Attentat von Halle - Wer trägt die Verantwortung?

Am Attentat von Halle soll die AfD eine Mitverantwortung tragen, heißt es. Doch was ist das eigentlich? Wenn man Kausalketten verfolgt, landet man irgendwann tief in der Vergangenheit

Polizisten vor einer Synagoge / picture Alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Das Attentat von Halle hat die Republik ein weiteres Mal verändert und polemische Energien freigesetzt. Führende Vertreter der politischen Klasse üben sich seitdem in rhetorischer Eskalation. Als einer der ersten titulierte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) einige AfD-Funktionäre als „geistige Brandstifter“. SPD-Vorsitzkandidat und Staatsminister Michael Roth legte noch eine Schippe drauf und machte die Rechtspopulisten gar zum „politischen Arm des Rechtsterrorismus“. Angesichts dessen erscheint es als nahezu maßvoll, wenn Vizekanzler Olaf Scholz lediglich auf eine Mitverantwortung der AfD für das schreckliche Verbrechen verweist.

Aber selbst diese „Mitverantwortung“ ist ein recht vertracktes Ding. Gemeint ist damit, dass die AfD irgend etwas getan hat, was zu der Tat führte. Die Umkehrung ist dann zwingend: Hätte sie es unterlassen, wäre es möglicherweise nicht zum Attentat gekommen. Wer allerdings so schlicht unterwegs ist, kauft sich eine ziemliche Schwierigkeit ein. Rein logisch betrachtet könnte die AfD dann nämlich einfach die Kausalkette verlängern und ihrerseits mit „Mitverantwortung“ argumentieren: Ohne die Bereitschaft, im Jahr 2015 rund eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, wäre es wohl nicht zur politischen Spaltung Deutschlands, nicht zum Wiederaufstieg der AfD und somit vielleicht auch nicht zum Attentat gekommen. Aber eben nur vielleicht.

Hätte, hätte, Fahrradkette

Wer die Ereignisse nur in zeitlicher Reihenfolge sortiert und daraus gleichsam Schuld und Verantwortung verbindlich verteilen will, müsste dann allerdings noch ganz andere Leute in den Blick nehmen. Zum Beispiel die Eltern des Attentäters und seine Lehrer. Hätten sie in der Erziehung nicht so versagt, so könnte man argumentieren, hätte die AfD-Ideologie gar nicht auf so fruchtbaren Boden fallen können. Aber natürlich könnten auch die Eltern und Lehrer mit derselben Taktik reagieren: Wären ihre eigenen Eltern, Lehrer und Professoren nicht so miserabel gewesen, hätten sie das mit der Erziehung des Kindes auch besser hinbekommen. Und irgendwann in dieser langen Kette der Kausalitäten kämen wir beim unbewegten Beweger an: dem Urknall oder dem lieben Gott, je nach persönlichem Geschmack. Mit Hilfe dieses diffusen Begriffes der Mitverantwortung würde damit aber der Begriff der Verantwortung überhaupt in Luft aufgelöst.

Indes gibt es für diese Prozedur scheinbar ein weltberühmtes Vorbild, nämlich die „Lingua Tertii Imperii“. In ihr hat der jüdische Philologe Victor Klemperer minutiös beschrieben, wie erst die schrittweise Verschiebung des öffentlichen Denkens unter den Nazis den Möglichkeitsraum für den Holocaust eröffnet hat. Und wer wollte bestreiten, dass das stimmt? Nun darf man sich allerdings keinen Illusionen hingeben. Politisches Sprechen im öffentlichen Raum ist im Gegensatz zur Wissenschaft nicht in erster Linie auf Wahrheit, sondern auf Wirkung orientiert. Und zu dieser Wirkung gehört immer auch die Selbstinszenierung des Sprechenden sowie die gleichzeitige Herabsetzung des politischen Kombattanten. Dass das mit moralischer Diskreditierung leichter gelingt als mit sachlichen Argumenten, ist eine weit verbreitete Erfahrung.

