Villa Semmel - Der Raubbau

Die Villa Semmel in Berlin-Dahlem, einst einem jüdischen Kaufmann entrungen, beherbergt heute die irakische Botschaft – ohne Hinweis auf das Schicksal des einstigen Hausherrn. Das muss sich ändern, nicht nur in diesem Fall

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Die Villa Semmel in Berlin-Dahlem / picture alliance
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Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Zu den schönsten Villen Berlins gehört die Immobilie an der Pacelliallee 19/21. Es handelt sich um ein schlossartiges Haupthaus, bei dem der Architekt alles berücksichtigt hatte, was die Harmonielehre hergab. Das ganze Anwesen, einschließlich Nebengebäuden, wirkt vornehm, aber nicht protzig. 

Damit hebt es sich von vielen eher pompösen Villen im Nobelstadtteil Dahlem im Südwesten Berlins ab. Das Gebäude zieht die Blicke von Passanten unweigerlich an und erregt Aufmerksamkeit in seiner Eleganz. Nichts erinnert an den Hausherrn mit dem distinguierten Geschmack, der hier 1926 einzog: Richard Semmel, vermögender Jude und schon vor 1933 im Visier der Nationalsozialisten. Eine vor dem Haus wehende Flagge gibt hingegen Auskunft über den heutigen Hausherrn. Es ist Dhia Hadi Mahmoud al Dabbass, der Botschafter des Irak in Deutschland. 
Sarkasmus der Geschichte: In einer Villa eines vertriebenen und weitgehend um seinen Besitz gebrachten Juden amtiert heute der Statthalter eines Staates, der sich im Unterschied zu den anderen Angreifern von 1948 bis heute völkerrechtlich im Kriegszustand mit dem Staat Israel befindet. Oft erinnern heute Stolpersteine an das Schicksal der jüdischen Voreigentümer. Vor der Botschaft des Irak liegen keine Stolpersteine. Keine Gedenkstele erinnert an das Schicksal ihres Erbauers, Richard Semmel.

Die Ausplünderung und Vertreibung von Juden gehörte zu den frühesten Zielen des NS-Regimes. Schon lange vor 1933 wurden insbesondere vermögende Juden für alle möglichen Missstände in der Welt verantwortlich gemacht. Als Adolf Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, schlug deutschen Juden die volle Wucht antisemitischen Hasses entgegen. SA-Schläger verprügelten sie auf der Straße und lauerten vor ihren Häusern; eigene Mitarbeiter mit ­NSDAP-Parteibuch wiegelten Belegschaften auf. Der Staat schützte seine jüdischen Bürger nicht, sondern erließ im Gegenteil in kurzer Folge Diskriminierungs- und Ausplünderungsgesetze. Juden, die vor der Auswanderung ihren Besitz verkaufen mussten, zahlten auf die Erlöse die üblichen Steuern sowie die schrittweise deutlich erhöhte Reichsfluchtsteuer, außerdem bald die sogenannte Judenvermögensabgabe und der als Dego-Abgabe bezeichnete Abschlag auf Vermögenstransfer ins Ausland. Insgesamt verlangte der Staat durch die Dego-Abgabe anfangs weitere 20 Prozent, schließlich zu Kriegsbeginn bis zu 96 Prozent des noch verbliebenen Vermögens. Der Rest reichte oft nicht, um die Einreisebewilligung eines anderen Staates zu erhalten. Die deutschen Juden saßen in der Falle und waren zunehmend vogelfrei. 

Selfmade-Millionär Semmel

Auch dem Fabrikanten Wilhelm Kühne war nicht entgangen, dass edle Liegenschaften in den besten Lagen günstig zu haben waren, wenn man es den Umständen der Zeit entsprechend anstellte. In achter Generation war er Gesellschafter jenes Unternehmens, das heute noch als Carl Kühne KG für seinen Essig und weitere Lebensmittel bekannt ist. Die Firma stand nach der Weltwirtschaftskrise vergleichsweise gut da. Wilhelm Kühne suchte einen repräsentativen Lebensmittelpunkt.

