Thilo Sarrazin - „Hätte die SPD meine Fragen aufgegriffen, wäre sie noch die größte Arbeiterpartei“

Thilo Sarrazin will sich gegen den SPD-Parteiausschluss wehren und bis zum Bundesverfassungsgericht ziehen. Im Interview sagt er, die AfD würde es wohl nicht geben, hätten sich die Sozialdemokraten mit denselben Themen wie er beschäftigt. Immerhin Sigmar Gabriel habe offenbar verstanden

Thilo Sarrazin will bis zu seinem Lebensende Sozialdemokrat sein / Bastian Brauns
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Sarrazin, die Kreisschiedskommission Charlottenburg-Wilmersdorf hat entschieden, sie aus der SPD auszuschließen. Wie fühlt es sich an, kein Sozialdemokrat mehr zu sein?
Der Parteiausschluss ist erst dann wirksam, wenn alle Instanzen ausgeschöpft sind und er dann letztinstanzlich entschieden ist. Insofern werde ich noch mindestens fünf bis sechs Jahre Sozialdemokrat sein.

Sind Sie so zuversichtlich, dass Ihr Widerspruch bis dahin erfolgreich sein wird?
Ich gehe fest davon aus, dass wir in den nun folgenden Verfahren obsiegen werden. Erst muss sich jetzt die Landesschiedskommission Berlin damit befassen, danach die Bundesschiedskommission der Partei. Dann folgt der zivilrechtliche Klageweg bis zum Bundesgerichtshof und gegebenenfalls auch bis zum Bundesverfassungsgericht.

Sie werden am Ende dieses Weges wohl um die 80 Jahre alt sein. Warum tun Sie sich das an? Haben Sie nichts Besseres zu tun?
Ich habe in einem Sachbuch sachlich und nachvollziehbar argumentiert. Es ist ein unerhörter und beispielloser Vorgang, dass man deswegen aus einer Partei ausgeschlossen werden kann. Das stellt die innerparteiliche Demokratie infrage und damit auch unsere gesellschaftliche Demokratie.

Der SPD-Bundesvorstand, vertreten von Generalsekretär Lars Klingbeil, ist da anderer Ansicht. Die Parteiführung und viele in der Partei werfen Ihnen biologistisch begründeten Rassismus, insbesondere gegen Muslime vor.
In Bezug auf den Islam und die Muslime rede ich weder von Rasse noch von Biologie. Das sind frei erfundene Anwürfe, die in meinem Buch keine Entsprechung finden. Das Absurde ist doch, dass Sie an keiner Stelle in der Begründung der Entscheidung lesen können, dass die SPD sagt: Die vorliegenden Fakten sind falsch. Was mir vorgeworfen wird, ist, dass ich überhaupt bestimmte Fragen untersuche.

Und das halten Sie für nicht legitim?
Ich werfe den Antragstellern in dem Verfahren vor, dass sie sich letztlich gar nicht für die Sache interessiert haben. Eine vollkommen geistige Inadäquatheit gegenüber dem Thema und den von mir vorgelegten Fakten. In den vielen hundert Seiten Schriftsatz, die mir nun inklusive eines dicken Gutachtens vorliegen, steht nirgends: Diese Zahl oder dieses Faktum von Herrn Sarrazin ist falsch. Es ist unerhört, dass man sich auf die Sachebene gar nicht erst begibt. Der Generalsekretär hat in der mündlichen Verhandlung implizit deutlich gemacht, dass er mein Buch nicht mal gelesen hat und es auch nicht vorhat, zu tun.

Aber auf juristischem Weg wollen Sie nun Gerichte zwingen, sich mit ihren Argumenten zu beschäftigen?
Das wird sich erweisen. Man kann mich ja schwerlich wegen eines Buches ausschließen, dessen Inhalte man gar nicht zur Kenntnis nimmt.

Andrea Nahles scheiterte bereits 2015 damit, Sie aus der SPD zu werfen. Haben Sie sich dafür bei ihr bedankt?
Warum sollte ich das tun? Frau Nahles saß mir damals als Bundesgeschäftsführerin in dem Verfahren gegenüber. Die Schiedskommission machte deutlich, dass es zu einem Schiedsspruch im Sinne des SPD-Parteivorstandes nicht kommen würde. Die Sitzung wurde unterbrochen. Andrea Nahles hat mit ihrem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel telefoniert. Dann habe ich beiden durch meine folgende Erklärung eine goldene Brücke gebaut, die ihnen einen gesichtswahrenden Ausweg ermöglichte, sodass sie den Antrag zurückziehen konnten. Das würde ich heute vielleicht so nicht mehr machen.

Der heutige Parteivorstand stellt sich also besser an, als damals Andrea Nahles und Sigmar Gabriel?
Das war damals eine politische Entscheidung. Man hatte Angst, dass man durch einen Ausschluss von mir zu viele SPD-Wähler entfremden könnte. Umfragen von Emnid zeigten damals, dass 40 Prozent der SPD-Wähler und -Mitglieder meinen Thesen zustimmten. Zwei Drittel gaben an, es sei gut, dass ich das Thema anspreche. Damals hatte die SPD aber 30 Prozent in den Umfragen, heute zwischen 10 und 12 Prozent. Die Basis hat sich also enorm verkleinert. Und dieses Mal sagt der Vorstand einfach: Jetzt wollen wir es wirklich wissen.

