Tod einer Radfahrerin - Bilanz eines Medienversagens

Tragen die Berliner Klimaaktivisten eine Mitschuld am Tod einer Frau, die von einem Betonmischer überrollt wurde? Eines ist klar: Die Berichterstattung bestimmter Medien, allen voran der Süddeutschen Zeitung, ist ein Fall für den Presserat.

Einsatzkräfte stehen am 31. Oktober am Unfallort in Berlin-Wilmersdorf. Hier wurde eine Radfahrerin von einem Betonmischer überrollt, kurze Zeit später verstarb sie / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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„Ihr Körper war durchbohrt von tausenden Metallstäben, die ihre völlig zertrümmerten Knochen stabilisierten. Und unzählige Schläuche endeten in ihrer Haut. Ich hielt vorsichtig ihren Kopf. Ich habe mich dann von ihr verabschiedet, soweit das möglich war.“

Anja Umann, Zwillingsschwester der am 31. Oktober in Berlin durch einen Betonlastwagen getöteten Radfahrerin Sandra, im Gespräch mit dem Spiegel.

Seinen Coup hatte sich Redakteur Ronen Steinke für den Schluss seines Vierspalters aufgehoben. Laut Überschrift sollte es darin eigentlich ganz sachlich um rechtliche Aspekte der Blockaden gehen. Doch das war wohl nicht aufregend genug. Nichts wäre anders oder besser gelaufen, so das neue, von ihm geschaffene Narrativ mit dem Zeug zum Game Changer, hätte der Rüstwagen der Berliner Feuerwehr an jenem Morgen des 31. Oktober nicht im Stau gestanden, sondern wäre gleichzeitig mit der Notärztin am Unfallort eingetroffen.

Das gehe aus einem „Vermerk“ des Ärztlichen Leiters des Berliner Rettungsdienstes hervor, den Steinke habe „einsehen“ können - und mit dem als Grundlage das Blatt nicht nur die Debatte in eine neue Richtung schob, sondern auch eine sagenhafte Reichweite online wie offline erzielte, was für jeden Verlag bares Geld und flächendeckend unbezahlbare Werbung bedeutet.

Die Notärztin hätte in jedem Fall veranlasst, so die Botschaft der Süddeutschen Zeitung, dass der Motor des Unglückslasters erneut angeworfen wird, um den 26-Tonner aus eigener Kraft ein Stück nach vorne zu bewegen. Dass der Körper der unter ihm eingeklemmten Schwerstverletzten dadurch ein weiteres Mal überrollt werde mit den oben von der Schwester beschriebenen Folgen, hätte die Notärztin, so der Vermerk, in Anbetracht der Lage auch dann in Kauf genommen, hätte die Alternative bestanden, den Betonmischer anzuheben. Denn das hätte ihr angesichts der überaus kritischen Lage der Patientin zu lange gedauert.

Coup für die Süddeutsche 

Steinke ist lange genug im Geschäft, um den Knalleffekt seiner Worte bereits beim Verfassen seines Artikels zutreffend einzuschätzen. Tatsächlich erregte die von der Redaktion am Freitag, fast parallel zur amtlichen Mitteilung, die Patientin sei auf der Intensivstation verstorben, bereits vorab für die Agenturen verfasste „Exklusivmeldung“ im Nu europaweit Aufsehen und lief – was jede Chefredaktion endlos begeistert – stündlich durch die Nachrichten und Newsportale. Tenor: „Notärztin entlastet Klima-Aktivisten“.