Sein Blick fiel auf die von Richard Semmel erbaute Villa. Der 1875 geborene Sohn eines Getreidehändlers hatte sich nach seiner Lehre in der Wäschefabrik von Arthur Samulon hochgearbeitet. 1919 konnte er das Unternehmen einschließlich der Arthur Samulon Grundstücksgesellschaft übernehmen. 1922 erwarb Semmel das Grundstück in der Cecilienallee 19/21, wie die Pacelliallee damals hieß. Nach vier Jahren Planungs- und Bauzeit hatte der Architekt Adolf Wollenberg das prächtige Anwesen 1926 fertiggestellt. Mit Semmel und seiner Familie zogen auch die Werke bekannter Künstler wie Renoir, van Gogh, Pissarro und Gauguin in das Haus. Der Selfmade-Millionär Semmel galt als einer der wichtigsten Kunstsammler in Berlin. 1932, Semmel war 57 Jahre alt, wurde er in die Berliner Industrie- und Handelskammer gewählt. Das Schicksal hatte ihn in die Spitze der Berliner Gesellschaft geführt.

Doch er erkannte die Gefahr des braunen Mobs in den Straßen. Semmel berichtete, wie er „buchstäblich Tag und Nacht mit Drohungen telefonisch und schriftlich bombardiert“ wurde. „Unflätige Zettel kamen täglich in meine Wohnung – es war eine von der Nazipartei organisierte Hetze mithilfe der aufgepeitschten Angestellten.“ 

Kühne war am Ziel

Nach dem 30. Januar 1933 reiste Richard Semmel in Sorge um seine Familie sofort aus St. Gallen nach Berlin. Er berichtete: „Ich wurde schon auf dem Bahnhof bei der Ankunft gewarnt, in meine Wohnung zu gehen, sodass ich ein Zimmer in dem Hotel in der Fasanenstraße nahm. Wie richtig diese Maßnahme war, sollte sich bald zeigen, denn im Geschäft spielten sich die Vertrauensleute der Nazis als Herren auf und es kam so weit, dass ich im letzten Moment nach Holland entkam.“ Semmel versuchte zu retten, was zu retten war. Er wartete zunächst in Amsterdam die weitere Entwicklung ab. Nach einem Jahr war ihm klar, dass eine Rückkehr nach Berlin zu gefährlich war und ein Verkauf seiner Liegenschaften zu einem annähernd fairen Preis ausgeschlossen. Er beauftragte seinen Berliner Anwalt im Juli 1934 mit dem Verkauf seiner Villa in der Cecilienallee. Wilhelm Kühne schlug zu. 

Kühne war am Ziel. Er hatte nicht nur eines der schönsten Häuser in der Stadt gekauft, sondern dafür auch nur 170 000 Reichsmark gezahlt, obwohl es mehr als eine Million wert war. Der Kaufpreis entsprach genau den Steuern und Maklerkosten sowie der Ablösung einer Grundschuld. Richard Semmel bekam nicht eine Mark. Semmels Vermögensverlust war der Grund, weshalb das Finanzamt später in einem höchst ungewöhnlichen Vorgang auf Zahlung von Reichsfluchtsteuern in Höhe von 204.975 Reichsmark verzichtete. Auch Teile der wertvollen Kunstsammlung mussten weit unter Preis verkauft werden. Vom Erlös erhielt der Kunstsammler allenfalls Bruchteile. 

Anspruch auf Immobilien verjährt

Fast mittellos floh Richard Semmel im Frühjahr 1940 derweil vor dem deutschen Einmarsch in die Niederlande weiter. Bis nach New York, wo er 1941 schwer erkrankt eintraf. Im Mai 1942 wurde Semmel aus dem Deutschen Reich offiziell ausgebürgert. Dadurch wurden alle in Deutschland verbliebenen Vermögensgegenstände beschlagnahmt. Er hatte sein nacktes Leben gerettet; Semmels Bruder und seiner Schwägerin erging es noch schlimmer: Sie wurden in Auschwitz ermordet.

Nach dem Krieg bemühte sich Richard Semmel, eine Entschädigung für sein verlorenes Vermögen zu erlangen. Doch das schlug fehl. Ein einziges Gemälde aus seiner Sammlung erhielt Semmel zurück – kurz vor seinem Tod am 2. Dezember 1950. 

Seit rund zwei Jahrzehnten befasst sich der auf Restitution spezialisierte Schweizer Rechtsanwalt Olaf Ossmann mit den verlorenen Vermögensgegenständen Richard Semmels für dessen Erben. 2005 gelang in den USA eine Entschädigung, 2007 wurde in den Niederlanden das erste Bild zurückgegeben. Im Juni 2019, 85 Jahre nach Semmels Flucht, gelang eine Einigung über das 22. Bild aus seiner Sammlung, die weit mehr als hundert Bilder umfasst hatte. Doch diese 22 Bilder entsprechen nur einem Bruchteil von Semmels Vermögen. Denn die dafür einschlägigen Wa­shingtoner Prinzipien von 1998 gelten nur für Kulturgüter; Ansprüche auf Restitution von Immobilien sind seit Jahrzehnten verjährt.

