Merkel will keine „Öffnungsdiskussions-Orgien“ - Vorsicht bricht Versprechen

Angela Merkel hatte in Aussicht gestellt, die Restriktionen markant zu lockern, wenn die Verdopplungszeit der Infizierten bei 14 Tagen liegt. Inzwischen liegt sie bei fast 35 Tagen und Merkel warnt vor „Öffnungsdiskussions-Orgien“. Warum ist das so?

Noch vertraut die Bevölkerung der Politik in der Corona-Krise / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Die Bundesregierung hat nicht Wort gehalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel und einige ihrer Minister hatten zu Beginn der Corona-Pandemie wiederholt in Aussicht gestellt, dass wirksame Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen dann denkbar wären, wenn die so genannte Verdopplungszeit der registrierten Infizierten bei über 14 Tagen liege und die Reproduktionszahl bei 1,0, also jeder Kranke durchschnittlich nicht mehr als einen anderen anstecke.

Inzwischen ist die Ansteckungsrate bei 0,7 bis 0,8 und die Verdopplungszeit bei fast 35 Tagen, aber die Lockerungen bewegen sich im kleinen Rahmen. Wenn man nüchtern draufschaut, dann sind sie nicht mehr als kosmetisch. Entscheidend wäre die Schulöffnung und die ist weiter verschoben bis zum 4. Mai. Stattdessen warnte Merkel am Montag in einer CDU-Präsidiumsschaltkonferenz laut Medienberichten vor „Öffnungsdiskussions-Orgien“

Laschets seltsamer Schlingerkurs

Bis auf NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der einen seltsamen Schlingerkurs in der Corona-Politik fährt und sich gerade in einer PR-Affäre verheddert, reden alle vor allem von Vorsicht. Diese Vorsicht hat das Versprechen brechen lassen. Der „zerbrechliche Zwischenerfolg“ (Merkel) soll nicht gefährdet werden.

Nach Lage der Dinge hat diese Abweichung vom ursprünglichen Kurs vor allem zwei Gründe. Einen medizinischen und einen wirtschaftlichen.

Der medizinische: Über dieses Virus war vorher naturgemäß wenig bekannt. Erst die praktische Erfahrung in den Kliniken hat am Ende auch der Politik ein Bild von SARS-CoV-2 vermittelt. Und da erweist sich: Dieses Virus ist hochansteckend, weit ansteckender etwa als Grippeviren. Auf einem französischen Flugzeugträger haben sich 60 Prozent der Besatzung angesteckt, auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess mit ihren 3700 Menschen an Bord, das in den Statistiken wie ein Land gehandelt wird, weil es die erste schwimmende Corona-Insel war, lag die Quote der angesteckten Passagiere viermal höher als in den am schlimmsten betroffenen Regionen Chinas. Das kann zu einen daran liegen, dass das Virus besonders aggressiv ist, zählebig auch außerhalb des Körpers, aber auch daran, dass es schon streut, lange bevor der Träger auch nur einen Hauch von Ahnung hat, dass er infiziert ist und das Virus weiterverbreitet.

Das große Sterben in Großbritannien

In Großbritannien, wo sich Premier Boris Johnson noch einige Zeit damit brüstete, die Hände von Covid-19-Kranken zu schütteln, hat das große Sterben begonnen. Offiziell sind knapp 16.000 Tote registriert, nach Medienberichten muss man aber von einer bis zu fünffachen Anzahl an Toten ausgehen, weil in Großbritannien die Gestorbenen in Pflege- und Altenheimen nicht in die Statistik eingehen. Sollte das stimmen, wäre die vergleichsweise kleine Insel mit ihren knapp 67 Millionen Einwohnern noch weit vor den USA, wo die Zahl der Toten bei fünffacher Einwohnerzahl derzeit bei 41.000 liegt.

Eine weitere Erkenntnis dringt aus den Intensivstationen und aus den pathologischen Abteilungen als Erkenntnis bis ins Kanzleramt und die Staatskanzleien der Länder. Es erweist sich bei der Obduktion von Corona-Toten, dass oftmals alle Organe vom Virus befallen sind, bis hin zum Gehirn. Ein Drittel der Todesfälle geht nach Ansicht mancher Ärzte an der Front auf einen Herztod zurück, und auch neurologische Spätfolgen wie Lähmungserscheinungen deuten darauf hin, dass dieses Virus eine nachhaltig gesundheitsschädigende Wirkung auch bei denen haben könnte, die es knapp überlebt haben.

Die Furcht vor dem zweiten Nackenschlag

Der wirtschaftliche Grund für die ausbleibenden Lockerungen: Dass der Lockdown eine katastrophale ökonomische Wirkung hat, ist offenkundig. Dennoch fürchten Merkel, Söder und Co. noch mehr einen zweiten Dip Down. Wenn zu früh angefahren wird, das Virus dann wirklich unbeherrschbar wird, dann müsste es zu einem zweiten Shutdown kommen, massiver noch als der jetzige, also etwa wie in Italien oder Spanien. Die meisten Ökonomen sind sich einig darin, dass ein zweiter Nackenschlag nach einem Prinzenkuss an die Dornröschen-Wirtschaft im Land noch fataler wäre in seinen ökonomischen Folgen als das weitere Wachkoma, in dem Industrie und Wirtschaft derzeit gehalten werden.

Die Taktik, mit den Belohnungen mehr hinter dem Berg zu halten als ursprünglich versprochen, hat bisher getragen, weil die Mehrheit der Bevölkerung dahinter steht. Aber die Stimmung wird gereizter. Und die Ungeduld der Wirtschaft größer. Vieles spricht dafür, dass sich Armin Laschet in NRW der heimischen Wirtschaft verpflichtet sieht, für eine schnelle Lockerung zu plädieren und in der Hinsicht auch mit allen, zum Teil streitbaren Mitteln wie der halbfertigen Heinsberg-Studie Politik zu machen. NRW ist ein Industrieland, das ist Bayern aber mindestens in dem Maße auch. Der dortige Ministerpräsident Markus Söder hat sich mit Angela Merkel gegen Laschets Lockerungspolitik untergehakt. Die beiden sind das politische Pärchen der Vorsicht. An Laschet und Söder wird sich erweisen, wer den richtigen Kurs gefahren ist.

Krönt Corona den Kanzlerkandidaten der Union?

Der Ausgang dieses Wettbewerbs der Ansätze hat nicht nur Folgen für die Art und Weise, wie Deutschland durch die Corona-Krise  kommt. Sondern auch, wer für für die Union als Kanzlerkandidat antreten wird im Herbst kommenden Jahres, wenn das Virus dank eines Impfstoffes hoffentlich der Vergangenheit angehört.   

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