Ukraine-Krieg - Das Versagen der deutschen Sicherheitspolitik

Die europäische Sicherheitsordnung zeigt schon seit langem starke Erosionstendenzen. Vor allem Deutschland hat die Bundeswehr vernachlässigt und an den Verteidigungsausgaben gespart. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zeigt wie unvorbereitet wir dastehen - zumal wir uns auf die Sicherheitsgarantien der USA immer weniger verlassen können.

Annalena Baerbock ist „in einer anderen Welt aufgewacht“. Aber in welcher ist sie eingeschlafen? / dpa
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Reinhard Wolf ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik an der Goethe-Universität, Frankfurt/M.

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Nach der russischen Invasion sagte Außenministerin Baerbock, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht“. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Satz in Riga oder Warschau ein bitteres Lachen provozierte. Viele Menschen dort werden sich gefragt haben, in welcher Welt die deutschen Verantwortungsträger denn zuvor eingeschlafen waren: In einer Welt, in der russische Truppen noch nicht in Georgien eingefallen waren? In einer Welt, in der Russland die Krim noch nicht gewaltsam annektiert hatte? Oder in einer Welt, in der die russische Luftwaffe noch nicht syrische Krankenhäuser bombardiert hatte?

Dass Putins Regime „die elementarsten Regeln der internationalen Ordnung“ bricht (Baerbock) und bei seinen „Militäraktionen“ wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nimmt, ist wirklich keine Neuigkeit. Geändert hat sich eigentlich nur das Ausmaß. Aber auch da war durchaus ein Trend zu erkennen.

Unser Problem ist, dass die Verantwortlichen in Berlin lange einfach nicht wahrhaben wollten, dass die europäische Sicherheitsordnung starke Erosionstendenzen zeigte, die gerade von Deutschland energische Gegenmaßnahmen erfordert hätten. Stattdessen handelte man nach dem sicherheitspolitischen Grundsatz „Gar so schlimm wird es schon nicht kommen (und wenn doch, werden sich die Amerikaner schon drum kümmern)“. So wurde die Bundeswehr weiter stark vernachlässigt und Präsident Macron mit höflich formulierten Bedenken abgespeist, wenn er Vorschläge für eine Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit unterbreitete. Weltniveau erreichte die deutsche Sicherheitspolitik im Grunde nur, wenn es wieder einmal darum ging, Argumente dafür zu finden, weshalb das 2014 vereinbarte 2%-Ziel der Nato eigentlich doch keine geeignete Zielgröße für die Verteidigungsausgaben darstelle. (Seit dem vergangenen Wochenende erscheint es plötzlich nicht mehr ganz so absurd.)

Etwas zynisch könnte man nun geltend machen, dass diese Politik über Jahrzehnte recht erfolgreich war – jedenfalls für Deutschland. Zumindest ermöglichte sie einen schlanken Wehretat und ersparte manchen Parteien unangenehme Debatten über „Militarisierung“ und „Aufrüstung“. Warum sollte es nicht noch einige Zeit so weitergehen? Zumindest bis zum Beginn der nächsten Legislaturperiode, wenn man im Amt bestätigt sein würde oder eben eine andere Regierung die Kritik der westlichen Partner würde einstecken müssen?

Die Sicherung Europas ist nicht länger oberste Priorität der USA

Dass eine verantwortungsbewusste Politik hätte umsteuern müssen, war eigentlich schon seit Jahren klar. Ein erster Weckruf hätte der „Schwenk nach Asien“ sein müssen, den US-Präsident Obama im Herbst 2011 ankündigte. Seitdem steigt das Risiko, dass die Sicherung Europas nicht länger oberste Priorität der USA ist. Spätestens in dieser Phase hätte sich Deutschland darauf einstellen müssen, dass die Europäer, allen voran Deutschland als größte Volkswirtschaft, viel mehr Eigenverantwortung würden übernehmen müssen. In den letzten Jahren zeichnete sich ein kalter Krieg zwischen Amerika und China immer deutlicher ab. Eine militärische Auseinandersetzung um Taiwan oder andere umstrittene Inseln ist keineswegs mehr ausgeschlossen. Die Folgen für die Nato wären kaum abzusehen.

