Wahlrechtsreform - Liebling, ich habe den Bundestag geschrumpft

Der Bundestag wächst und wächst. Ein neues Wahlsystem muss her. Nur welches? Eine einfache Mehrheitsregel à la USA? Unser Gastautor Salvatore Barbaro hat da einen Vorschlag.

Der Bundestag platzt aus allen Nähten – neue Sitze für mehr Abgeordnete / dpa
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Autoreninfo

Prof. Dr. Salvatore Barbaro (45) lehrt und forscht an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz Volkswirtschaftslehre. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Ökonomie und im Fiskalföderalismus. Von 2010-2019 war Barbaro als Staatssekretär in der Landesregierung von Rheinland-Pfalz tätig.

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Der kleinste Kompromiss ist gefunden, die Reform gescheitert. Obschon mit über 700 Abgeordneten der Bundestag eine von allen Seiten attestierte kritische Größe überschritten hat, ist eine Reform des Wahlrechts mit dem Ziel, im nächsten Jahr einen kleineren Bundestag zu wählen, nicht gelungen. Das mag an den sehr weitreichenden Reformvorschlägen liegen, welche auf eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise fokussierten oder das traditionelle System aus Erst- und Zweitstimme in Frage stellten. Soweit dem Bundestag aber auch nicht mehr einfällt, als die Zahl der 299 Wahlkreise zu reduzieren, ist eine rationale Reform nicht aussichtsreich.

Schon heute bereisen viele Abgeordnete ihre Wahlkreise von einem Ende zum nächsten binnen 90 und mehr Minuten. Nicht selten verbringen Sie mehr Zeit im Auto als bei den Bürgerinnen und Bürgern ihres Wahlkreises. Eine Vergrößerung der Wahlkreise stellt diese und die Wahlkreisarbeit zunehmend in Frage.

Es gibt kein perfektes Wahlverfahren

Auf der anderen Seite wächst der Bundestag dann, wenn eine Partei viele Wahlkreise gewinnt – insbesondere, weil sich das eine politische Lager eher auffächert als das andere. Im Zusammenwirken mit dem Verhältniswahlrecht hat dies dazu geführt, dass der Deutsche Bundestag die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von 598 um über 100 Abgeordnete überschritten hat. Eine Reform tut also Not, sie sollte aber an den fundamentalen Ansätzen der Social Choice Theorie ansetzen und nicht am Zuschnitt der Wahlkreise. Jede Form der kollektiven Entscheidung verletzt mindestens eine fundamentale Anforderung an ein demokratisches Verfahren.

Seitdem der Nobelpreisträger Kenneth Arrow 1959 dies in seinem Unmöglichkeitstheorem bewiesen hat, wissen wir: Es gibt kein perfektes Wahlverfahren. Es ist nicht möglich, gleichzeitig alle Präferenzen zu berücksichtigen, das Pareto-Prinzip (Entscheidung dann, wenn Einigkeit besteht) zu beachten und den Wahlausgang so zu organisieren, dass das Ergebnis nicht von (für die Wahl) irrelevanten Alternativen oder Kandidaten abhängig ist. Wenn doch, dann kollabiert jeder Versuch darin, dass die durch den Wahlprozess offenbarten Ergebnisse mit den Präferenzen einer Person zusammenfallen. Eine Diktatur, wie Arrow sie nannte. Jedes Wahlverfahren verletzt mindestens einen Anspruch. In der Konsequenz folgt daraus, dass sich jede Diskussion um das adäquate Wahlverfahren allein nur um die Frage drehen kann, welcher Anspruch am ehesten verzichtbar ist.

Es gewinnt, wer das günstiges Kandidatenfeld hat

Genau an dieser Stelle sollte über eine Reform des Bundestagswahlrechtes diskutiert werden. Es geht dabei nicht um die Frage, ob es direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete geben soll, sondern welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um als solche in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Das Wahlverfahren, welches wir zur Bestimmung der direkt gewählten Abgeordneten einsetzen, verstößt gegen ein zentrales Prinzip einer rationalen Wahlentscheidung: Das Ergebnis hängt in vielen Fällen davon ab, ob Kandidaten antreten, welche nur von einer kleinen Minderheit gewählt werden. Dies führt dazu, dass Personen in den Bundestag einziehen, die einen paarweisen Vergleich mit einigen ihrer Gegenkandidaten verlieren würden. Es kommt nicht zwingend jener in den Bundestag, welcher gegenüber allen anderen Kandidaten bevorzugt wird, sondern jener, der ein günstiges Kandidatenfeld vorfindet.

Die Alternative zu dieser relativen Verhältniswahl ist die einfache Mehrheitswahl. Sie ist das robusteste Wahlverfahren in Bezug auf die Axiomatik einer guten kollektiven Entscheidungsregel. Dabei heißt einfache Mehrheitswahl bei mehr als zwei Kandidaten oder Alternativen, dass paarweise verglichen beziehungsweise abgestimmt wird. Ein Kandidatin der Partei X ist dann gewählt, wenn sie von mehr Wählerinnen und Wählern sowohl vor Kandidat Y als auch vor Kandidat Z gesetzt wird. In diesem Falle ist die Kandidatin eine Condorcet-Siegerin.