Die Meldung schien geeignet, die Empörung und Verdammung über jene ein weiteres Mal stauauslösenden Mitglieder der „Letzten Generation“ als unbegründet zu entlarven, mindestens aber zu relativieren, die nach dem tödlichen Unfall über jene hereingebrochen war und bis zum Freitag anhalten sollte - bis eben die Süddeutsche quasi das Rückspiel einläutete. Linksradikale, Klimaaktivisten und Sympathisanten sahen sich nach einer schwierigen Woche nicht länger in der Defensive, sondern witterten Morgenluft und schlugen zurück: „Jetzt müssen die Hetzer, Politiker, Polizeigewerkschafter, Springer-'Journalisten' (eigentlich über Hetzer abgedeckt) und Klimawandelleugner aber wirklich ganz stark sein... Alles vollkommener Mumpitz, was sie sich in den letzten Tagen zurecht gebogen und gelogen haben.“ Twitter-Kommentar (anonym)

Tatsächlich hatte zuvor auch das gegnerische Lager bereits publizistisch kräftig zugelangt. „Radfahrerin (44) hirntot - Das ist auch Eure Schuld, Ihr Klima-Kleber!“ wetterte Bild. Die Polizeigewerkschaft erklärte, es sei „an der Zeit, sich vom Märchen des harmlosen Protests“ zu verabschieden. Und die Behörden ermitteln wegen des Verdachts unterlassener Hilfeleistung und der Behinderung hilfeleistender Personen. Alles in Wirklichkeit nur eine neue große miese Kampagne gegen das Wahre, Schöne, Gute, wie stets orchestriert vom verdorbenen und geldgeilen Axel-Springer-Verlag?

Ungeeignete Kronzeugen

Das von der Süddeutschen Zeitung auf Aktivistenseite erzeugte Gefühl des Triumphes sollte nicht lange andauern. Redakteur Steinke hatte sich, wie sich keine 48 Stunden später herausstellen sollte, für seine aufsehenerregenden Entlastungsthesen ein bis zwei hinreichend ungeeignete Kronzeugen gesucht.

Der von ihm zitierte Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes war zum Zeitpunkt seiner Bewertung nach unwidersprochenen Schilderungen nicht nur im Urlaub, urteilte also per Ferndiagnose und ignorierte dabei die Vertretungsregel, sondern ist zudem in der Berliner Feuerwehr mittlerweile derart diskreditiert, dass ihm von dort öffentlicher und regelrecht wütender Widerspruch entgegenschlug – und zwar detailliert per „Abschlussbericht“, also hochoffiziell und vermutlich mit leiser Billigung der zuständigen Innensenatorin Iris Spranger (SPD).

Aus diesem zitierte dann der Tagesspiegel eine Woche nach dem Unfall. Danach wäre der Rüstwagen ohne den von den Klimaaktivisten auf der Stadtautobahn verursachten Stau eine Minute nach der Notärztin eingetroffen. Eine Rettungsmethode, mit der das Unfallopfer besser und schonender unter dem Betonmischer hätte hervorgeholt werden können, wäre durch den Rüstwagen möglich gewesen. Stattdessen musste der Lkw erneut über das Unfallopfer gefahren werden.

Das Bein der Radfahrerin, so das Blatt unter Berufung auf den Abschlussbericht weiter, war zwischen den hinteren Zwillingsrädern des voll beladenen Betonmischers eingeklemmt. Doch der Rüstwagen, mit dessen Technik der Lkw hätte angehoben werden können, kam zu spät. Die Notärztin befand, dass wegen der schweren Verletzungen und des Zustands der Frau eine Sofortrettung nötig sei. Daraufhin habe sich der Einsatzleiter in den Betonmischer gesetzt und den Motor gestartet.