Seit etwa zehn Jahren ecken Sie in Ihrer Partei extrem an. Haben Sie denn den Eindruck, dass die SPD sich Ihren Forderungen in bestimmten Punkten angeschlossen hat?
Immerhin hat der ehemalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel gesagt, dass die Dänischen Sozialdemokraten wohl doch einiges richtig gemacht haben, indem sie die einwanderungskritischen Positionen der Dänischen Volkspartei größtenteils übernommen haben. Ob er das gesagt hat, damit er mal wieder in der Zeitung steht oder die gegenwärtige Parteiführung ärgern will oder ob er das wirklich meint, weiß ich aber nicht.

Herr Gabriel hat sich ja nun selbst aus dem Spiel genommen. Zumindest will er nicht mehr für den Bundestag kandidieren. Wenn die SPD sich aber insgesamt standhaft weigert, Ihre Forderungen, geschweige denn Ihre Thesen zu übernehmen, warum klammern sie sich dann so an die Partei, die Sie nicht will?
Ich bin seit 45 Jahren Mitglied und muss mich dafür nicht rechtfertigen. Als ich eintrat, war bis zur Geburt von Lars Klingbeil noch drei Jahre Zeit.

Geht es Ihnen also um verletzten Stolz?
Seit den ehrenrührigen Angriffen von Sigmar Gabriel auf mich im September 2010 hat mich die Parteiführung in eine Lage gebracht, bei der es bei der Mitgliedschaft auch um die Verteidigung meines Rufes geht.

Sie haben aber auch gesagt, dass die SPD nie wirklich eine Heimat für sie dargestellt habe.
Ich bin seit 45 Jahren in der SPD politisch zu Hause.

Sie können aber kaum abstreiten, dass Sie von dem andauernden Widerspruch zwischen Ihnen und Ihrer Partei profitieren – Sie bekommen Aufmerksamkeit und Ihre Bücher verkaufen sich millionenfach.
Ich hatte meine politische Karriere abgeschlossen, als ich „Deutschland schafft sich ab“ schrieb. Ich war Vorstand der Bundesbank, meine ökonomischen Verhältnisse, auch bezüglich Pensionsansprüchen waren geklärt. Ich war also nicht darauf angewiesen, mit Büchern Geld zu verdienen. Dass der Versuch der SPD, meine Bücher zu skandalisieren, dazu geführt hat, dass sich vielleicht 100.000 Exemplare mehr verkauft haben, will ich nicht bestreiten. Aber ich hätte auch ohne sie Erfolg gehabt.

Haben Sie mit dem Erfolg Ihrer Bücher die AfD groß gemacht?
Meine Bücher haben Erfolg, weil sie wichtige gesellschaftliche Fragen aufgreifen, die in der Luft liegen. Hätte die SPD diese damals ebenfalls aufgegriffen, so wäre sie noch immer die größte Arbeiterpartei, zur Gründung der AfD wäre es wahrscheinlich gar nicht gekommen

Es wird Ihnen auch vorgeworfen, immer wieder bei Veranstaltungen der österreichischen FPÖ aufzutreten. Warum werben Sie für die Wahl einer AfD-Schwesterpartei?
Ich hielt im Oktober 2015 auf Einladung des Liberalen Clubs in Wien einen Vortrag zur damals aktuellen Masseneinwanderung. Im Februar 2019 sprach ich in Wien bei einer Podiumsdiskussion der parteinahen Stiftung zum Islam. Meine zahlreichen Vorträge halte ich vor ganz verschiedenen Zuhörerkreisen zu Sachthemen als Autor von Sachbüchern. Wenn mich die SPD zu einer derartigen Veranstaltung einlädt, komme ich auch.

Auch mit Herrn Meuthen von der AfD traten Sie bereits auf. Sie machen damit doch Werbung für diese Parteien.
Nein. Im Mai 2019 war ich Redner bei dem von Max Otte (CDU) veranstalteten Hambacher Fest. Dort redeten unter anderem Joachim Starbatty, Vera Lengsfeld und Jörg Meuthen. Ich halte nichts von Ausgrenzung. Ich war neulich für einen Vortrag vor Fondsmanagern eingeladen, wo ich mit Marcel Fratzscher vom DIW gemeinsam aufgetreten bin, wenngleich mit unterschiedlicher Meinung. Damit mache ich keine Werbung für einen Fonds-Kongress. Ich war Teil des Programms.

Aber die Veranstalter suchen doch keine No-Names aus, sondern profilieren sich mit Ihren prominenten Gästen.
Ja gut, man weckt damit natürlich Interesse bei den Leuten. Die bekommen Informationen und eine gewisse Unterhaltung. Aber wie gesagt, ich stehe allen Anfragen für solche Veranstaltungen aus der SPD offen gegenüber.