In 20 Jahren hat sich der Kaufpreis verelffacht

Ossmann sagt, für Semmel und seine Familie seien die Wiedergutmachungsverfahren um seine Villa nach 1945 „eine Art zweite Enteignung“ gewesen. Im damaligen Verfahren hätten weder er noch seine Erbin Grete Gross gegen den Nachlass des mächtigen Senffabrikanten eine reale Chance gehabt. „Wir sind es beiden schuldig, diesen Fehler, soweit wir es heute überhaupt können, zu korrigieren, indem wir an diesem Ort an das Schicksal und die vergebene Chance einer Wiedergutmachung erinnern.“

Wilhelm Kühne hatte vom Antisemitismus während des NS-Regimes profitiert und anschließend vom beginnenden Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Seine Witwe Therese verkaufte die Liegenschaft in Dahlem 1955 an die Katholische Schwesternschaft Aquinata in Berlin, deren Gründerin Gertrud van den Beek den Kaufvertrag unterzeichnete. Schwer vorstellbar, dass sie die Vorgeschichte der Liegenschaft nicht kannte. Noch weniger ist vorstellbar, dass sie nicht wusste, dass Juden derartige Liegenschaften zu einem Bruchteil ihres Wertes abgeben mussten. Im Erzbistum Berlin zeigt man sich heute über die Geschichte des Hauses erstaunlich gut informiert, bis hin zur Nutzung vor dem Erwerb. Auf der Homepage der Schwesternschaft findet sich hingegen einzig der lapidare Hinweis, dass man 1955 hier ein Hospital eröffnet habe.

Die katholische Schwesternschaft zahlte Therese Kühne 200.000 Mark, was gemäß dem Umstellungskurs bei der Währungsreform zwei Millionen Reichsmark entsprochen hätte. In rund 20 Jahren hatte sich der seinerzeitige Kaufpreis rund verelffacht. 

Keine Stolpersteine

Als Stefan Leitz, der heutige Vorsitzende der Geschäftsleitung der Carl Kühne KG, vor einigen Tagen erstmals von dem Sachverhalt erfuhr, zeigte er sich sehr betroffen: „Wir nehmen diese neuen Erkenntnisse zum Anlass, den Vorgang gemeinsam mit unseren Eigentümerfamilien genauer zu untersuchen und auch die Geschichte unseres 1722 gegründeten Familienunternehmens in dieser Zeit zusammen mit Experten intensiv aufzuarbeiten. Ganz konkret und im nächsten Schritt würden wir uns freuen, eine einordnende Gedenkstele vor der Villa Semmel aufstellen zu dürfen.“

Nach einigen Jahren als Hospital verkaufte die Schwesternschaft die Villa Semmel weiter. Sie ging dann durch verschiedene Hände. Zuletzt gehörte sie dem 2007 aufgelösten Finanzunternehmen Göttinger Gruppe. Ein Immobilienunternehmen ersteigerte sie aus der Insolvenzmasse und verkaufte sie weiter an die Republik Irak, die hier 2010 ihre Botschaft eröffnete.

Jüngst wurde ein Stolperstein für Richard Semmel gestiftet. Er soll vor dem Eingang der Botschaft an Semmel erinnern. Rechtlich ist das kein Problem. Berliner Landesgesetze erlauben die Verlegung im Bürgersteig vor jedem Gebäude in der Stadt. Doch das ist keine Garantie für eine Verlegung vor der Villa Semmel, wie sich 2015 an einem anderen markanten Gebäude unweit der Villa Semmel beispielhaft zeigte: dem ehemaligen Anwesen des jüdischen Fabrikanten Hugo Heymann in der Pücklerstraße in Dahlem. Er war Semmels direkter Nachbar, bevor dieser in seine neu erbaute Villa in der Pacelliallee zog. Unter dem Druck drohender Verfolgung verkaufte Heymann sein prächtiges Anwesen weit unter Wert an den Verleger Waldemar Gerber. Immer neue Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Regimes verzögerten den Verkauf seiner weiteren Liegenschaften, bis es zu spät war. Im Gegensatz zu Semmel gelang es Heymann nicht mehr, Deutschland lebend zu verlassen. Hugo Heymann starb nach brutalen Gestapo-Verhören. Die Erben des fördernden SS-Mitglieds Gerber hatten die Villa nach dem Krieg verkauft; seit 1962 diente sie der Bundesregierung als Gästehaus in Westberlin. Seit 2004 wohnt hier der jeweilige Bundespräsident. Die Verlegung eines Stolpersteins für Hugo Heymann vor seinem früheren Haus in der Pücklerstraße wurde kurzfristig abgesagt, weil nicht alle Beteiligten dies für eine gute Idee hielten. 