Der Tagesspiegel: „Er musste also erneut über die Frau rüber fahren. Eine Methode für Situationen, in denen gar nichts anderes mehr geht. Sie wird in den Vorschriften allerdings nicht empfohlen, erfahrene Retter raten sogar entschieden davon ab. Bundesweit gilt für die Feuerwehr: Lasten wie schwere Lkw werden angehoben oder maximal weggezogen - und nicht mit eigener Motorkraft weggefahren. Nach den Regeln wäre ein Rüstwagen nötig gewesen, heißt es aus der Feuerwehr. Vor allem gelte, dass Feuerwehrleute keine Unfallwagen fahren.“

„Rüstwagen kam zu spät“

Die Zeitung rekonstruierte zudem mit Hilfe der Feuerwehr die minutiösen Abläufe, wobei andere Quellen um wenige Minuten differierende Zeitangaben liefern und alle Angaben noch nicht völlig konsistent zu sein scheinen. Danach ging der erste Notruf von der Bundesallee um 8.20 Uhr ein. Daraufhin seien ein Rettungswagen sowie ein Lösch- und Hilfeleistungs-Feuerwehrauto losgeschickt worden, in der Wache Charlottenburg-Nord zusätzlich besagter Rüstwagen der Technischen Hilfe, ein Hubschrauber und ein Einsatzleitwagen.

Acht Minuten später sei das erste Feuerwehrauto am Unglücksort eingetroffen, weitere fünf Minuten später der Rettungswagen und der Einsatzleitwagen. Weitere drei Minuten habe es – so die Rekonstruktion – gedauert, bis die Notärztin zur Stelle war. Und noch einmal neun Minuten, bis der vom Stau auf der A 100 aufgehaltene Rüstwagen eintraf. Um 8.45 Uhr wird die Radfahrerin per Notlösung befreit. Zur selben Zeit trifft danach der Rüstwagen mit den Technikspezialisten ein, nach der Prognose der Feuerwehr wäre er ohne die Aktion der Klimaaktivisten bereits um 8.37 Uhr ankommen – eine Minute nach der Notärztin. Um 8.50 Uhr liegt das Unfallopfer im Rettungswagen. Der fährt laut Bericht um 9.11 Uhr los und ist 13 Minuten später im Virchow-Klinikum.

In ihrem Abschlussbericht legt sich die Feuerwehr laut Schilderung des Tagesspiegel fest: Der Rüstwagen kam durch die Aktion der Klimakleber und den von ihnen verursachten Stau acht Minuten zu spät – dabei hätte er fast genau mit der Notärztin bei dem Unfall sein sollen. Die sonst in solchen Fällen übliche „technische Beratung“ durch den Führer der Rüstwageneinheit gab es nicht. Andere Wege, als den Betonmischer von der Frau zu fahren, hatte der Einsatzleiter nicht – weil der Rüstwagen fehlte und die Notärztin – das darf man aus dem Bericht schließen – ultimativen Druck machte, die Frau unter dem Betonmischer hervorzuholen, egal wie.

Das SPD-affine Redaktionsnetzwerk Deutschland wusste auch das besser und rechnete so lange, bis der tatsächliche Zeitverlust auf angeblich nur noch drei Minuten geschrumpft war. Alles in allem ist das eine Denkweise, die die hinterbliebene Zwillingsschwester Anja Umann nach eigenem Bekunden ratlos und auch fassungslos macht: „Es ändert ja nichts daran, dass dieses Fahrzeug durch die Blockade nicht die Möglichkeit hatte, früher vor Ort zu sein. Die Tatsache, dass es behindert wurde, besteht ja weiterhin. Und es hätte ja ebenso gut sein können, dass dieses Fahrzeug das Leben meiner Schwester hätte retten können, wie zunächst anzunehmen war.“

Ein Fall für den Presserat

Unterdessen hieß es aus der Feuerwehr, besagte Notärztin habe gar nicht die Kompetenz, Fragen der optimalen Bergungsmethode zu beurteilen und zu entscheiden. Dass Dr. Poloczeks E-Mail ungefiltert und ohne Einordnung bei der Süddeutschen landete, sei ein aufklärungsbedürftiger Vorgang. Zudem habe die Notärztin offenbar keinen eigenen Vermerk geschrieben. Die Quelle der Erkenntnisse des Ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes sei damit unklar.

