Triage - „Diese Last kann man doch nicht in Gesetze fassen“

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Bundestag unverzüglich gesetzliche Regelungen zur sogenannten Triage ausarbeiten muss. Der Notfall- und Katastrophenmediziner Hans Anton Adams erklärt, warum er von einer gesetzlichen Regelung nichts hält und was Triage im medizinischen Alltag bedeutet.

„Es gibt kein Ansehen der Person“, sagt Hans Anton Adams. / dpa
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Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Wenn die Intensivbetten wegen Corona knapp werden, könnten Ärzte gezwungen sein, die Triage anzuwenden: Sie müssten etwa entscheiden, welcher Patient einen Platz am Beatmungsgerät erhält und welcher nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat nun ein Gesetz angemahnt, das sicherstellen soll, dass Menschen mit Behinderung bei der Verteilung von Intensivbetten nicht benachteiligt werden. Hans Anton Adams ist Professor für Anästhesie und Operative Intensivmedizin im Ruhestand. Er war Leiter der Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Im Interview berichtet er, in welchen Situationen Ärzte gezwungen sind, die sogenannte Triage anzuwenden, auf welcher Grundlage solche Entscheidungen getroffen werden und warum er nichts von einer gesetzlichen Regelung hält. 

Herr Adams, zwar haben die medizinischen Fachgesellschaften Leitlinien veröffentlicht, nach welchen Grundsätzen entschieden werden soll, wenn es zu wenige Intensivbetten für alle Patienten gibt. Zentraler Punkt ist, die Patienten danach auszuwählen, wie groß die Erfolgsaussichten der Behandlung sind. Es gibt also Empfehlungen, aber keine gesetzliche Regelung. Ist das ein Manko? 

Nein, das ist kein Manko. Es gibt ja viele Dinge, die gut laufen, ohne geregelt zu sein. Und manches ist kaum angemessen in Worte zu fassen. Dass man jetzt explizite Regeln für die Triage schaffen will, das halte ich für unglücklich. 

Die neun Menschen, die Verfassungsbeschwerde eingereicht haben, leiden alle an Vorerkrankungen oder haben Behinderungen. Sie sind in Sorge, im Fall einer pandemiebedingten Triage benachteiligt zu werden. Sie fürchten, vorzeitig aufgegeben zu werden, wegen ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben, wenn keine gesetzlichen Vorgaben existieren, die sie schützen. 

Der Begriff der Behinderung ist ja sehr weit. Nehmen wir einmal an, jemand hätte eine Extremität, etwa ein Bein verloren. In diesem Sinne wäre er behindert. Aber diese Behinderung hätte keinerlei Auswirkungen auf seine Überlebensperspektive bei einer schweren Corona-Erkrankung. Wenn er aber gravierendste Grunderkrankungen hat wie ein Tumorleiden oder eine Immunsuppression nach einer Organtransplantation, dann gilt das nach üblichen Vorstellungen nicht als Behinderung. Trotzdem hat er deutlich schlechtere Überlebenschancen. Der Begriff Behinderung ist eigentlich fehl am Platz. Behindert zu sein ist kein Aspekt, der sich einfach in Worte fassen ließe. Ich kann ihn nicht in eine Skala hineinpressen, weil es an der Realität vorbeigeht.  

Der medizinische Begriff „Triage“ kommt ursprünglich aus der Militärmedizin. Worum geht es genau, wenn wir von Triage reden? 

Baron Dominique Jean Larrey war Leibchirurg von Napoleon Bonaparte und ein bedeutender Militärmediziner. Er hat die „fliegende Feldambulanz“ erfunden, das heißt, er ist zu den Verwundeten auf dem Schlachtfeld hingeeilt und hat sie sich nicht bringen lassen. Das ist sein Verdienst. Und er hat eine Graduierung vorgenommen, wer ist hoffnungslos und wem kann man noch helfen. Auf ihn wird normalerweise der Begriff „Triage“ zurückgeführt, er steht für ein sinnvolles Aussondern oder Auswählen.  

War es aber nicht so, das damals die Soldaten, die die beste Aussicht auf Genesung hatten, zuerst gerettet wurden und nicht die Menschen, die Hilfe am nötigsten hatten? Schließlich ging es darum, Soldaten möglichst schnell wieder ins Feld zu schicken. 

Das wird heute von Zivilisten, das muss ich mal so boshaft sagen, leicht unterstellt (ich war 16 1/2 Jahre im Sanitätsdienst der Marine). Natürlich war jeder Truppenführer daran interessiert, die Leichtverletzten ins Feld zurückzuführen; das ist doch nachvollziehbar. Aber die Militärärzte haben grundsätzlich im Sinne ihrer Verwundeten gehandelt und gedacht. 