Noch alarmierender als die bedrohliche Lage im Pazifik hätte allerdings der Aufstieg Donald Trumps wirken müssen. 2018 hätte er auf dem Nato-Gipfel fast den Austritt aus der Allianz erklärt, vor allem aus Verärgerung darüber, dass Deutschland seit Jahren so weit unter dem 2%-Ziel blieb und wenig Anstalten machte, dies zu ändern. 2021 rief er nach einer hauchdünn verlorenen Wahl (in den entscheidenden Bundesstaaten fehlten insgesamt nur 43.000 Stimmen) zu einem Umsturzversuch auf, der die amerikanische Demokratie in ihren Grundfesten erschütterte – was Trump aber kaum schadete. Bis heute kann er sich großer politischer Unterstützung erfreuen. Die Chancen für seine Wiederwahl standen bald schon wieder gut. Eine weitere knappe Wahlniederlage könnte hingegen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen führen. Die Folgen für die amerikanische Verfassungsordnung wären womöglich noch drastischer. Man weiß also schon seit mehreren Jahren, dass die Zukunft der amerikanischen Sicherheitsgarantien ungewiss ist.

Doch wie haben die Verantwortlichen in Berlin darauf reagiert? Welche Vorkehrungen haben sie für den Fall getroffen, dass es zu einem Krieg zwischen den USA und China kommt, oder die USA aus der Nato austreten, oder dass ein Kampf um die politische Ordnung der USA ausbricht, der das Land außenpolitisch lähmt? Offenbar keine. Wie Deutschland in solchen Szenarien seinen Beistandsverpflichtungen im Rahmen von Nato und EU nachkommen wollte, bleibt das Geheimnis der politischen Elite. Der beklagenswerte Zustand der Bundeswehr und die bisherige Weigerung, daran etwas Wesentliches zu ändern, lassen eigentlich nur die Schlussfolgerung zu, dass die amtierende Bundesregierung und ihre Vorgängerin in Kauf genommen haben, dass Vertragspartner im Baltikum in solchen Eventualfällen ohne wirksamen Schutz geblieben wären. Jedenfalls sah man keine Notwendigkeit, Deutschlands Fähigkeiten rasch so zu steigern, dass man dort einen effektiven Beitrag zu Abschreckung und Verteidigung hätte leisten können.

Mangel an Vorstellungsvermögen

Als Bürger fragt man sich seit Jahren, weshalb unsere Regierungen und die sie tragenden Parteien solche Risiken so wenig ernst genommen haben. Nach den jüngsten Offenbarungen von Heeresinspekteur, Wehrbeauftragter und Verteidigungsministerin bleiben nur noch Empörung und Fassungslosigkeit. Wie kann es sein, dass Kabinettsmitglieder, die unter anderem geschworen haben, vom deutschen Volk „Schaden zu wenden“ und ihre „Pflichten gewissenhaft [zu] erfüllen“, über Jahre hinweg die eigenen Streitkräfte so haben ausbluten lassen, dass sie ihre Beistandsverpflichtungen höchstens unter günstigen Rahmenbedingungen erfüllen könnten? Liegt es vielleicht daran, dass die Bedrohung oder Eroberung von Estland Deutschland nicht schaden würde? Angesichts der dramatischen Konsequenzen, welche so ein Szenario für EU und Nato hätte, kann man kaum glauben, dass unsere Entscheidungsträger so denken.

Plausiblere Erklärungen für solche Fahrlässigkeit sind Bequemlichkeit und ein Mangel an politischer Phantasie. Natürlich sind Regierende und Abgeordnete nicht faul gewesen. Aber wenn es um die Stärkung der Streitkräfte ging, war es meist wohl einfacher, im politischen Strom mitzuschwimmen als den Störenfried zu spielen, der in Partei, Fraktion oder Kabinett konsequent auf eine Kehrtwende dringt. Da sehr viele sich so verhielten, verteilte sich die Verantwortung ja auch so schön auf zahlreiche Schultern. Und wer dann doch mal – erfolglos – eine Wende anmahnte, konnte sich schnell damit trösten, dass man ja seinen oder ihren Teil versucht hatte. Wozu gleich mit Rücktritt drohen?

Hinzu kommt bei vielen vermutlich ein Mangel an Vorstellungsvermögen. Gerade für die jüngeren Generationen sind katastrophale Umbrüche der internationalen Politik nur etwas für die Geschichtsbücher. Man liest vielleicht davon, wie Ordnungen oder Reiche plötzlich zusammenbrachen. Aber dass so etwas auch in unserer modernen Zeit passieren könnte, übersteigt offenbar den Horizont. Gegenwart und Zukunft sind doch schon ausgefüllt mit Pandemien und Umweltkatastrophen. Für andere Zeitenwenden scheint da wenig Platz, schon gar nicht für Angriffskriege, welche die grundlegenden internationalen Institutionen gefährden.

Putin hat uns jetzt eines Besseren belehrt. Auch wenn es zynisch klingen mag: Vielleicht müssen wir ihm am Ende noch dankbar dafür sein, dass er es jetzt schon getan hat, statt zu warten, bis das transatlantische Band womöglich ganz ausgefranst ist. Eventuell haben wir Deutsche noch einmal etwas Glück gehabt. Das Glück des Tüchtigen wäre es nicht.

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