Der von den Aktivisten verursachte Stau habe sehr wohl Folgen für den Rettungseinsatz gehabt. Der Einsatzleiter habe am Unfallort überaus riskant und auch für ihn rechtlich gefährlich vorgehen müssen. Die Berliner Feuerwehr ist überzeugt: Ohne Stau und mit dem speziellen Rüstwagen hätte die Frau sicherer gerettet werden können. Der schwere Betonmischer hätte nicht erneut über die Patientin gefahren werden müssen.

Die Darstellung der Süddeutschen Zeitung, der von den Klimaaktivisten verursachte Stau habe keinen Einfluss auf die Versorgung der Radfahrerin nach dem Unfall gehabt, ist damit nicht haltbar und angesichts ihrer Folgen für die öffentliche Debatte ein Fall für den Presserat. Warum sie sich bei diesem hochumstrittenen, Politik und Bevölkerung nachvollziehbar heftig aufwühlenden Gegenstand voll auf die Seite der „Letzten Generation“ und damit implizit gegen das Unfallopfer und deren Hinterbliebene sowie die Feuerwehr stellt, bleibt Spekulation.

Ein gängiges Muster

Und dies, obwohl etwa Spiegel und Tagesspiegel deutlich vorsichtiger agierten und urteilten und – anders als die Süddeutsche – Wesentliches zur Klärung des Sachverhalts sowie ein erschütterndes, herzergreifendes Interview für die Lehrbücher beigetragen haben (wobei die Hamburger Wert auf die Feststellung legen, die Schwester des Unfallopfers sei auf die Redaktion zugekommen, es habe auf ihren ausdrücklichen Wunsch stattgefunden, nicht umgekehrt).

Es handelt sich um ein schon länger gängiges Muster dieser weit nach links-grün abgedrifteten Süddeutschen und gilt auch für andere emotional aufgeladene Themen wie Atomkraft, illegale Einwanderung oder Industrievertreibung. Möglicherweise genügte wieder einmal die scharfe Positionierung der Springer-Blätter: Was die schreiben und sagen, muss falsch, populistisch, rechts sein, und was sie anprangern, im Gegenteil richtig und moralisch geboten.

17 Fälle von Behinderung der Retter

Bild konterte mit Schlagzeilen wie „Die Wahrheit über die Schuld der Klima-Radikalen“ und „So schamlos reden sich die Klima-Extremisten raus“. Zur Wahrheit gehört aber, dass Vorwürfe wie „Er klebt, während eine Frau stirbt“ mindestens einen falschen Eindruck erwecken – und das wiederum ist Absicht der Bild-Redaktion. Wenn, wie sich auf Anfrage der FDP im Abgeordnetenhaus herausstellte, es tatsächlich eine „Mitschuld der Klima-Kriminellen“ (Bild) gibt, dann insofern, als durch Straßenblockaden von Klima-Demonstranten in Berlin bereits in 17 Fällen Einsätze der Feuerwehr behindert worden sind. Einige Male sei es dabei um die Wiederbelebung von Patienten durch einen Notarzt gegangen. 13mal kamen danach Helfer später als unvermeidlich; immer wieder stünden Rettungswagen mit Patienten auf dem Weg ins Krankenhaus im Stau.

Schuld am Tod der Radfahrerin sind die Akteure vom 31. Oktober nach allem, was man heute wissen kann, aber nicht. Dazu waren die Verletzungen wahrscheinlich bereits beim Eintreffen der Notärztin und vor dem neuerlichen, mangels Alternative notgedrungenen Manövrieren des Unglückslasters zu schwer. Die Staatsanwaltschaft will aber auch das genauer wissen und hat deshalb eine Obduktion des Opfers veranlasst. Sollte sich dabei – wenig wahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen – herausstellen, dass das absichtliche erneute Überrollen des eingeklemmten Beines als Todesursache in Betracht kommt, wird sich auch die Notärztin auf einige unangenehme Fragen einstellen müssen.

