Unwort des Jahres - Nicht nur scheinheilig, sondern verlogen!

Da ist es also wieder, das Unwort des Jahres. Festgelegt wird es von nur fünf weder durch Fachgesellschaften noch auf demokratische Weise legitimierte Persönlichkeiten. Diesmal lautet es „Pushback“. Für das Jahr 2021 geht es also, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, um die Zurückweisung von Flüchtlingen durch Polen an der polnisch-belarussischen Grenze.

Constanze Spieß präsentiert das „Unwort des Jahres“ / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Die Zurückweisung illegaler Einwanderer „Pushback“ zu nennen, meint die Jury für das „Unwort des Jahres“, sei die Beschönigung eines „menschenfeindlichen Prozesses“, der „den Menschen auf der Flucht die Möglichkeit nimmt, das Menschen- und Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen“. Die Verwendung eines Fremdwortes für diesen brutalen Sachverhalt komme einer Verschleierung gleich. Nicht das Bezeichnete ist also das Problem, sondern das Zeichen, das das Bezeichnete bezeichnet.

„Pushback“ bedeutet auf Deutsch ja in etwa so viel wie „Zurückdrängung“ oder „Wegstoßen“. Das hört sich nun eben nicht wirklich beschönigend oder verschleiernd, sondern ziemlich empfindungslos und brutal an. Aber wenn man es schon so sagt, so scheint die Jury des „Unwortes des Jahres“ es zu meinen, dann doch bitte auf Deutsch. Nur: Was genau würde das in der Sache ändern?

Von Menschenrechten und Verschleierung

Ins Leben gerufen wurde die sprachkritische Aktion im Jahre 1991 von Horst Dieter Schlosser, seinerzeit noch im Rahmen der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS). Aber seit dem Jahr 1994 und aufgrund eines handfesten Streits hat diese Aufgabe seitdem eine Jury in die Hand genommen, die nur so viele Mitglieder umfasst wie jede Hand Finger.

Immerhin: Angeführt wird die Jury von Constanze Spieß (Universität Marburg), einer „Pragmalinguistin“. Wenn Sie nicht wissen, was das ist: Es geht in der Pragmalinguistik um sprachwissenschaftliche Analysen der Verwendung sprachlicher Ausdrücke in ganz bestimmten Situationen und Kontexten. Für die Wahl eines „Unwortes des Jahres“, also der besonders kritikwürdigen gesellschaftlichen Sprachverwendung, keine ganz schlechten fachlichen Voraussetzungen.

Allerdings kommt es bei jeder Kritik immer darauf an, welche Maßstäbe man anwendet. Die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ nennt als Kriterien Verstöße gegen die Menschenwürde oder die Prinzipien der Demokratie, die Diskriminierung ganzer Menschengruppen oder eine verschleiernde, irreführende Sprache. Insbesondere um diesen letzten Punkt scheint es in diesem Jahr besonders gegangen zu sein. Von den 1308 eingegangenen Vorschlägen entsprachen dabei nur rund 45 den angelegten Maßstäben, und unter ihnen hat es „Pushback“ letztlich auf Platz eins geschafft.

Selbst an die Nase fassen

Allerdings sollte man sich dann auch an jene Maßstäbe halten, die man mit erhobenem moralischem Zeigefinger an andere anlegt. Das Phänomen der „Pushbacks“ nämlich ist rechtlich höchst umstritten. Und das hat damit zu tun, dass unter dieses ganz verschiedene Tatbestände fallen können.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jedenfalls hält nicht jede Zurückdrängung von Flüchtlingen oder Asylbewerbern an einer europäischen Grenze für rechtswidrig. So urteilte es erst im letzten Jahr, dass ein von den spanischen Behörden vollzogener „Pushback“ rechtskonform war. Konkret ging es um zwei Flüchtlinge aus Mali bzw. der Elfenbeinküste. Sie verschafften sich illegal Zugang zur spanischen Enklave Melilla und wurden nach Marokko zurückgeführt. Ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte blieb erfolglos.

Das Gericht begründete dies damit, dass sie offensichtlich „keinen Gebrauch von den bestehenden rechtlichen Verfahren zur Erlangung einer den Vorschriften des Schengener Grenzkodex [...] entsprechenden rechtmäßigen Einreise in das Staatsgebiet Spaniens“ gemacht hätten.  Wer sich selbst rechtswidrig verhält, so also die Europäischen Richter, kann nicht erwarten, so behandelt zu werden, als hätte er sich an das geltende Recht gehalten.

Indem die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ die verschiedenen Fallgestaltungen eines „Pushbacks“ nicht thematisiert und sogar jene verschweigt, die berechtigt sind, betreibt sie indes selbst, was sie offiziell kritisiert: Verschleierung und Irreführung durch Sprache.

Hausfriedensbruch im Großen

Man stelle sich, wofür die selbsternannte sprachkritische Aktion offenbar plädiert, die Sache doch einfach einmal in den eigenen vier Wänden vor. Wenn sich ein fremder Mensch gegen den Willen der Einwohner und rechtswidrig Zugang zu den eigenen vier Wänden verschaffte, nennten wir das in Deutschland „Hausfriedensbruch“. Paragraf 123 Strafgesetzbuch regelt, dass ein derartiger Rechtsbruch mit bis zu einem Jahr Freiheits- oder Geldstrafe sanktioniert werden kann. Es ist selbstverständlich, dass in diesem Falle die Polizei gerufen wird, um Recht und Ordnung durch einen „Pushback“ wieder herzustellen. Ginge es nach den Aktivisten der Initiative „Unwort des Jahres“, hätte man die Betroffenen allerdings bis zu einem abschließenden Gerichtsurteil nicht nur in den eigenen vier Wänden zu dulden, sondern auch noch zu verköstigen. Und das kann bekanntermaßen, zumindest in Deutschland, dauern.

Stellt man sich die Europäische Union nun als furchtbar große Wohnung mit furchtbar vielen Zimmern vor: Warum sollte, wer sich rechtswidrig Zugang zu dieser Wohnung verschaffte, eigentlich anders behandelt werden als jemand, der im Privaten Hausfriedensbruch begeht?

An die Türkei ausgelagert

In Wahrheit ist die Angelegenheit ja noch viel verrückter. Während wir uns in Deutschland vor Stolz ob unserer Menschenfreundlichkeit an die Brust schlagen, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel schon jene „Drecksarbeit“ erledigt, deretwegen wir heute über „Pushbacks“ die Nase rümpfen können. Die Pushbacks werden durch Deutschland nämlich nicht selbst ausgeführt, sondern sind gegen Zahlung von Milliardenbeträgen an die Türkei im Rahmen eines „Flüchtlingspakts“ ausgelagert worden.

Auch wenn das politische Erinnerungsvermögen schnell Lücken entfaltet, darf daran erinnert werden: Die Europäische Union zahlt jährlich Milliarden dafür, dass der viel gescholtene Diktator Erdogan die Flüchtlinge erst gar nicht nach Europa durchlässt.

Pushbacks sind heute häufig vor allem deshalb nicht nötig, weil bereits ihre Entstehungsbedingungen verhindert werden – ganz jenseits aller menschenrechtlichen Attitüden. Solange daher die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ nicht mindestens auch das Wort „Flüchtlingspakt“ auf die Liste des Unaussprechlichen befördert, bleibt das diesjährige Unwort des Jahres nicht nur scheinheilig, sondern regelrecht verlogen.

Anzeige