Umfragehoch der AfD - „Es gibt keine Wähler, die nicht rückholbar sind“

Mit der Weigerung, offene Diskurse über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Europa- oder die Flüchtlingspolitik zu führen, sorgen die etablierten Parteien für stabile Wahlergebnisse der AfD, sagt der Politikwissenschaftler Philip Manow. Die These der „nicht in der Demokratie angekommenen Wähler“ in Ostdeutschland weist er zurück.

Teilnehmer einer AfD-Kundgebung stehen im Mai auf dem Marktplatz von Weißenfels in Sachsen-Anhalt / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Philip Manow ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. In seinem Buch „Die Politische Ökonomie des Populismus“ zeichnete er 2018 ein differenziertes Bild der populistischen Bewegungen in Europa.

Herr Manow, gegenüber der FAZ hat der CDU-Politiker Marco Wanderwitz, Ostbeauftragter der Bundesregierung, erklärt: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind“. Nur ein geringer Teil der AfD-Wähler sei „potenziell rückholbar“, man könne darum nur „auf die nächste Generation“ hoffen. Was halten Sie von dieser Deutung?

Ich war einigermaßen schockiert, als ich das gelesen habe. Es kommt nicht häufig vor, dass eine Partei ein Wählermilieu mal eben komplett abschreibt. Zudem hat Wanderwitz damit seinen wahlkämpfenden Kollegen einen Bärendienst erwiesen. Zum Ausdruck kommt eine weitgehende Resignation. Er sagt ja damit: Das muss sich ‚biologisch‘ lösen, die Älteren, die Diktatursozialisierten, sterben weg, und es kommen neue, gute Menschen. Das stimmt zudem empirisch schon nicht: Unter den Wählern der AfD finden sich ja zuletzt auch viele junge Menschen.

Aber sind diese Wähler denn „zurückzuholen“?

Wenn man sich entscheidet, in der Demokratie Politiker zu werden, sollte es per se keine Wähler geben, die als nicht rückholbar gelten.

Philip Manow / Foto: Markus Zielke

Hat Wanderwitz damit nicht eine klassische westdeutsche Deutung der Ostdeutschen wiederholt?

Richtig. Völlig paternalistisch und abkanzelnd. Man könnte da auch Ursache und Wirkung umkehren: Wenn man diese Pauschalzuschreibung äußert, dann bekommt man auch diese Form der Abwendung. Mit diesen Zurechtweisungen können die Menschen wenig anfangen.

Wozu führen derartige Äußerungen in AfD-nahen Milieus? Sagen die sich nicht: Jetzt erst recht?

Ich denke schon. Deshalb sind die Parteikollegen ja auch entgeistert. Wir sehen das Phänomen, dass die „Koalition der Anständigen“ in Politik und Medien sehr klar steht. Viele Leute, die AfD-nahe Positionen vertreten, haben sich von dieser medialen Öffentlichkeit schon längst abgekoppelt und sich ins Netz zurückgezogen – von Ken FM über eigene Facebook-Gruppen und Telegram. Von einer Äußerung wie der von Wanderwitz fühlen diese Milieus sich wohl eher bestätigt.

Das Bild des „Zurückholens“ geht ja auf ein Verständnis zurück, dass auf der einen Seite des Grabens Demokraten und auf der anderen Antidemokraten stehen – und über eine schmale Brücke gibt es eine kleine Chance, die Menschen wieder ins Lager der Guten zurückzuholen. Stimmt dieses Bild?

Das ‚Rückholen‘ klingt tatsächlich eher nach Aussteigerprogramm. Wie definiert man den Bereich des zulässigen Wettbewerbs? Die deutsche Politik hat sich früh entschieden, entdifferenzierend zu wirken und bestimmte Diskurse gar nicht zu führen. Aber man kriegt Themen ja nicht weg, indem man nicht über sie spricht.

Um welche Diskurse geht es konkret?

Schon die Lucke-AfD wurde ja heftig kritisiert: Wer 2013 den europapolitischen Status quo infrage stellte, fiel damals ja schon fast aus dem Verfassungsbogen. Und natürlich hat die Flüchtlingskrise 2015 extrem polarisierend gewirkt. Wenn dann alles diesseits von Merkels Migrationspolitik demokratisch und alles jenseits davon undemokratisch sein soll, dann bekundet man zwar immer, man könne über alles reden, löst das aber nicht ein.