Insgesamt zeigt sich, dass die heftigen Zuspitzungen und Übertreibungen von Bild gar nicht notwendig gewesen wären: Die Sachlage ist auch so erschütternd genug, die Antworten auf die Fragen nach der Verantwortung liegen auf der Hand. Den Rest werden, diese Hoffnung ist gestattet, die Gerichte klären.

Protokoll wirft weitere Fragen auf

Davon abgesehen ist auch die von der Feuerwehr laut Tagesspiegel im Abschlussbericht genannte Chronologie der Ereignisse, Stau hin, Stau her, nicht zwingend ein Anlass zu Beifallsstürmen. Berlins Rettungswesen dürfte in Relation zur Einwohnerzahl zu den teuersten und aufwendigsten der Welt gehören. Eines der erfahrensten und traditionsreichsten ist es in jedem Fall.

In der Haut der Besatzung des ersten Lösch- und Hilfeleistungsfahrzeugs, das laut Bericht als erstes acht Minuten nach Alarmierung am Unfallort eintraf, zunächst aber vermutlich nicht viel ausrichten konnte, mochte man nicht stecken. Es dauerte nämlich weitere fünf Minuten, insgesamt also fast eine Viertelstunde, eine Ewigkeit in solcher Situation, bis der erste Rettungswagen am Unglücksort eintraf. Und dessen Besatzung musste dann – so der Bericht – ebenfalls zunächst noch ohne Notarzt auskommen, weil dieser erst 16 Minuten nach dem ersten Notruf zur Stelle war – die zweite Ewigkeit.

In einer Lage, deren Tragweite der Leitstelle nach eigener Darstellung – ein Einsatzleitwagen erscheint nur in schweren Fällen – unverzüglich klar war, erscheint das auch ohne jeden fremdinduzierten Autobahnstau bereits von den zeitlichen Abläufen her keine großartige Leistung. Nachdem die Radfahrerin endlich geborgen und 16 Minuten lang im Rettungswagen notdürftig stabilisiert worden war, brauchte dieser dann noch eine weitere Viertelstunde für den Weg in die nächste geeignete Klinik, wobei hier, das ist zu berücksichtigen, nur ein Krankenhaus der Maximalversorgung in Frage kam, weshalb wohl die Wahl fiel auf den Virchow-Campus der Charité an der Seestraße im Wedding.

Den man vom Unfallort ebenfalls idealerweise über die A 100 ansteuert, obwohl das ein Umweg ist, weil man sich sonst einmal längs durch die City West quälen muss, wo einen im Zweifelsfall der Empfang des hochgradig gefährdeten türkischen Vize-Botschafters mit einhergehender Vollsperrung des Stadtviertels zur Parkscheibe greifen lässt.

Chaotisierung durch den Senat

Wenn man also schon darangeht, diesen Tag und seine Folgen möglichst lückenlos zu rekonstruieren, dann sollte auch die Frage eine Rolle spielen, welchen Anteil die planmäßige Lahmlegung und Chaotisierung des Berliner Straßenverkehrs durch den rot-grün-roten Senat mittels immer neuer Sperrungen, menschenleere Dauerbaustellen, Bus- und Rad- und Pop-up-Spuren und ideologiegetriebene Schikanen aller Art an solchen Zeitverlusten in diesem konkreten Fall hat. Davon abgesehen genügt auch eine rechtzeitige Anmeldung einer Demo von zehn Hanseln des Komitees gegen die Ungerechtigkeit der Welt, um die Polizei zur halbtägigen Evakuierung des Großen Sterns plus Unter den Linden zu veranlassen.

