Verfassungsrichterin Borchardt - Der Skandal von Schwerin – und Merkels Beitrag

Wer Probleme mit dem Grundgesetz hat, sollte nicht Verfassungsrichterin werden wollen. Doch in Schwerin scheint genau das passiert zu sein. Barbara Borchardt von der Linkspartei ist dort dazu gewählt worden - mit Stimmen der CDU. Warum macht Merkel diesen Vorgang nicht „rückgängig“?

Barbara Borchardt: Kämpferische Antikapitalistin und Verfassungsrichterin / dpa
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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So schnell werden akademische Debatten zu politischen Fragen mit Sprengstoff: Gibt es Freiheit ohne Kapitalismus, gibt es Sozialismus mit Freiheit? Musste die DDR 1961 eine Mauer bauen? Haben Gerichte in Demokratien eine politische Agenda? Kann man eine Verfassung schützen, deren Geist man kritisiert? Wie lange sind Parteien an Unvereinbarkeitsbeschlüsse gebunden? Hat der Kommunismus eine Chance verdient? Sollte die CDU ihm diese Chance geben? All das und noch mehr sind die Fragen nach dem Skandal von Schwerin: Dort wurde eine überzeugte Sozialistin und Antikapitalistin an das Verfassungsgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern berufen – mit Stimmen von CDU und SPD.

Das Wort vom Tabubruch wird schnell im Mund geführt. Man sollte mit ihm sparsamer verfahren. Ein Skandal ist die Wahl von Barbara Borchardt allemal. Die 64-jährige Diplomjuristin, der eine „Kaderkarriere in der SED“ gelang – so die ebenfalls in der DDR aufgewachsene Generalsekretärin der FDP, Linda Teuteberg –, gehört jener Gruppierung innerhalb der Linkspartei an, der die Linkspartei nicht links genug ist. In der „Antikapitalistischen Linken“ sammeln sich die Befürworter einer Totalopposition, die nichts außer der (Wieder-)Einführung des Sozialismus gelten lassen. Gemeinsame Regierungsverantwortung ist in dieser Perspektive des Teufels: Ein „linkes Lager mit SPD und Grünen“ gebe es nicht, „wer dies immer wieder behauptet, will sich diese Partnerinnen schönsaufen und sich selbst politisch in die Pfanne hauen.“ In der Corona-Krise präsentiere sich die Linkspartei durch ihr staatstragendes Auftreten als „Retterin des Kapitalismus“. So steht es in zwei aktuellen Beiträgen auf der Website der „Antikapitalistischen Linken“.

Radikalität ist nicht verboten

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Man kann es wie Barbara Borchardt für einen „Irrtum“ halten, dass diese radikale Gruppierung vom Bundesverfassungsschutz beobachtet und als extremistisch eingestuft wird. Radikalität ist nicht verboten. Doch wenn man den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes misstraut, sollte man nicht unbedingt Verfassungsrichterin werden wollen – schon aus Gründen der inneren Linientreue: Macht eine kämpferische Antikapitalistin sich dadurch nicht zum Büttel eines Systems, das sie ablehnt? Kann es ihr gelingen, den Landesverfassungsschutz den Händen der Feinde zu entwinden und in ein Schwert der Werktätigen zu verwandeln? Auf ein solches Verhör wird sich die neue Richterin im Kreis ihres Herkunftsmilieus einstellen müssen.

Uns Außenstehende treiben andere Fragen um. Borchardt hält daran fest, Antikapitalismus und Verfassungstreue stünden nicht im Gegensatz. Stimmt das? So einfach sind die Dinge nicht. Natürlich findet sich im Grundgesetz kein Artikel, wonach die Bundesrepublik ein Staat mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung sei. Aber alle Einzelbestimmungen laufen auf eine solche Verfasstheit zu. Marktwirtschaft, Eigentums- und Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit und Subsidiarität lassen sich nur verwirklichen bei freiem Unternehmertum, gewinnorientiertem Handeln und individueller Verantwortung für das eigene Tun. Eigentum kann nur verpflichten, wenn es Privateigentum gibt.

