Verfassungsbeschwerden der Witwe von Helmut Kohl - Die verlorene Ehre des Altkanzlers

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Woche zwei Verfassungsbeschwerden der Witwe von Helmut Kohl nicht angenommen. Im Verfahren ging es um verletzte Persönlichkeitsrechte im 2014 erschienenen Buch „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ von Heribert Schwan und Tilman Jens. Dass die Autoren Interviewpassagen verfremdet und verfälscht haben, steht außer Frage. Aber in Deutschland gilt jetzt laut der höchsten Gerichtsbarkeit: Selbst schuld, wer vor Rechtskraft des Urteils stirbt.

Heribert Schwan bei der Präsentation des umstrittenen Kohl-Buchs im Oktober 2014 in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Helmut Kohl: Sie waren doch dabei, wie die Volksabstimmung verlangt worden ist über die Nachrüstung. 

Jens Peter Paul: Ja, schon, aber ich habe nicht im Bonner Hofgarten mitdemonstriert. 

Kohl: Das zeigt ja nur, dass Sie einen Rest von Verstand schon damals hatten. 

Paul: Oder ich hatte keine Zeit – ich weiß es nicht mehr! (beide lachen)

Allzu empfindlich durfte man nicht sein, wenn man als Journalist oder auch in einer anderen Rolle, nunmehr als Forscher, den Versuch wagte, ein halbwegs sinnvolles Gespräch mit diesem Bundeskanzler zu führen. Zumal Helmut Kohl in den Redaktionen ohnehin als „uninterviewbar“ galt und die Grammatik seiner Äußerungen als schwierig, was sich spätestens beim Transkribieren zeigte. In so gut wie jeder Frage – soweit man diese überhaupt bis zu Ende formulieren durfte – witterte er mit Fortschreiten seiner Karriere eine Falle und Voreingenommenheit, ja Feindseligkeit. Fiel ihm in Anwesenheit öffentlich-rechtlicher Sender oder gar Hamburger Magazine eine – wie er fand – besonders schlaue Antwort ein, ergänzte er gerne „Aber des bringen Sie jetzt ja sowieso net“ und rief sicherheitshalber noch ein paar aus seiner Sicht nicht ganz so unzuverlässige Kollegen herbei.

Von Manfred Buchwald, später Intendant des Saarländischen Rundfunks, stammt die Erzählung, das Verhältnis Kohls zum damaligen Heimatsender Südwestfunk habe ungewollt 1963 durch einen bösen Zwischenfall einen ersten schweren Knacks erlitten. Als 27-jähriger TV-Reporter wollte Buchwald den frischgebackenen Chef der Mainzer CDU-Landtagsfraktion zuhause interviewen. Sein Team hatte alles schön ausgeleuchtet mit dem damals bereits obligaten Aquarium als besonderem Blickfang. Doch mitten in der Aufzeichnung tat es plötzlich einen Schlag, Funken sprühten, und alle saßen im Dunkeln. Als das Licht wieder da war, schwammen die Fische kieloben. Eine Lampe war ins Wasser gefallen, und der Hausherr, 33 Jahre alt, verständlicherweise restlos bedient.

Besser wurde es mit Kohl und den Medienleuten in den folgenden Jahrzehnten nicht; im Gegenteil. Es blieb bis zuletzt kompliziert. 

Doch es gab verblüffende Ausnahmen. Etwa jenen 14. März 2002, von dem der eingangs wiedergegebene Dialog stammt. Dreieinhalb Jahre nach seiner Niederlage gegen Gerhard Schröder und zehn Wochen nach der Einführung des Euro-Bargelds hatte der Altkanzler Wind davon bekommen, dass mir einige jüngere CDU-Abgeordnete für meine Dissertation zur Entstehungsgeschichte des Euro berichtet hatten, Kohl habe 1997 angesichts erheblicher Defizite im Bundeshaushalt und mehrerer Konflikte in seinem Kabinett geschwankt und gezweifelt, ob es ihm noch gelingen werde, die finale Phase der Euro-Einführung durchzustehen und den ohnehin bereits um zwei Jahre verschobenen Starttermin wenigstens zum 1. Januar 1999 unfallfrei zu erreichen. Ausgerechnet Deutschland drohte gleich zwei der von der Bundesregierung selbst mühsam im Jahr zuvor gegen Italien und Frankreich durchgesetzten Beitrittskriterien zu verfehlen.