Von Aussondern sollte man daher wohl besser nicht sprechen?  

Hans Anton Adams / privat

Im Rettungsdienst und Katastrophenschutz wird daher schon länger der Begriff „Sichtung“ benutzt. Kommt ein Arzt als erster an eine Unfallstelle mit mehreren Verletzten, dann muss er sich ein Bild von allen Verletzten machen, indem er sie „sichtet“, und dann eine Reihenfolge der Behandlungsdringlichkeit festsetzen. Da gibt es vier Kategorien, Sichtungskategorie 1 heißt, sofort behandeln, weil der Patient sonst stirbt – etwa bei einem verlegten Atemweg oder einer spritzenden Blutung. Die Sichtungskategorie 2 bedeutet, der Mensch ist schwer verletzt, aber nicht sofort behandlungsbedürftig – er hat vielleicht eine stumpfe Bauchverletzung. Sichtungskategorie 3 bedeutet leicht verletzt, zum Beispiel ein gebrochener Arm. Und Sichtungskategorie 4 heißt unter den gegebenen Umständen hoffnungslos. Unter den Umständen, die ich jetzt in dieser Situation habe, mit dem Personal und Material, das vor Ort ist, kann ich diesem Menschen nicht helfen, ohne andere mit besserer Aussicht zu vernachlässigen. Das ist diese Gedankenwelt. Und im Rettungsdienst Alltag.  

Den Sie oft genug erlebt haben … 

Ich erinnere mich an einen Hubschraubereinsatz. Sie kommen an den Unfallort, sehen aus der Luft, da steht ein Auto, vor dem Auto liegt ein Motorrad und dabei ein Mensch, und weit hinten im Acker eine weitere Person. Sie haben aber nur zwei Leute, also teilen sie sich auf, einer läuft nach links, einer nach rechts. Ich stelle fest, dass der junge Mann, der vor dem Auto liegt, schwerstgeschädigt ist, keine Lebenszeichen von sich gibt. Während die zweite Person hinten im Acker noch lebt. Also kann man sich nur um die zweite Person kümmern und nicht damit anfangen, den bereits klinisch Toten wiederbeleben zu wollen. Das habe ich in ganz plastischer Erinnerung: die Entscheidung, dass ich jemanden bewusst aufgebe, wenn ich sage, hier kann ich nicht reanimieren, hier muss ich mich um den kümmern, der die besseren Chancen hat. Da muss es gleichgültig sein, ob das ein hübscher Mensch, ein junger Mensch, ein Mann oder eine Frau ist, da geht es nur darum, wer noch eine Chance hat – es gibt ansonsten kein Ansehen der Person. 

Ärzte, die ja eigentlich retten wollen, müssen auswählen, wer wahrscheinlich weiterleben kann und wer nicht. Wer trifft in einer solchen Notfallsituation die Entscheidung?  

Die trifft das vor Ort tätige Team. Ich will es einem plastischen Beispiel beschreiben. Ein alter Mensch liegt da, Sie überlegen ganz kurz, ob Sie ihn wiederbeleben sollen oder nicht. Da ist der Notarzt, da sind ein bis drei Rettungskräfte, Notfallsanitäter. Der Verantwortliche vor Ort wäre der Notarzt, der muss die Entscheidung letztlich treffen, aber er muss es im Konsens tun. Es wird keine demokratische Abstimmung geben. Man schaut in die Runde und einer, das muss der Erfahrenste sein, sagt: „Ich nehme an, hier können wir nichts mehr machen. Oder ist jemand anderer Meinung?“ Und dann schaut man sich in die Augen und hat die Entscheidung getroffen. Wenn einer wirklich der Meinung ist, wir müssen das versuchen, dann wird es versucht.  

Das eine ist, einen Menschen nicht wiederzubeleben. Ein anderes – auch davor haben die Menschen in der Corona-Pandemie Angst –, die Geräte eines Totkranken abzuschalten, um Platz für einen anderen Patienten zu schaffen. Ist dieses Szenario wahrscheinlich?  