In der in Deutschland verbreiteten Deutung hat die Flüchtlingskrise die AfD 2017 stark gemacht. Nun ist das Thema – zumindest öffentlich – passé, aber die Partei ist in Umfragen zur Bundestagswahl nahe an ihrem Ergebnis von 2017. Wie ist das zu erklären?

Das Thema Migration war nie weg, das ist eine Selbsttäuschung der Parteien. Momentan überwiegt aber die Unzufriedenheit mit der Corona-Politik. Man sieht, wie die Werte der Bundesregierung im Februar aufgrund einer sprunghaft ansteigenden Unzufriedenheit mit der Pandemiepolitik eingebrochen sind. Es ist recht deutlich, dass von diesem Stimmungswechsel die AfD besonders profitiert.

Laut Ihrem Kollegen, dem Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder, speist sich die AfD vor allem aus dem Milieu der Politikfernen und Nichtwähler, die die AfD zurück an die Wahlurne geholt hat. Die einzige Möglichkeit, die AfD zu schwächen, bestünde dann darin, diese Menschen wieder zu Nichtwählern zu machen. Sehen Sie das ähnlich?

Diese Strategie gibt es, das haben die letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gezeigt. Da ist die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2016 um etwa zehn Prozent zurückgegangen, was nur zu einem Teil durch Corona bedingt ist. Dort, wo es 2016 starke Zuwächse der AfD gegeben hat, gab es 2021 eine sehr große Wahlenthaltung, es gibt da eine erstaunlich hohe Korrelation. Das heißt, die Leute werden nicht „zurückgeholt“, sondern sie werden in die Wahlenthaltung getrieben – teils zurückgetrieben, richtig, aber zu einem erheblichen Teil sind das frühere CDU- und SPD-Wähler. Diese Strategie mag für die etablierten Parteien funktionieren, aber auf längere Sicht nicht für die Gesellschaft.

Aber das hat doch seit Beginn der Bundesrepublik bis zuletzt gut funktioniert: Die 15 Prozent der Wähler, die rechtradikale bis rechtsextreme Positionen vertreten, waren im Bundestag nie vertreten.

Das kann man – glaube ich – nicht vergleichen. Die CDU von heute ist etwas völlig anderes als die der 50er-Jahre. Es ist ein sehr großer politischer Raum durch eine Politik entstanden, die sich sehr ins linksliberale Milieu verschoben hat. Der Streit zwischen Seehofer und Merkel ging ja letztendlich um das alte Strauß‘sche Credo: keine demokratisch legitimierte Partei rechts der CDU. Es ist offensichtlich, wer den Konflikt gewonnen hat. Zudem gab es in der Nachkriegsbundesrepublik eine lange Prosperitätsphase, die alle Bevölkerungsschichten mitgenommen hat. Das ist seit einiger Zeit nicht mehr der Fall. Wenn als Folge der liberale Konsens zerbricht, muss man darauf inhaltlich eine Antwort finden. Durch Dämonisierung bekommt man den Konflikt nicht weg.

Zuletzt ist ja in Schweden die „Brandmauer“ gefallen – dort arbeiten mehrere etablierte Parteien jetzt mit den rechtspopulistischen Schwedendemokraten zusammen. Würde eine Zusammenarbeit mit der AfD der Politik in Deutschland guttun?

Man muss sich vor allem den Themen stellen. Soll man immer mehr Politikkompetenz auf die europäische Ebene verlagern und den Nationalstaat schwächen? Sollen Schulden vergemeinschaftet werden? Soll man zulassen, dass wichtige Rechtsmaterien durch den EuGH geprägt und nicht mehr parlamentarisch entschieden werden? Das sind dringende Fragen, zu denen man mehrere legitime Meinungen haben kann. Solange man diese Debatten nicht ernsthaft führt, hat man nur Symboldiskussionen wie die der „Brandmauer“.

Zählt zu diesen Themen auch die Diskussion um den Rundfunkbeitrag?

Natürlich. Wenn die FDP in ihren Parteitagsbeschlüssen eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordert, macht sie das noch nicht zum Verfassungsfeind. Bestimmte Diskurse werden vorschnell durch pauschale Vorwürfe abzuwürgen versucht.