„Das wäre vielleicht das Ende des Euro gewesen“

Eine Sanierung des Etats etwa zu Lasten der Sozialausgaben galt der CDU/CSU-FDP-Koalition als unmöglich, denn sie hätte den in Sachen Währungsunion ohnehin fragilen Burgfrieden mit der SPD zerstört, während mit der FDP keine „Steuererhöhungen für den Euro“ zu machen waren. In dieser Lage seien, so meine damalige Information aus der Unionsfraktion, 14 besonders europabegeisterte Abgeordnete zum Außenpolitiker Karl Lamers und dem Fraktionschef Wolfgang Schäuble gegangen und hätten sie beschworen, sie müssten „jetzt die Fraktion und auch Kohl bei der Stange halten. Wenn die Union jetzt einbricht... Das wäre dann vielleicht das Ende des Euro gewesen.“

Diese Schilderung wollte der Altkanzler nicht stehen lassen; deshalb bat er mich überraschend im März 2002 nach mehreren Anläufen doch noch zum Gespräch. Dann aber gleich richtig, zwei Stunden lang, in jenem ehemaligen Büro von Margot Honecker (Kohl: „Ein Genuss, dass ich hier jetzt sitze“), das heute Angela Merkel gegenüber der Britischen Botschaft bewohnt.

„Frei erfunden“ sei die Darstellung, er habe gestützt werden müssen, sagte Kohl, bereits ungeduldig, dass ich das Thema nicht schon selbst angesprochen hatte. Es sei „wichtig, dass das wegkommt“, ergänzte sein Vertrauter und ehemaliger Staatsminister Anton Pfeifer, den er zusammen mit Büroleiter Lutz Stroppe als Zeugen zum wissenschaftlichen Interview hinzugezogen hatte. Wieder Kohl: „Das ist geschrieben von heute [...] um den Wolfgang Schäuble zu einem Übervater zu machen, weil der Wolfgang Schäuble der Beleidigte ist. Dem sein Hass-Syndrom hat damit zu tun, dass er nicht ins Amt gekommen ist. Verstehen Sie: Das ist ja eine posthume Geschichte.“

„Der ganze Idiotenkram, der dann abgelaufen ist“

„Dass das wegkommt“: Diesen Gefallen konnte ich Helmut Kohl natürlich nicht tun. Dazu waren die anderslautenden Schilderungen aus der Endphase der Ära Kohl zu zahlreich und zu plausibel. Zumal Kohl selbst an anderer Stelle einräumt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt „klar war, dass wir möglicherweise kippen. Also nicht ich. Wie hieß es: Drei null null null null null, der ganze Idiotenkram, der dann abgelaufen ist. Es hat gekracht im Gebälk.“ Ich habe getan, was in solchen Fällen zu tun war, die verschiedenen Versionen möglichst ausführlich und neutral nebeneinandergestellt, auf dass sich jeder Leser der Dissertation selbst eine Meinung bilden möge. Wobei: Was wäre eigentlich so schlimm am Bild eines auch einmal zweifelnden Kanzlers angesichts des Großexperiments Einheitswährung? Hierin einen Angriff auf seine Person zu erkennen, erfordert schon eine ganz spezielle Kanzler-Denke, erklärbar mit Kohls Absturz nach der verlorenen Wahl im September 1998 und dem Tod seiner Ehefrau Hannelore im Juli 2001.