Die Straße des 17. Juni ist ja ohnehin wegen Festivitäten und Freizeitbelangen aller Art halbjährlich komplett für den Autoverkehr gesperrt. Das liegt daran, dass Unterhaltung, Sport, Zerstreuung, Public Viewing, Silvester sowie kommerzieller Genuss aller Art für die Regierung dieser Hauptstadt völlig selbstverständlich Vorrang genießen gegenüber so unangenehmen Dingen wie Dienstleistung, Handwerk, Industrie oder sonstiger Erzeugung des Bruttoinlandsproduktes, allesamt lediglich geeignet, die Work-Life-Balance in unzumutbarer Weise aus derselben zu bringen. Da der Senat für eine solche Aufklärung eher nicht in Frage kommt, hätten hier Staatsanwaltschaft, Verteidiger des Unglücksfahrers und eventuelle Nebenklägerinnen eine dankbare Aufgabe.

Unbegründete Wehleidigkeit

Unterdessen beklagen die Klimaaktivisten eine „mediale Hetzjagd“ auf sie, ausgelöst durch die Ereignisse vom 31. Oktober. Da sei es „an der Zeit, eine Grenze zu ziehen“. Schließlich gehe es um einen übergeordneten Zweck, nämlich „das unfassbare Unrecht in unserer Gesellschaft nicht mehr hinzunehmen“. Man verlangt also Generalabsolution durch Heiligsprechung. Die „Geschichte“ habe gezeigt, dass „friedlicher ziviler Widerstand funktioniert“. Und: „Wir wussten, dass uns einiges entgegenschlagen wird. Wir wussten, dass wir uns viele Feinde machen würden. Weil wir Menschen unterbrechen. Weil wir stören. Weil wir das Schreckliche an die Öffentlichkeit bringen.“ Aber: „Dass ein ganzes Mediensystem sich gegen uns wenden würde, damit haben wir nicht gerechnet.“

Nur stimmt nicht einmal das. Die Wehleidigkeit ist kontrafaktisch. Im ZDF darf Luisa Neubauer ihr „tiefes Mitgefühl“ angesichts des Todes der Radfahrerin beteuern, verbunden mit der Versicherung, die „Klima-Gruppe“ habe stets deutlich gemacht, dass ihr Ziel gewesen sei, „niemanden zu gefährden“; man betrachte sich damit als unschuldig. Das Online-Portal Mimikama aus Österreich, laut Selbstbeschreibung höchst erfolgreich aktiv „gegen Falschmeldungen und Fake News“, erkennt gleich dutzendfach „mediale Fehlleistungen“, sei doch unter anderem unberücksichtigt geblieben, dass es die Polizei gewesen sei, die „für die Blockade von zwei Fahrspuren darunter sorgte“. Die Aktivisten hätten sich lediglich „oberhalb der Stadtautobahn an einer Schilderbrücke festgeklebt“, könnten für den Stau also eigentlich gar nichts.

Gegenoffensive nach kurzer Verunsicherung

Übermedien beschwert sich wie üblich über die skandalöse „Schamlosigkeit der Bild-Zeitung“ und wünscht sich „Deeskalation“ und ein Kommunikationsberater und Publizist namens Mirko Lange verlangt Berücksichtigung des Umstands, dass die Befreiung der überfahrenen Frau zuletzt völlig schnell und reibungslos funktioniert habe – „schneller“ (so der Experte), „als es mit Bergungsfahrzeug jemals möglich gewesen wäre“. Alles andere zu behaupten sei „dummer Unfug“. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland verweist auf die eigentlichen Behinderer von Rettungsfahrzeugen, nämlich „Baustellen, Unfälle, Berufsverkehr, Falschparker, Zweite-Reihe-Parker, nicht gebildete Rettungsgassen“, und in der taz erklärt Friedrich Küppersbusch, die „Spekulationen der Feuerwehr“ hätten sich als „haltlos“ erwiesen, weshalb sie als „Brandstifter“ zu benennen sei.