Staat muss Vorbildfunktion ernst nehmen

Nachdem der Fall 2017 öffentlich geworden war, entschied das neu gewählte Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier, er werde nicht eher einziehen, bevor nicht Einvernehmen über das Gedenken an Heymanns Schicksal hergestellt sei. Mit Sensibilität wird seither das Schicksal des 1938 nach einem Gestapo-Verhör gestorbenen Hugo Heymann aufgearbeitet. 2018 enthüllte der Bundespräsident dann eine Gedenkstele vor seiner Dienstvilla. Eine beispielgebende Vorgehensweise des Staatsoberhaupts. 

Zu den zentralen Aufgaben eines jeden Staates gehört die Schaffung einer Rechtsordnung, die an sich ändernde Wertvorstellungen anzupassen ist. Natürlich muss der Staat darüber wachen, dass die jeweiligen Regeln eingehalten werden. Der Staat ist Vorbild für das Handeln in der Gesellschaft – dies gilt auch für staatliche Liegenschaften. Noch gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende Immobilien der öffentlichen Hand, die Juden in der NS-Zeit wegen drohender Verfolgung weit unter Wert abgeben mussten oder die beschlagnahmt wurden. Fraglos sind alle Restitutionsansprüche verjährt. Weder müssen die öffentlichen Eigentümer eine Rückforderung fürchten noch eine Entschädigung zahlen.

Wenn der Staat jedoch seine Vorbildfunktion ernst nehmen will, muss er prüfen, ob und wie sich Verantwortung manifestieren kann. Ein Schild an der Hauswand, eine einordnende Stele oder eine kleine Ausstellung über die Geschichte des Gebäudes und seine jüdischen Voreigentümer: Das Spektrum der Möglichkeiten ist breit, ebenso wie das Spektrum der Schicksale der vertriebenen, oft ermordeten früheren Eigentümer. Die Rechtslage ist dabei eindeutig. Stolpersteine dürfen in Berlin in jedem Fall verlegt werden. Eine Stele muss die zuständige Bezirksbehörde genehmigen. 

Irakische Botschaft schweigt

Seit Mai 2018 ist Felix Klein Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Für ihn ist die Sache klar: „Eine einordnende Gedenkstele und ein Stolperstein vor der Villa Semmel wären wichtige Signale in Zeiten lauter werdenden Antisemitismus in Deutschland.“ 

Bisher schweigt die irakische Botschaft trotz mehrfachen Nachhakens zur Frage eines öffentlich sichtbaren Hinweises auf den früheren Hausherrn an ihrem Dienstsitz. Jenseits des Verhaltens des heutigen Eigentümers stellen sich aber weitere übergeordnete politische Fragen. Der Bund etwa könnte mit gutem Beispiel vorangehen und eine eigene Fachstelle für solche Fälle im Bundesbauministerium ansiedeln. Eine Stelle, in der alle Bundesbehörden ihre vor 1945 gebauten Liegenschaften zur Überprüfung ihrer Eigentümergeschichte melden. Ein Kreis externer Spezialisten würde diese Immobilien dann kategorisieren – von „legal erworben“ bis „hoch belastet“. Wissenschaftler der örtlichen Universitäten, außerdem Bürgerinitiativen und natürlich Lokalhistoriker können dann gemeinsam mit den Behörden in den problematischen Liegenschaften jene Formen des Gedenkens auswählen, die vor Ort sinnvoll sind. Felix Klein hält das für eine gute Idee: „Denkbar wäre, Experten aus Universitäten und Wirtschaft hinzuzuziehen, um die neue Stelle überschaubar und flexibel zu halten.“ Im Grundsatz habe diese Idee jedenfalls „viel Charme“.

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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