Dass Schäuble völlig unschuldig war an dieser Schilderung, die Kohl damals derart auf die Palme brachte, und absolut nichts mit ihr zu tun hatte, mochte wiederum er mir in diesem Gespräch keine Sekunde lang glauben. Ausgerechnet dieser SPD-Kanzler Schröder und sein Finanzminister Hans Eichel wollten ihm den internationalen Ruhm der gelungenen Euro-Bargeldeinführung stehlen, mit fröhlichen, geldscheinschwenkenden Menschen, Feuerwerk und großen Interviews, Sondersendungen vom Geldautomaten und Titelgeschichten – da war der Altkanzler ohnehin auf der Zinne und mehr denn je um sein Bild in den Geschichtsbüchern besorgt.

Anpasser, Korrupte und Halbwilde

Einmal in Fahrt, hatte Helmut Kohl damals mir gegenüber keinen Anlass gesehen, sich zurückhaltend oder gar charmant über Weggefährten zu äußern. Richard von Weizsäcker (CDU) war für ihn „einer größten Anpasser in der Geschichte der Republik“, Hildegard Hamm-Brücher (FDP) eine „schreckliche Dame aus München, die wie eine Halbwilde durch die Gegend geifert“, Joschka Fischer (Grüne) „zutiefst antisemitisch“, Burkhard Hirsch (FDP) „hinterhältig, verlogen und scheinheilig“, Ex-CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep „korrupt“ (S. 290 folgende). Helmut Kohl fröhlich: „Ich bin ein freier Mann, ich kann zum ersten Mal in meinem Leben so frei reden, wie ich nur mag! Und das genieße ich.“

Wolfgang Schäuble habe er entgegen seinem ursprünglichen Plan nicht spätestens 1997 zu seinem Nachfolger machen können, so Kohl 2002, weil er „in einem Wägelchen“ sitze (gemeint war Schäubles Rollstuhl), und er habe befürchten müssen, dass er bei einem Stabwechsel während laufender Legislaturperiode in geheimer Kanzlerwahl nicht alle Stimmen der eigenen Unionsfraktion bekommen, er also ein Jahr vor der Wahl eine handfeste Regierungskrise ausgelöst hätte (Dissertation, S. 285).  

„Ein Machtmensch wie ein Diktator“

Öffentlich wurde die Niederschrift des zweistündigen Gesprächs mit Helmut Kohl erst acht Jahre später bei Abschluss meines Promotionsverfahrens und nach der obligatorischen Hinterlegung der Dissertation in der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität. 32 Interviews hatte ich insgesamt geführt, drei von ihnen – mit den damals für die entscheidende Euro-Phase 1996 bis 1998 verantwortlichen Parteivorsitzenden Helmut Kohl, Theo Waigel und Oskar Lafontaine – sind in der Schlussfassung für die Universität im vollständigen Wortlaut enthalten. Alle übrigen werden auszugsweise im Text zitiert und liegen gedruckt in einem eigenen dicken Quellenband vor.

Erst weitere drei Jahre später erhielt Spiegel-Zeithistoriker Klaus Wiegrefe Kenntnis von diesem Interview und machte daraus nach allen Regeln der Kunst dieses Blattes eine saftige Klatsch-und-Tratsch-Geschichte mit den oben zitierten Schmähungen. Und Wiegrefe riss zusätzlich eine Äußerung des Altkanzlers ein wenig, aber doch ausreichend sinnentstellend aus dem Zusammenhang, um ihr einen sensationellen Charakter zu verleihen, indem er schrieb: „Er sei eben ein ,Machtmensch‘ und habe zuweilen ,wie ein Diktator‘ gehandelt, räumte er gegenüber dem Doktoranden freimütig ein.“ So lautete dann auch die Überschrift des Artikels: „Wie ein Diktator“.