Welt voller Ursachen

Ein sinn- und maßvolles Sprechen über Verantwortung ist schlicht nicht möglich ohne eine differenzierte Theorie der Ursachen. In ihrem Fehlen wurzelt all die Schwammigkeit der öffentlichen Diskussion dieser Tage und zugleich ihre Sprengkraft. Allerdings sind diese Diskussionen alles andere als neu. Schon vor rund 1800 Jahren sah sich Alexander von Aphrodisias, der einen von Kaiser Marc Aurel eingerichteten Lehrstuhl für aristotelische Philosophie innehatte, genötigt, die Schrift „Über das Schicksal“ zu verfassen. Und er beginnt seinen Text, wie könnte es anders sein, mit der Entfaltung der aristotelischen Ursachenlehre. Demnach könne über Schuld und Verantwortung (und folglich auch über Strafmaße) nicht sinnvoll urteilen, wer alle Bedingungsfaktoren von Geschehnissen in derselben Art und Weise als „Ursache“ bezeichne.

Von ihnen gebe es vielmehr vier: Die Wirkursache, die Formursache, die Materialursache und die Zielursache. Traditionell wird diese Theorie am Beispiel einer Marmorstatue erläutert, so tut es auch Alexander. Der Bildhauer ist der eigentliche Urheber der Statue, also die Wirkursache, der Mamor die Materialursache, die Gestalt, die der Bildhauer dem Stein gibt, die Formursache und der Zweck, zu dem die Statue geschaffen wird, die Ziel- oder Zweckursache. Ohne den Marmor könnte die Statue zwar nicht entstehen und insofern ist auch er eine Ursache, aber es macht wenig Sinn, diese Ursache für ebenso bedeutsam zu halten wie den Bildhauer selbst.

Die Verharmlosung der persönlichen Schuld

Ganz ähnlich verhält es sich beim Attentat von Halle. Die Wirkursache und der im eigentlichen Sinne Verantwortliche ist der Attentäter selbst. Jede Relativierung dieser Tatsache führt zwangsläufig zu seiner moralischen Entlastung und damit Verharmlosung seiner persönlichen Schuld. Das sollten alle mitbedenken, die nun aus politischem Kalkül die Mitverantwortung Dritter allzu lautstark aufs Tapet heben. Und trotzdem wäre es genauso falsch, den Gedanken von der Mitverantwortung ganz aus dem Kreis unseres politischen Denkens auszuschließen. Denn es ist ja wahr, dass die politischen Diskurse quasi wie der Marmor als Material in die Meinungsbildung der Öffentlichkeit eingehen. Der Versuch der Beeinflussung der öffentlichen Meinung ist sogar das Kerngeschäft der Politik. Die Entzivilisierung des politischen Diskurses und gesellschaftlichen Miteinanders dürfte folglich durchaus ihre Wirkung hinterlassen, nur weiß im Konkreten keiner genau welche. 
 
Allerdings enthält ein angemessenes Verständnis von Mitverantwortung eine ziemliche Bürde für alle Beteiligten. Wenn es denn wahr ist, dass eskalierende öffentliche Diskurse in irgendeiner Form Wirkungen auf Menschen hervorrufen (können), ist jeder, der an dieser Eskalationsspirale mitarbeitet, in diesem Sinne mit-verantwortlich für das, was dann geschieht. Mit demselben Recht, mit dem man vermuten kann, dass die rechtspopulistischen Entgleisungen aus AfD-Kreisen den Attentäter von Halle mitbeeinflusst haben mögen, kann man nämlich auch vermuten, dass Michael Roths These von der AfD als dem „politischen Arm des Rechtsterrorismus“ deren Wähler schwer beleidigt und zornig zurücklässt, weil sie sich als Zuarbeiter für Mörder verstanden fühlen müssen. Welche Wirkungen mag das haben? Keine guten, steht zu befürchten. Oder wie der Volksmund sagt: Wer auf andere mit dem Finger zeigt, möge acht geben, dabei nicht zugleich drei auf sich selbst zu richten.

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