Selbst im kleinen Krankenhaus stellt sich auf der Intensivstation die Frage, was können wir noch machen, wenn noch ein Patient ins Haus kommt, der eine Beatmungsmaschine braucht? Das Äußerste wäre, jemanden aufzugeben, der bereits beatmet ist. Die Situation ist mir in meiner Laufbahn nicht passiert. Sie ist nahezu unerträglich. Ich denke aber, man muss, bevor man eine solche Entscheidung trifft, erst einmal jede Ressource im Krankenhaus mobilisieren, jedes mobile Beatmungsgerät, jedes Narkosegerät, das irgendwo steht. Das alles könnte dann ja genutzt werden. Man könnte mit einem Narkosegerät aus dem OP eine Überbrückung schaffen und sich um eine Verlegung kümmern. Und dann ist es eigentlich nicht denkbar, dass man jemanden ausschalten muss. Ich kann mir kein Krankenhaus vorstellen, in dem alle Intensivbeatmungsgeräte, alle Notfallbeatmungsgeräte und Narkosegeräte in Betrieb sind, und dann kommt immer noch ein Notfallpatient. Das halte ich in Deutschland derzeit für nicht vorstellbar. Und man muss keine Gesetzesregeln für jedwede Extremlage schaffen, da würde man keine Grenze mehr finden. 

Sind solche Pandemie-Szenarien dann Panikmache? 

Da befinde ich mich jetzt auf Glatteis. Ich will nicht von Panikmache sprechen, vielleicht will man impfunwilligen Menschen drastische Szenarien und letzte Konsequenzen vor Augen führen, um sie wachzurütteln, um sie dazu zu bringen, sich doch noch impfen zu lassen. Denn jeder denkt ja, mich erwischt es ja nicht. Sonst würde er sich ja impfen lassen.  

Wenn Sie jetzt auf Ihre lange Geschichte als Notfall- und Katastrophenmediziner zurücksehen, gibt es da Ereignisse, die Ihnen besonders nahegegangen sind? 

Da gab es noch eine ganz langgezogene Unfallstelle, dort waren drei Notärzte im Einsatz. Man läuft da wirklich im Laufschritt durch und schaut überall, was los ist. Und im letzten Auto, da liegt ein neunjähriges Kind mit schwerstem Schock, und ein niedergelassener Kollege kümmert sich, so gut er kann. Da habe ich einen Notarzt von einer sehr alten Dame abgezogen und zu dem Kind gestellt. Ganz bewusst. „Lassen Sie die Oma sausen und kümmern Sie sich um das Kind.“ Das rutschte mir so raus. Die alte Frau wurde nicht ins Nichts geworfen. Sie war eben überlebensfähig, ohne dass sich jemand so intensiv kümmern musste wie bei dem Kind. Das musste sofort intubiert und transportiert werden. Das Kind hat übrigens überlebt. Und die alte Dame auch.  

Es gibt ja auch Ärzte, die sagen, es würde ihnen mehr Sicherheit geben, wenn es eine gesetzliche Regelung für die Triage gäbe, an der sie sich orientieren könnten. Sie sehen das anders, warum? 

Ja natürlich! Stellen Sie sich vor, sie kommen morgens auf die Intensivstation, und der noch jüngere Nachtdienst-Arzt sagt: „Ich habe alles gemacht.“ Ja, da hat er seine Sicherheit! Er hat alles gemacht. Aber ob es richtig war, das alles zu tun? Die Patientin ist 101 Jahre alt und hatte einen Gefäßverschluss im Bein. Nachts wurde sie amputiert. Bei der Visite stellt sich heraus, es müsste eigentlich nachamputiert werden. Außerdem hat der Assistenzarzt der Nacht schon die Dialyse bestellt, die Nierenwäsche, weil er in den Laborwerten festgestellt hat, dass die Nierenwerte nicht gut sind. Das sind so Situationen, bei denen der in die Ärzteschaft hineingetragene Absicherunsgedanke deutlich wird. Und dann kommen zwei alte Damen und sagen, was tun Sie da, machen Sie das doch nicht. Das wollen wir nicht. Das wollte unsere Freundin auch nicht. Und dann sagt man, wir machen jetzt gar nichts mehr, wir sorgen aber für Schmerzfreiheit. Die Frau konnte in Frieden sterben. Die meisten Ärzte machen ihre Arbeit doch aus dem Herzen heraus. So wie sie selbst behandelt sein wollen, so sollten sie vorgehen. 

Es gibt viele Nuancen; ich denke auch an einen Herzchirurgen. Er hatte einer Patientin geraten, sich operieren zu lassen, dann ginge es ihr besser. Und dann sehen sie den Verlauf, der sich verschlechtert und absehbar zum Tod führen wird. Sie machen das dem chirurgischen Kollegen klar, aber der sagt: „Wir könnten doch noch das und das und jenes machen.“ Am nächsten Morgen kommt der Herzchirurg wieder und sagt: „Ich weiß ja, ist ja gut.“ Der hatte eine Nacht, um darüber zu schlafen. Er hat sich Gedanken gemacht. Er hatte der Patientin ja zu dieser OP geraten. Was ist das für eine Last, die er mit sich trägt. Und diese Last kann man doch nicht in Gesetze fassen. 

Die Fragen stellte Ulrike Moser.

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