„Volksabstimmung hätte ich verloren“

Gesagt hatte Kohl: „Es ist mein volles Leben: In einem Fall war ich wie ein Diktator, siehe Euro, in einem Fall war ich ein Zauderer, habe alle Probleme ausgesessen. Ist immer noch der gleiche Helmut Kohl, von dem wir reden.“ (S. 293) Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass Kohl hier schilderte, wie ihn Presse, Öffentlichkeit und politische Gegner nach seiner persönlichen Wahrnehmung in verschiedenen Situationen gesehen und bezeichnet haben: Im Falle etwa der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Zauderer, in den heiklen Phasen des Beitritts zur Europäischen Währungsunion als Diktator.

Und Kohl meinte, eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro hätte er „natürlich“ verloren, „und zwar im Verhältnis 7 zu 3“. Aber auch dieses Eingeständnis ist in einer repräsentativen Demokratie natürlich kein Beleg für eine diktatorische Vorgehensweise. Bundesbank, Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und später auch das Bundesverfassungsgericht stimmten jeweils mit meistens übergroßer Mehrheit zu. Wie diese Mehrheiten im Einzelnen zustande gekommen sind, welch fragwürdige Mechanismen, Methoden und Motive hier einwirkten, ist das Thema eben dieser Dissertation, aber sie wurden nicht mit vorgehaltener Waffe erzwungen.

Von einer Selbstbezichtigung des Helmut Kohl als tyrannischer Alleinherrscher kann somit keine Rede sein, und er hatte dazu auch keinen Anlass. Gleichwohl war das Echo auf die Schlagzeile im April 2013 national und international verheerend, wurde das so schön griffige Zitat doch gerade vom Boulevard dankbar aufgegriffen und von Euro-Kritikern mitten in einer Staatsschulden-Krise als spätes Eingeständnis einer zutiefst undemokratischen Vorgehensweise der Bundesregierung interpretiert, verstanden und ins Feld geführt, als ultimativer Beweis für die Fragwürdigkeit des ganzen Projekts. Der Satz schaffte es dank Spiegel bereits tags drauf auf die Titelseiten britischer, polnischer, französischer, serbischer, italienischer, spanischer, griechischer und russischer Blätter, tauchte auch vier Jahre später noch in den Nachrufen auf Helmut Kohl als vermeintliche Tatsache auf und erscheint unverändert quasi-amtlich in Wikipedia. 

Es passte zu gut, um wahr sein zu müssen

Ich hätte diese Skandalisierung ahnen und den Sachverhalt bereits 2002 in der Abschrift des Interviews klarstellen müssen, aber mir fehlte die Phantasie, dass der korrekte Wortlaut des Gesprächs mit dem Altkanzler elf Jahre und allerlei Finanzkrisen später eine derart krasse Um-Interpretation und Instrumentalisierung erfahren könnte. Es passte einfach zu gut, um wahr sein zu müssen. Andererseits: Als mir Kohl im Interview sagte „An geraden Tagen konnte ich schreiben, an ungeraden Tagen konnte ich lesen“, kam ja auch niemand auf die Idee, er halte dies für eine zutreffende Beschreibung seiner intellektuellen Fähigkeiten, nicht für eine bösartige Zuschreibung der Medien.

Helmut Kohl selbst reagierte auf den Spiegel-Artikel von 2013 mir gegenüber nicht. Stephan Holthoff-Pförtner, sein damaliger Anwalt, schrieb einige Monate später einen bösen Brief, warf mir Geltungssucht und niedere Motive vor mit dem Spiegel als willigem Werkzeug, was, wie beschrieben, Unsinn war. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, mir zu gestatten, mit Originaltönen aus der Interview-Aufzeichnung ein Feature für den Deutschlandfunk über Helmut Kohls damalige Gedankenwelt und seine Lebensbilanz besonders als Europa-Politiker zu machen. Nein, konnte er nicht.

Schade, denn es ist ein Dokument der Zeitgeschichte und, wie ein sehr langjähriger Vertrauter des Altkanzlers staunend meinte, eines der ganz wenigen wirklich sehr offenen, sehr ausführlichen und tatsächlich erhellenden Interviews, die Helmut Kohl als Politiker mit Blick auf seine ganze Arbeit und sein Leben gegeben habe. Ich hatte offenbar einen sehr guten Tag bei ihm erwischt – in Verbindung mit einer, siehe oben, ganz speziellen Motivlage. Die ich dann gar nicht in seinem Sinne erfüllen konnte und wollte.

