt mit der Europäischen Union sogar eine politische Form dafür. Deshalb müssen wir das stärken. Und gleichzeitig geht es um dieses sperrige Wort Subsidiarität. Wer macht was am besten? Denke von unten nach oben! Deshalb kommen wir immer wieder in Konflikt mit der EU, wenn sie in unsere kommunale Daseinsvorsorge eingreift. Gemeindefreiheit ist das, was der deutsche Sprachraum in die europäische Freiheitsgeschichte eingebracht hat. Wir nennen das heute kommunale Selbstverwaltung.

Gehört zu dieser Gemeindefreiheit nicht auch die Rekommunalisierung von privatisiertem Gemeinvermögen, von Stadtwerken, Wohnungsbauunternehmen, Krankenhäusern, Stromnetzen, Nah- und Fernverkehr?
Ja, klar.

Das sind doch Allmenden. Dinge, die uns allen gehören.
Die Städte, die ihre Wohnungsbauunternehmen verkauft haben, gründen wieder neue. Daran merkt man, dass die Verkäufe ein Fehler waren. In den großen Städten läuft beim Wohnungsbau viel aus dem Ruder. Die Preise explodieren, weil die Kommunen geschlafen haben. Hätten sie eine Bevorratungspolitik an Boden gemacht in den Zeiten, als die Preise niedrig waren, dann hätten wir das Problem jetzt nicht. Das Vorkaufsrecht der Kommune ist ein mächtiges Instrument. Dann könnte man den Boden in Erbpacht vergeben. Da gibt es viele Modelle.

Stattdessen haben viele Gemeinden Grundstücke verkauft, um ihre Haushalte über die Runden zu bringen.
Das ist eine Fehlentwicklung, und auch wir als Land haben da nicht immer alles richtig gemacht. Die ganze Frage der Wohnungsnot ist ein klares Systemversagen. Es geht da nicht nur um sozialen Wohnungsbau. Auch ganz normale Wohnungen sind heute selbst für Gutverdienende in großen Städten schon schwer aufzubringen, da geht ein Großteil des Gehalts für die Miete drauf. Und für Menschen mit kleinem Einkommen ist es noch schwieriger. Das ist eine zentrale soziale Frage unserer Zeit.

Steht hinter diesen Entwicklungen nicht ein Mangel an Wertschätzung für den Menschen? Ist diese Wertschätzung nicht ein Glutkern von Heimat? Während unser Land immer sozialdemokratischer wurde, kühlte das soziale Klima ab, der Kapitalismus gebärdete sich zunehmend exzessiv, SPD und Grüne führten 2005 mit der Agenda 2010 und Hartz IV eine entwürdigende Armutsmaschinerie ein. Und dies, obwohl die rot-grüne Regierung die Generation von 1968 repräsentierte.
Nein, das sehe ich nicht so wie Sie. In den frühen 2000er Jahren galt Deutschland noch als der kranke Mann Europas. Und heute sind wir Spitze, ein wirtschaftlich erfolgreiches Land, das fast Vollbeschäftigung hat. Das hat mit der Agenda 2010 zu tun. Es ging ja damals um Fördern und Fordern. Das hat alles in allem geklappt – auch wenn wir die sozialen Probleme, die nach wie vor bestehen, nicht ausblenden dürfen. Das Problem war aber der neoliberale Trip, der in der Nachfolge alles aus dem Ruder hat laufen lassen. Denken Sie nur an die Finanzmärkte und durch was diese Krise ausgelöst wurde.

Denken Sie an den Minijobbermarkt und die prekären Arbeitsverhältnisse.
Ja, wir dürfen trotz der hervorragenden Wirtschaftszahlen nicht vergessen, dass es längst nicht allen gut geht und es zahlreiche Menschen mit prekären Jobs gibt, die Schwierigkeiten haben, mit ihrem Einkommen ihre Familie zu ernähren. Da sind Dinge außer Kontrolle geraten. Gleichwohl waren die Minijobs eine richtige Idee. Sie waren jedoch nicht dafür gedacht, dass ganz normale Arbeitsplätze in Minijobs zerlegt werden. Damit missbraucht man eine Idee, die dafür gedacht war, dass Leute sich etwas hinzuverdienen können.

Warum ist daran seit 13 Jahren nichts korrigiert worden? Stattdessen eskaliert die Situation immer weiter.
Es ist oft so, dass man von den eigenen Ideen so begeistert ist, dass man nicht mehr merkt, wenn sie schiefgehen. Wer will seine eigene Idee korrigieren? Der erfolgreichste Wirtschaftspolitiker der Republik, Ludwig Erhard, ist zum Schluss gescheitert. Es ist immer dasselbe: Man hat eine gute Idee, und jede gute Idee hat eben auch Nachteile. Aber die will man dann nicht sehen und dann stürzt die Idee mit um. Das ist immer so in der Politik. Da habe ich lange Erfahrung.

Ist das auch eine Frage der Führung?
Ich sagte ja schon: Gestalten heißt nicht einfach Strohfeuer entfachen. Gestalten heißt, beharrlich an einer Sache dranbleiben und sie durch die Mühen der Ebene tragen. Und man muss immer Maß und Mitte im Blick haben, diese mittlere Linie hinzubekommen, ist das Entscheidende. Das prägt unsere Zivilisation.

Winfried Kretschmann ist seit 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Er zählt zur 68er-Generation und war während seines Studiums in den siebziger Jahren Mitglied einer kommunistischen Studentenorganisation. 1980 gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.











 

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