Wählen und wählen lassen - Die Abweichler von der Pommesbude

Die gestrige Nachbetrachtung des Triells bei Anne Will hat vor allem eines gezeigt: Im Kampf um die immer kleiner werdende Mitte werden die einstigen Volksparteien immer steriler. Am Ende steht ein peinlicher Waschzwang.

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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Kennen Sie das auch aus ihrer Kindheit: Wann immer die Großeltern vorbeikamen – so vier-, fünfmal in einem Jahr – wurde zuvor das Tafelsilber gewienert, und in der Wohnung war Großreinemachen. Mochte das Familienleben an den trivialen Wochentagen auch noch so fad und stillos sein, plötzlich regierte der Schein ein letztes Mal über das Bewusstsein. Ganz ähnlich ist es dieser Tage auch in der Politik: Der demokratische Zyklus kommt an sein Ende, und der Wähler hat seinen Besuch angekündigt. Da ist Hektik in den Parteizentralen. Plötzlich zeigen selbst die Kandidaten nicht mehr Zunge, sondern Zucker: die Steuern sollen nicht mehr erhöht werden, die Digitalisierung nimmt jetzt richtig Fahrt auf, selbst die Renten sind, glaubt man dem SPD-Kandidaten Olaf Scholz, auf einmal wieder rundum sicher.

Bella figura eben, wie einst daheim in der Familie. Nun ist es in letzterer aber meistens so, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht will. Meistens sind es die Kinder, die der Aufklärung das Wort reden. Gestern, während der Nachbetrachtung des großen Triells der Kanzlerkandidaten in der ARD, fiel diese Aufgabe dem Welt-Journalisten Robin Alexander zu. In illustrer Runde bei Anne Will, zusammen mit Jens Spahn (CDU), Malu Dreyer (SPD), Katrin Göring-Eckhardt (Die Grünen) und der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, plauderte Alexander aus, was eigentlich keiner wissen sollte. Nachdem sich Jens Spahn nämlich darüber gewundert hatte, dass, anders als zunächst angekündigt, Malu Dreyer und nicht Saskia Esken für die SPD in den cremefarbenen Klumpsesseln im ARD-Studio in Adlershof Platz genommen hatte, war plötzlich Schweigen in der Runde. Könnte es vielleicht sein, so mutmaßte Spahn, dass die SPD in diesen Tagen alles unter Deck halten wolle, was sich für Rot-Rot-Grün und somit für eine Koalition mit der in Teilen vom Verfassungsschutz beobachteten Linkspartei aussprechen könnte? 

Esken macht blau

Der Verdacht war kaum über die Lippen gebracht, da machte sich auch schon Empörung breit. Während Malu Dreyer ein abwatschendes Lächeln aufsetzte, kanzelte Anne Will Spahns Interpretation als „Verschwörungserzählung“ ab. Saskia Esken habe einfach abgesagt, mehr stecke nicht dahinter. Und just in diesem Moment also plauderte Robin Alexander munter drauflos: „Aber ich habe sie doch gesehen, sie war eben an der Pommesbude – keine 300 Meter von hier.“ Wieder Schweigen: betroffen, irritiert, so wie damals in den Kindheitstagen. Journalistenmund tut Wahrheit kund.

Doch so wie damals gab es auch gestern keinerlei Aufklärung über die brisante Situation. Stattdessen zog jetzt ein jeder die Saskia Esken des je anderen aus dem Hut: Bei den Grünen heißt der Problemfall an der Frittenschmiede Boris Palmer, bei der CDU Hans-Georg Maaßen. Was folgte, war ein Reinigungsritual der Extraklasse. Denn jeder musste sich nun fernsehwirksam von dem Fettflecken in seiner Partei distanzieren. Eine Politneurose,  wie sie typisch zu sein scheint für einen Wahlkampf am Ende der Ära Merkel. 

Denn früher, als Parteien noch Volksparteien waren, hat man die Ränder einfach in sich aufgenommen. Diskurs war da noch kein Übel, sondern demokratietheoretische Notwendigkeit. Heute indes, im Kampf um eine immer kleiner werdende Mitte, versucht man jeglichen Dissens wegzuwienern. Das Ergebnis: Politik als Waschzwang.

Vielleicht wirken auch deshalb die Talkrunden am Vorabend des Wahlsonntags so grässlich steril. Eines ist mir nach einer langweiligen Stunde mit Anne Will wieder richtig klar geworden: Politik gehört an die Pommesbude!

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