Karlsruhe lässt Kohls Witwe abblitzen  

An dieser Stelle wird der Zusammenhang zum aktuellen Rechtsstreit der Witwe Maike Kohl-Richter gegen den Filmemacher Heribert Schwan, die Erben von Schwans Co-Autor Tilman Jens († 2020) und den Heyne-Verlag erkennbar, den sie in dieser Woche im Hinblick auf den Anspruch auf eine Million Euro Schadenersatz in möglicherweise letzter Instanz verloren hat. Kohl sei tot, und die ihm seinerzeit gerichtlich zugesprochene finanzielle Genugtuung – ursprünglich hatte er fünf Millionen Euro gefordert – grundsätzlich nicht vererbbar, auch nicht an seine Witwe als Alleinerbin, entschied das Bundesverfassungsgericht per Beschluss (1 BvR 19/22 und 1BvR 110/22). Es verwarf damit die Möglichkeit einer weiteren Erörterung in einem offiziellen Verfahren, eventuell auch mit öffentlicher Verhandlung.

Beide Verfassungsbeschwerden von Maike Kohl-Richter, so die erste Kammer, hätten keine hinreichende Aussicht auf Erfolg gehabt, weshalb sie nicht zur Entscheidung anzunehmen gewesen seien. Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes seien nur lebende Personen: „Das Fortwirken des Persönlichkeitsrechts nach dem Tode ist zu verneinen.“ Während die Menschenwürde im Konflikt mit der Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig sei, gelte dies, so die Richter, nicht bei einem Konflikt der Meinungsfreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Jedenfalls reiche der Achtungsanspruch Verstorbener nicht weiter als der Ehrschutz lebender Personen. 

Maike Kohl-Richter habe, so das Bundesverfassungsgericht, nicht darlegen können, dass der „allgemeine Achtungsanspruch des Erblassers“ (gemeint ist Helmut Kohl) grob herabgewürdigt oder erniedrigt wurde: „Der vom Erblasser durch seine Lebensleistung erworbene sittliche, personale und soziale Geltungswert ist jedenfalls nicht in einer den Kern der Menschenwürde erfassenden Weise verletzt worden. Durch die freiwillige Preisgabe von Erinnerungen aus der Zeit seiner politischen Verantwortungsübernahme gegenüber einem vertraglich zur Anfertigung von Entwürfen seiner Memoiren verpflichteten Journalisten ist nicht der innerste Kern der Persönlichkeit des Erblassers betroffen.“

Die Veröffentlichung korrekter Kohl-Zitate, die dieser aber selbst nie veröffentlicht hätte, so nun auch das BVerfG, sei keine Verletzung von Kohls Menschenwürde. Darüber hinaus gebe es keinen Grundsatz, der besage, dass eine Verletzung der Menschenwürde stets eine Entschädigung nach sich ziehen müsse. Einem Verstorbenen könne ohnehin Genugtuung nicht mehr verschafft werden. Die Vorinstanzen hätten korrekt, jedenfalls nicht offensichtlich verkehrt festgestellt, dass mit dem Tode von Helmut Kohl auch sein Anspruch auf jene Million Euro erloschen sei, die ihm das Landgericht Köln zu Lebzeiten nach zweijährigem Prozess zugesprochen hat, weil Heribert Schwan sich unerlaubt aus den 2001 und 2002 gemeinsam geführten Gesprächen bedient hatte, um daraus 2014 nach dem Zerwürfnis mit Kohl einen eigenen Bestseller zu machen, der sich dann 200.000 Mal verkaufen sollte. 