Warum nehmen Sie sich nicht ein Beispiel an Wolfgang Clement, der 2008 freiwillig aus der SPD ausgetreten ist?
Clement war offenbar durch die Art, wie er als ehemaliger Ministerpräsident und Wirtschaftsminister vom Ortsverein Bochum-Querenburg behandelt wurde, einfach gekränkt. Er hat sich gesagt: Jetzt reicht’s mir. Ich gehe.

Nachdem er einen Wahlaufruf für die FDP getätigt hatte.
Sie werden von mir nie irgendeinen Wahlaufruf für eine mit der SPD konkurrierende Partei hören.

Damit die SPD überhaupt wieder konkurrenzfähig wird, baut sie nun wieder um. Der Parteivorsitz muss neu besetzt und soll von den Mitgliedern gewählt werden. Wollen Sie nicht kandidieren?
Das hätte einen hohen Unterhaltungswert. Es wäre aber auch ein bisschen lächerlich. Und ich mache mich nicht gerne lächerlich.

Aber Sie sagen doch, dass so viele Leute innerhalb der SPD Ihnen zustimmen würden.
Innerhalb und außerhalb der SPD. Ich bin mir tatsächlich sicher, dass viele Menschen die SPD wählen oder wieder eintreten würden wegen Thilo Sarrazin. Ich war am 22. Mai, wenige Tage vor der Europawahl, in Erfurt auf Einladung des SPD-Abgeordneten Oskar Helmerich. Dafür bekam er viel Ärger mit dem Landesvorsitzenden Wolfgang Tiefensee. Ich hatte 600 Gäste, die Messehalle war voll und jeder zahlte 25 Euro Eintritt. Eine Woche zuvor war unsere Spitzenkandidatin Katharina Barley in Erfurt. Bei ihr kamen ohne Eintritt 70 Zuhörer.

Warum ist Ihnen eine Kandidatur dann zu klamaukig?
Es ist einfach nicht realistisch. Ich hatte immer Exekutiv- und keine Parteifunktionen ausgeführt. Das werde ich auch ganz bewusst bis an mein Lebensende so handhaben.

Aus welchem Grund?
Ich wollte immer gestalten und das an den Orten, wo ich am besten gestalten kann. Ich bin ein guter Ökonom und ein guter Manager. Ich kann die Dinge vernünftig geistig durchdenken. Da war ich in der Exekutive am besten aufgehoben. Ich war einfach lieber bei denen, die konkret gestaltet haben.

Frau Schwan hat sich dafür ins Gespräch gebracht.
Sie ist 76 Jahre alt und hat keine wesentlichen Erfahrungen in der Exekutive gesammelt. Ihre Verdienste um die Wissenschaft will ich nicht beurteilen, da ich nie einen längeren Text von ihr gelesen habe. Ihre öffentlichen Auftritte finde ich oft seltsam.

Werden Sie an der Abstimmung über die möglicherweise zwei neuen Vorsitzenden teilnehmen?
Ja, natürlich werde ich teilnehmen.

Wen werden Sie wählen?
Jetzt warten wir mal die Kandidatenliste ab. Dann schaue ich mir das an. Aber ich werde teilnehmen und abstimmen.

Haben Sie noch Freunde in der Partei?
Ich habe viele persönliche Freunde, die entweder SPD-Parteimitglieder sind oder in ihrem vergangenen Leben einmal waren.

Gehört der ehemalige Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowski dazu?
Er ist ein guter persönlicher Bekannter. In letzter Zeit haben wir uns auch ein bisschen angefreundet.

Schätzt er Sie, weil ihm kein Parteiausschluss droht, solange die SPD mit Ihnen beschäftigt ist?
Nein. Wir lernten uns in Berlin kennen, als ich Finanzsenator war. Ich musste das Geld zusammenhalten und er wollte welches haben. Wir haben unsere Rollen wahrgenommen, ohne uns das einander krumm zu nehmen. Bei den Themen Migration und Islam kamen wir uns über die Jahre näher. In „Deutschland schafft sich ab“ ist darum auch ein längeres Interview mit ihm erschienen, das er mir ohne Einwände autorisiert hat.

Hans-Georg Maaßen ist in seiner Partei ebenfalls nicht sehr beliebt. Er provoziert die CDU unter anderem mit Sätzen wie, er sei nicht in die CDU eingetreten, damit 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen. Könnte dieser Satz auch von Ihnen stammen?
Als ich 1973 SPD eingetreten bin, hat die Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt zeitgleich einen generellen Gastarbeiter-Zuzugsstopp beschlossen. Das zeigt, wie anders man damals dachte. Aber das Thema Einwanderung und Islam spielte eigentlich keine wirkliche Rolle. Es gab quasi keine Kopftücher. Es war eine ganz andere Welt. Auch Helmut Schmidt warnte übrigens in seinen Büchern wiederholt vor kulturfremder Masseneinwanderung aus dem islamischen Raum.

Sie teilen also diese Aussage von Herrn Maaßen? Haben Sie mit ihm auch Kontakt?
Ich kenne Herrn Maaßen nicht. Wenn wir uns träfen, hätten wir einiges zu diskutieren.

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