Verklärung der DDR

Die „Antikapitalistische Linke“ will die große Umschmelzung bestehender Geschäftsbeziehungen, will „kapitalistische Eigentumsverhältnisse“ nicht länger gelten lassen. Ohne Enteignungen im großen Stil, ohne Rückabwicklungen von Verträgen und Zwangsmaßnahmen gegen fast alle, die etwas ihr Eigen nennen, wird das nicht gehen. Kurz und knapp und in den Worten des Verfassungsrechtlers Michael Brenner aus Jena: „Diese Frau steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes.“

Nicht minder bedrückend ist die Verklärung der DDR, an der sich Borchardt noch im Jahr 2011 beteiligte. Damals unterzeichnete sie ein Positionspapier, wonach der Bau jener Mauer, an der 327 Menschen den Tod fanden, für die Regierungen in Moskau und Ost-Berlin ohne vernünftige Alternative gewesen sei, alternativlos gewissermaßen. Die Mauer musste sein, heißt das. So falsch es ist, die Linkspartei pauschal als Partei der Mauerschützen zu denunzieren – so richtig ist es nun, die Partei des Mauerbaus entstellt zu sehen zur Hüterin einer Verfassung, deren Sinn sie nicht begreift und deren Zweck sie ablehnt.

Das Grundgesetz ist kein Ausdruck von Siegerjustiz

Warum hoben die Schweriner Fraktionen von CDU und SPD eine derart stramme Sozialistin in ein Amt, für das sie nicht qualifiziert sein kann? War es wirklich nur „Posten-Geschacher“? In den Reihen beider Parteien sollen sich genügend Menschen finden, die aus eigener Erfahrung wissen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war und das Grundgesetz kein Ausdruck von Siegerjustiz ist.

Die Bundes-CDU traf sogar einen doppelten Unvereinbarkeitsbeschluss, der nun faktisch nicht mehr gilt. Womit wir bei der Kanzlerin gelandet wären. Angela Merkel drang bekanntlich im Februar aus dem fernen Südafrika darauf, die freie Wahl eines thüringischen FDP-Abgeordneten zum neuen Ministerpräsidenten „rückgängig“ zu machen, weil für diesen – er hieß Kemmerich – AfD und CDU gemeinsam gestimmt hatten. Und so kam es dann auch. Für Merkel war die Wahl Kemmerichs „ein einzigartiger Vorgang“ gewesen, der „mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen“ habe.

Die Schleusen sind offen

So wurde die Kanzlerin zur Königsmacherin Bodo Ramelows, des eigentlich abgewählten Amtsinhabers von der Linkspartei. Nun schweigt Angela Merkel zum Skandal von Schwerin, auch ihr Generalsekretär Ziemiak schweigt, auch Parteichefin Kramp-Karrenbauer schweigt. Wo sind sie hin, die „Werte und Überzeugungen der CDU“? Faktisch und von höchster Stelle wurde der Unvereinbarkeitsbeschluss halbiert. Künftig soll die CDU mit der Linkspartei zusammenarbeiten dürfen, nicht aber mit der AfD. Warum eigentlich? Der Damm nach links ist gebrochen, Merkel hat ihn unter Wasser gesetzt. Weshalb soll er nach rechts weiterhin gelten? Wer einer „Linksextremistin“ (CSU-Generalsekretär Markus Blume über Borchardt) zum nächsten Karriereschritt verhilft, dürfte auch keine Skrupel verspüren, mit der „völkischen und nationalistischen AfD“ (Paul Ziemiak) zu paktieren. Die Schleusen sind offen. Alles ist möglich.

Die Koordinaten im Parteiensystem verschieben sich rapide: Aus dem antitotalitären wurde ein antifaschistischer Konsens. Aus dem Kampf gegen Extremismus wurde ein Kampf gegen rechts. Aus dem Bekenntnis zur Mitte eine Toleranz des linken Rands. Aus einer konservativen eine Wir-können-mit-fast-allen-Partei. In diesen Tagen kann die DDR vor Kraft kaum gehen. Sie lebt weiter in den Köpfen. Und auf Richterbänken.

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