„Zynische Rechtsprechung“

Felix W. Zimmermann, Chefredakteur von Legal Tribune Online, hält den Beschluss der Karlsruher Kammer für ausgesprochen problematisch, wie er noch am selben Abend ausführte. An der Lebensrealität von todkranken oder älteren Betroffenen gehe diese Rechtsprechung komplett vorbei.

Zimmermann wörtlich:

„Stellen Sie sich vor, Sie werden Opfer einer medialen Diffamierungskampagne. Über Sie werden haltlose Gerüchte zu angeblich verübten schweren Straftaten verbreitet, oder ein intimes Video von Ihnen wird im Internet veröffentlicht. Vielleicht verlieren Sie ihren Job, die Reputation oder müssen Hetzkampagnen auf Social Media durchstehen. Ihre Familie und Sie machen harte Zeiten durch. Sie gehen zwar erfolgreich gegen die Diffamierung auf Unterlassung vor, doch der Ruf ist trotzdem ramponiert. Denn wie jeder weiß: Es bleibt immer etwas hängen. Daher hat die Rechtsprechung für solche Fälle der besonders schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung den Geldentschädigungsanspruch entwickelt. Auch diesen machen Sie gerichtlich geltend. 
Das Verfahren zieht sich über Jahre hin. Schließlich bekommen Sie in erster Instanz eine erhebliche Summe zugesprochen. Die Gegenseite legt Berufung ein. Indes: Um Ihre Gesundheit ist es nicht gut bestellt. Doch das Berufungsverfahren dauert eben seine Zeit. Schließlich versterben Sie in dem Wissen, dass die Person, die ihre Persönlichkeitsrechte schwerwiegend verletzt hat, nun doch keine Geldentschädigung zahlen muss, und zwar perfider Weise gerade deswegen, weil Sie sterben. Mit dem Tod hat sich auch der Anspruch ,erledigt'."

Für Zimmermann handelt es sich damit um eine „offensichtlich zynische, ja menschenunwürdige Rechtsprechung“, die das BVerfG hätte aufheben und korrigieren müssen. Sein Fazit: „Die Rechtsprechung aus Karlsruhe führt dazu, dass todkranke oder sehr betagte Menschen ohne Gefahr von Entschädigungszahlungen diffamiert werden können, wenn ohnehin mit ihrem Tod während eines langwierigen Gerichtsverfahrens zu rechnen ist.“

Wer zahlt Verfahren und Anwälte?

Maike Kohl-Richter kann also nicht das Schmerzensgeld erben, das Helmut Kohl im Streit um das Buch „Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle“ erstritten hatte – die höchste Entschädigung der bisherigen deutschen Rechtsgeschichte. Gleichwohl könnte sie, weiteres Ergebnis dieser Geschichte, auf den Verfahrens- und Anwaltskosten sitzen bleiben, die angesichts des ursprünglichen Streitwerts von fünf Millionen Euro über nunmehr vier Instanzen enorm sein dürften. Zunächst vor Gericht gewonnen, dann aber den Ehemann verloren, in der Folge sehr viel Geld verloren.

In persönlichen Gesprächen bediente sich Helmut Kohl nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofes „teilweise einer umgangssprachlichen und drastischen Ausdrucksweise“. Für ein Gericht mag dies eine ungewöhnliche Erkenntnis gewesen sein – für die politischen Korrespondenten in Bonn und Berlin gehörte es zum Allgemeinwissen. Von Kohl persönlich angepflaumt oder auch in Abwesenheit abgemeiert zu werden, beides am besten vor versammelter Mannschaft mit vielen Lachern liebenswerter Kollegen, gehörte fast zum guten Ton. Ein Anlass fand sich immer.

Umso seltsamer erscheint gerade in der Rückschau der Umstand, wie oberflächlich, ja rein emotional und kindisch von den Qualitätsmedien mit diesem Bundeskanzler und seinen Leistungen, seinen Bekenntnissen umgegangen wurde und weiterhin wird. Der Mann hatte – verborgen unter seinem gelegentlich grenzwertigen Benehmen – Substanz und Fingerspitzengefühl und vor allem auch ein Händchen für sehr gute Berater. Anders sind seine Verdienste um die deutsche und die europäische Einigung und seine regelrecht genialen zwölf Monate zwischen November 1989 und Oktober 1990 auch gar nicht erklärbar.