Die einfache Mehrheitswahl als Wahlprinzip

Erst jüngst haben die Nobelpreisträger Eric Maskin und Amartya Sen leidenschaftlich für die einfache Mehrheitswahl als Wahlprinzip für die Vorwahlen im US-Präsidentschaftswahlkampf geworben (und dabei aufgezeigt, dass nach diesem Verfahren Donald Trump nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre). Maskin selbst hatte gemeinsam mit Partha Dasgupta 2017 gezeigt, dass die einfache Mehrheitswahl gemessen an den Anforderungen an einen Wahlprozess allen anderen Wahlverfahren überlegen ist.

Doch was spricht eigentlich trotz der klaren und unumstrittenen Überlegenheit der einfachen Mehrheitsregel gegen sie? Es ist schlicht ein Phänomen, welches der Marquis de Condorcet Ende des 18. Jahrhunderts schon feststellte: Es gibt Konstellationen, bei denen die einfache Mehrheitswahl keinen (eindeutigen) Sieger hervorbringt. Ein Drittel der Wähler präferiert X vor Y vor Z, ein zweites Drittel Y vor Z vor X und das letzte Drittel Z vor X vor Y. Keiner der drei Kandidaten würde zwei paarweise Vergleiche gewinnen, es gäbe also keinen Condorcet-Sieger. Angewendet auf die Wahl des oder der Wahlkreiskandidat/in bedeutet dies: aus der Wahl geht niemand hervor, der oder die das besondere Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger seines, beziehugsweise ihres Wahlkreises ausgesprochen bekommen hat. Warum sie oder er dann dennoch zwingend in den Deutschen Bundestag einziehen muss – wie dies das Bundestagswahlrecht verlangt –, ist keine triviale Frage.

Jedes Wahlverfahren hat einen Nachteil

Dieser Mangel an Entschiedenheit mag als Nachteil der einfachen Mehrheitswahl gesehen werden, aber ein Grund, sie auszuschließen, ist dieser Mangel nicht. Denn jedes Wahlverfahren muss einen Nachteil haben, wie Arrow vor Jahrzehnten und seither eine Reihe weiterer Forscherinnen und Forscher immer wieder nachgewiesen haben. Insofern hat die einfache Mehrheitswahl zwar auch einen Mangel (es bringt nicht zwingend einen klaren Sieger hervor), aber es hat dafür nicht den schwerwiegenden Mangel der relativen Mehrheitswahl, bei der das Wahlergebnis vom Kandidatenumfeld abhängig ist. Würde man also die Wahlkreiskandidaten durch die einfache Mehrheitswahl bestimmen, dann würden einige Wahlkreise nicht mit direkt gewählten Abgeordneten vertreten sein. Immer dann nämlich, wenn es in einem Wahlkreis keinen klaren Sieger gibt, keine Condorcet-Sieger.

Im Übrigen wäre ein Wahlkreis nicht deshalb automatisch nicht im Bundestag vertreten, weil es keinen direkten Wahlkreisabgeordneten gibt. Dafür gibt es schließlich die Abgeordneten, welche über die Landeslisten in den Deutschen Bundestag einziehen. Gibt es keinen Condorcet-Sieger, dann kann der Wahlkreis über einen oder mehrere Listenabgeordnete vertreten werden. Oder eben zeitweise durch Abgeordnete, welche einen Wahlkreis übergangsweise mitbetreuen, was schon heute immer wieder der Fall ist – etwa, weil in der Legislaturperiode Abgeordnete ausscheiden.

Wählen in Reihenfolge

Die Implementierung der einfachen Mehrheitswahl ist denkbar einfach: die Wählerinnen und Wähler kreuzen nicht eine Kandidatin oder einen Kandidaten an, sondern bilden eine Reihenfolge (etwa die Plätze 1-3). Die Auszählung bringt hervor, wer gegenüber wem mehr Zuspruch erfahren hat. Der zusätzliche Aufwand ist verglichen mit dem Aufwand bei Kommunalwahlen eher vernachlässigbar.

Würde man so verfahren, also für die Wahl der Wahlkreisabgeordneten die einfache Mehrheitswahl anwenden, würde sich aller Voraussicht nach die Zahl der Ausgleichs- und Überhangmandate deutlich reduzieren und das Ziel eines verkleinerten Bundestages wäre durch ein besseres Wahlverfahren erreicht. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Das derzeitige Wahlsystem begünstigt insbesondere eine Partei, deren Anzahl der direkt gewählten Abgeordneten würde voraussichtlich sinken. Dadurch sinkt der Bedarf an Überhang- und Ausgleichsmandaten. Diese sinken aber auch schlicht dadurch, dass durch weniger direkt gewählte Wahlkreisabgeordneter tendenziell auch weniger auszugleichen ist.

Direktmandate könnten bleiben

Was aber, wenn die Politik von dem Grundsatz, wonach in jedem Wahlkreis ein und genau ein Kandidat als Sieger hervorzuehen hat, nicht abweichen will? Selbst dann könnte die einfache Mehrheitswahl dazu führen, dass der Bundestag verkleinert wird und das Wahlverfahren verbessert wird. Im Falle einer unklaren Präferenz für einen der Kandidaten würde dann hilfsweise und nachrangig wieder die relative Mehrheitswahl zum Tragen kommen. Eine Notlösung und eher ein geeignetes Verfahren zur Bestimmung kommunaler Ämter wie Bürgermeister, denn ein zweiter Wahlgang für eine Stichwahl, wie wir sie heute mit in der Regel bescheidenen Wahlbeteiligungen erleben, würde entbehrlich werden.

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