Wer macht diese Diskurse denn zu?

Vor allem die, die am Status quo ein Interesse haben – etwa wenn Rainald Becker, der im Hauptstadtbüro der ARD die Berichterstattung über die Bundestagswahl koordiniert, auf Twitter schreibt: „Die FDP will den ÖRR beschneiden und den Rundfunkbeitrag senken willkommen im Lager der Populisten“. Eigentlich ein Unding.

Ich habe den Eindruck, dass das Aufkommen der AfD die Diskussion nur noch schwieriger gemacht hat: Seit die AfD diese Themen besetzt hat, wird nun jede andere Partei, die diese Themen aufnimmt, als AfD-nah diffamiert.

Das sehe ich auch so. Ich nenne das eine populistische Konstellation. Zu der gehören aber zwei. Das haben wir während Corona erlebt. Jeder, der es wagte, Zweifel daran zu formulieren, ob Inzidenzen ein verlässlicher Entscheidungsfaktor für ein Pandemiemanagement sind, ob Ausgangssperren nach 21 Uhr wirklich infektionsrelevant sind, der war schnell Querdenkernah oder „goss Wasser auf die Mühlen der AfD“. Das sind am Ende nur Diskursunterbindungsstrategien.

Ist die AfD eine antidemokratische Partei?

Es gibt dort teils ethnische Homogenitätsvorstellungen, die darauf hinauslaufen, bestimmten Bürgern ihr Bürgerrecht aberkennen zu wollen – das sind extremistische Positionen, die sind relevant für die Überprüfung durch den Verfassungsschutz. Aber wir haben es ja hier mit strategischen Akteuren zu tun, die das natürlich wissen und antizipieren. Das macht ja die Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu einer rechtlichen Streitfrage.

Wie lange kann es gut gehen, über lange Zeit 25 Prozent der Wähler – auf solche Werte kommt die AfD im Osten der Republik – bei der Regierungsbildung zu ignorieren?

Eine Erklärung für die stabilen Zustimmungswerte ist das Privileg der AfD, immer auf der Oppositionsbank sitzen zu können. Von dort aus kann man wunderschön unverantwortlich sein. Der Lackmustest kommt nie. Das beschreibt auch die populistische Konstellation: Mit dem ewigen „Schulterschluss der Demokraten“ übernimmt man zugleich implizit die Deutung: Neupartei gegen „Altparteien“. Von jeglichem Unmut mit den bestehenden Verhältnissen kann dann die AfD profitieren. Man legt den Parteienwettbewerb zwischen den Parteien still, weil es ja dauernd um die Rettung der Demokratie als solcher geht. Wenn jeder Versuch, den Diskursraum zu öffnen, vom Bannstrahl getroffen wird, man mache nun „AfD light“, dann – um mal ein bisschen zu kalauern – macht man es der AfD leicht.

Ihr Kollege Wolfgang Schroeder ist der Meinung, dass es eine Korrelation gibt zwischen der Stärke der Grünen und jener der AfD: Die gefühlte Dominanz der weltoffenen, kosmopolitischen Grünen wird von Kommunitaristen, die sich bedroht fühlen, dadurch beantwortet, dass sie die AfD wählen. Was halten Sie von dieser Deutung?

Ich kritisiere an dieser Theorie die Annahme, das seien freie Wertentscheidungen und moralische Optionen: der eine ist tolerant, der andere intolerant, der eine kosmopolitisch, der andere national verbohrt. Das suggeriert, dass das eine Auszeichnungen und das andere Defekte wären. Das ist schon nicht sonderlich analytisch, sondern nur moralisch. Das erinnert an die pädagogische Sichtweise eines Wanderwitz: entweder man hat die richtigen Einstellungen oder man muss die Menschen halt abschreiben. Man müsste doch eigentlich fragen: Vor welchem Erfahrungshintergrund bilden sich welche Orientierungen aus? Dass es diese Milieus gibt und dass sie so wunderbar nichts miteinander zu tun haben, dass sie so frei sind, kompromisslos aufeinander einzuschlagen, ist ja richtig, beantwortet die Frage aber noch nicht, woher die Einstellungen kommen. Das ist zumindest für mich als Sozialwissenschaftler die interessantere Frage.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

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