Schmonzette mit Schreckschraube

Dass der Spiegel sich in der Auswertung meines Interviews auf die für den Lauf der Welt belanglosen Klatsch-und-Tratsch-Aspekte konzentrierte, auf alles, was sich irgendwie personalisieren und emotionalisieren ließ, fand im Jahr darauf dann seine richtig große Fortsetzung im Buch von Heribert Schwan und Tilman Jens. Wenn einer schon auf die Idee kommt, sich diese historischen Zeitdokumente aus 600 Stunden Gespräch, aufgezeichnet und gesichert auf -zig Tonbändern, für eigene Zwecke unter den Nagel zu reißen, weil sie nicht nutzlos vergammeln sollen, dann sollte er daraus mehr machen als eine aufgeblasene, im Kern unpolitische Schmonzette auf Boulevard-Niveau. Das hätte auch so manchen Streitpunkt mit Kohl und seiner Frau gleich zu Beginn entschärft. Schwan und Jens haben mit diesem „Schatz“, wie sie das Konvolut – ursprünglich korrekt – nannten, aber nichts Gescheites angefangen, ihn vielmehr für einige abfällige, irrelevante Bemerkungen Kohls über Angela Merkels Tischsitten vergeudet und dann auch dabei noch unsauber gearbeitet

Als ob die allfälligen Schmähungen nicht schon im Originalwortlaut hinreichend infantil-empörend gewesen wären, glaubten Schwan und Jens, gefangen in ihrer misslungenen Herangehensweise an das Projekt „Vermächtnis“, sie noch künstlich an vielen Stellen aufmotzen zu müssen. Immerhin diesbezüglich waren die vier Gerichtsinstanzen nicht völlig für die Katz‘, sondern lieferten der Öffentlichkeit einen durchweg wenig erbaulichen Einblick in die Arbeitsweise der beiden Autoren, die von den Richtern – sicherlich in dieser Akribie unerwartet – nach allen Regeln der semantischen Kunst dekonstruiert und entlarvt wurde. Das Buch hinterließ verbrannte Erde und viel Ärger.

Beispiele für „Fehlzitate“, die Schwan und Jens dem Altkanzler laut gerichtlicher Beweisaufnahme „untergeschoben“ haben:

„Nach den zugrunde zu legenden Feststellungen des Berufungsgerichts hat er Rita Süssmuth nicht generell als ,Schreckschraube‘ beleidigt, sondern nur – deutlich weniger scharf – seine Einschätzung zum Ausdruck gebracht, dass sie vom katholischen Klerus in Niedersachsen als ,Schreckschraube‘ wahrgenommen worden sei.“

„,Ich hatte keine Probleme mit Geißler. Er machte einen guten Job. Er war immer ein Narr und Rechthaber, aber in einem erträglichen Rahmen.‘ Durch das Herausgreifen gerade der Worte ,Narr und Rechthaber‘ und das Weglassen der relativierenden Teile dieser Aussage wird dem Erblasser [Helmut Kohl] im Buch eine wesentlich schärfere Aussage untergeschoben.“

Von Arschbacken und Spezialziegen

Helmut Kohl hat laut Oberlandesgericht Köln auch nicht die Inhaber des Amtes eines (Bundes-) Präsidenten als „Arschbackengesichter“ bezeichnet, sondern lediglich die im Amt des Bundespräsidenten zu erbringende Tätigkeit im Hinblick auf die im Vergleich zum Amt des Bundeskanzlers geringere Arbeitsbelastung als „Arschbackengesichtsjob“. Schlussfolgerung: „Die Aussage des Erblassers [Helmut Kohl] enthielt in der tatsächlich getätigten Form damit gerade nicht den persönlichen Angriff auf (auch Bundes-) Präsidenten, der in der verzerrten Wiedergabe im Buch zum Ausdruck kommt.“