Dieselbe taz feiert einen Amtsrichter für seinen „Widerstand“, weil er einen Strafbefehl gegen eine Aktivistin der „Letzten Generation“ (in einem von bereits 174 anhängigen Strafverfahren) verweigere, denn die Klimakrise rechtfertige Protest. Und Anna Reimann findet im Spiegel die „ganze Aufregung falsch“, denn „nicht Klimaaktivisten haben eine Radfahrerin in Berlin getötet, sondern ein Fahrzeug. Nicht zum ersten Mal. Doch das scheint in Deutschland kaum jemanden zu stören.“

„Zu breit für Rettungsgasse“

Im übrigen, da ist man sich in der nach kurzem Innehalten wieder selbstbewussten medialen Sympathisantenszene einig, sei es ja nicht die Schuld der „Demonstranten“, wenn ein spezielles Hilfeleistungsfahrzeug der Berliner Feuerwehr „zu breit ist für eine Rettungsgasse“, während „die SZ-Recherche zur Schuldfrage“ – gemeint ist der erwähnte Aktenvermerk des umstrittenen Ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes auf unklarer Quellenbasis - allerorten als „wichtig“ gelobt wird.

So wichtig, dass der Deutschlandfunk einerseits zu jenem Zeitpunkt am vergangenen Wochenende in seiner Sendung „Debatte auf Abwegen“ erleichtert feststellen zu können glaubt: „Hinweise auf einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Tod der Radfahrerin und den Protesten der 'Letzten Generation' verschwinden zwar nach der SZ-Recherche weitgehend aus der Berichterstattung.“ Andererseits ist der Sender aber auch nach wie vor sehr besorgt: „Und doch setzt der Vorwurf indirekt weiterhin den Ton in der Debatte.“

Ermunterung durch Amtsrichter

Der erwähnte Amtsrichter aus dem Widerstand (Bezirk Tiergarten) nannte „die Klimakrise“ laut taz eine „objektiv dringliche Lage“ und „wissenschaftlich nicht zu bestreiten“. Bei einer Bewertung des Protestes sei das nur „mäßige politische Fortschreiten“ der Klimamaßnahmen, so das Blatt weiter, zu berücksichtigen. Die Handlungen der Beschuldigten, die für dreieinhalb Stunden die Kreuzung am Frankfurter Tor blockiert haben soll, seien in der Konsequenz „nicht verwerflich“.

Auch diese Nachricht hatte die Süddeutsche zunächst exklusiv – und auch sie sollte nicht folgenlos bleiben, denn das ließen sich 30 Frauen und Männer der „Letzten Generation“ nicht zweimal sagen. Amtsrichterlich und medial ermuntert und nun sogar vorab mit Freibrief ausgestattet, blockierten sie am Freitag dieselbe Kreuzung ein weiteres Mal, was im Berufsverkehr wiederum ein Chaos erzeugte. In diesem hing diesmal ein wegen seiner Spezialausrüstung zwölf Tonnen schwerer Rettungswagen für Schlaganfallpatienten fest. Er musste den Klima-Blockierern schließlich auf einer Strecke von 250 Metern über den Bürgersteig ausweichen.

Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei, unverändert uneinsichtig im Sinne der zitierten Medien, sagte, wer mutwillig Staus verursache und gar nicht gewährleisten könne, dass die Bildung von Rettungsgassen möglich sei, spiele mit Menschenleben: „Es ist unglaublich, wie grob fahrlässig die Klebenden mit der Gesundheit anderer Menschen umgehen.“

Der Tagesspiegel ergänzte in seinem Ereignisbericht, auch die Verursacher seien diesmal allerdings nicht unversehrt aus der Sache herausgekommen: „Nachdem Polizisten die auf der Fahrbahn am Frankfurter Tor festgeklebten Aktivisten abgelöst hatten, klagten einige von ihnen über Handverletzungen. Sie forderten laut Polizei ärztliche Behandlung, die Feuerwehr rückte mit mehreren Einsatzkräften an.“ Zwei Personen seien behandelt worden. „Auf Fotos sind leichte Hautabschürfungen an den Händen zu sehen.“

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