Gesagt hat Helmut Kohl laut Bandaufzeichnung: „Warum wird denn jetzt dauernd die Gefahr von rechts beschworen? Irgendwelche Bänkelsänger rotten sich zusammen und machen ein Konzert gegen rechts. Es gibt keine Gefahr von rechts. Wo denn?.“ Laut Gericht wird die Äußerung im Buch aus ihrem Zusammenhang gerissen, in einen unzutreffenden Kontext gestellt und dadurch – in besonders schwerwiegender Weise – auch in ihrem Aussagegehalt verfälscht. Gegangen sei es in Wirklichkeit hier um die Frage, ob die Partei der „Republikaner“ zu einer Abwanderung von CDU-Wählern geführt habe. Die Behauptung von Schwan und Jens, Kohl gebe sich „auf dem rechten Auge aus Überzeugung blind“, Kohl habe also Anzeichen für neonazistischen Terror in Deutschland aus Überzeugung verleugnet, ist nach Überzeugung des Gerichts dadurch grob unredlich. Kohl habe auch keineswegs, wie im Buch suggeriert, ausgerechnet für die Waffen-SS reichlich Verständnis gezeigt.

Fazit: „Durch die Veröffentlichung und Verbreitung der genannten Buchpassagen und der darin enthaltenen Fehlzitate wird das fortwirkende Lebensbild des Erblassers nicht nur infrage gestellt, sondern in grober Weise entstellt und der Erblasser damit in seinem postmortalen Persönlichkeitsrecht verletzt. Schon die ganz erhebliche Zahl der Fehlzitate führt hierzu. Hinzu kommt, dass einige der dem Erblasser untergeschobenen Aussagen auch bei isolierter Betrachtung unter Berücksichtigung des von ihm tatsächlich Gesagten geeignet sind, sein Lebensbild erheblich – auch negativ – zu treffen.“

Gang zum Europäischen Gerichtshof?

Nichts einzuwenden hatte der Bundesgerichtshof dagegen gegen eine zusammenfassende Formulierung der Autoren Schwan und Jens, wie Kohl über „die Arschlöcher vom Auswärtigen Amt“ sprach. Dass Kohl im Original von einem „Verein von Arschlöchern“ gesprochen habe, sei, so der BGH, „in der Sache keine relevante Abweichung“ und damit weiterhin druckreif. Kein Fehlzitat sei es schließlich auch, wenn er Hildegard Hamm-Brücher als „Spezialziege“ und als „eines der bösartigsten Weiber in der Geschichte der Republik“ bezeichnet habe. Dass dies bei zwei unterschiedlichen Gelegenheiten geschah, schadet dem Wahrheitsgehalt der Schilderung im Buch nach Überzeugung des Bundesgerichtshofs nicht.

Ob Maike Kohl-Richter nach den beiden Niederlagen in Karlsruhe noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen wird, wie es ihre Kanzlei voriges Jahr für den Fall der Fälle andeutete, ist nach Aussage ihres Anwalts Claus Binder offen. Sie hat nun vier Monate Zeit für eine entsprechende Entscheidung. Binder gegenüber Cicero: „Man wird sehen.“ 

Der Schatz der Tonbänder und Dokumente, die Heribert Schwan während der Zusammenarbeit mit Helmut Kohl anfertigen und einsehen konnte, harrt unterdessen weiter seiner Hebung. Die Witwe wird ihn nach dieser wiederum niederschmetternden Woche für eine handwerklich saubere zeitgeschichtliche Forschung und Aufarbeitung weniger herausrücken wollen als jemals zuvor. Auch für die neue Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung ist das keine gute Nachricht. Sie sitzt, was authentisches Arbeitsmaterial aus Oggersheim angeht, weiterhin auf dem Trockenen.

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