Superwahljahr 2021 - Rot-grün-schwarzer Einheitsbrei?

CDU, SPD und Grüne kämpfen im Superwahljahr um die „Mitte“. Aber ist dort genug Platz für alle? Oder geht es am Ende nur darum, die Macht über die Definition der Mitte zu behalten?

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Autoreninfo

Annette Rollmann ist freie Journalistin. Sie arbeitete zuvor bei der FAZ und für „Studio Friedman“.

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Generalsekretäre sind verantwortlich für die Abteilung Attacke. Modell dafür war lange Heiner Geißler, der den Job für die CDU bis 1989 zwölf Jahre machte. Über die rüstungskritische SPD sagte er, sie sei „die fünfte Kolonne Moskaus“, über den pflichtbewussten SPD-Chef Vogel: „Die SPD betreibt eine typische Wischiwaschi-­Politik, und Hans-Jochen Vogel ist der Parteivorsitzende zwischen Wischi und Waschi.“ Zack. Das saß. Im Polarisieren war Geißler ein Meister. Er hat den Lagerwahlkampf erfunden.
Paul Ziemiak ist Nachfolger von Heiner Geißler. Zwischen den beiden liegen aber nicht nur drei Jahrzehnte. Ziemiak sagt: „Die klassischen Lager gibt es nicht mehr.“ 

Die Konkurrenz der Parteien verläuft heute in der Mitte, und da wird es eng. Enger, je mehr auch die Grünen dort Fuß fassen. Die sind inzwischen eine Partei der Gutsituierten, ihr einstiges Rebellenimage ist nur noch Folklore, die auf Jubiläumsfeiern zelebriert wird. Aus dem einstigen Motto der beiden Grünen-­Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck, „Radikal ist das neue Realistisch“, ist der nicht ausgesprochene Slogan „Realistisch ist das neue Radikal“ geworden. Die Grünen wollen mitregieren. Beim Wählerpotenzial von Union und Grünen ergeben sich ungeahnt große Schnittmengen. In Bayern hat die CSU-Führung die Erkenntnisse von Wahlforschern darüber, wie viele Bürger sich vorstellen könnten, Christsoziale oder Grüne zu wählen, mit Schrecken zur Kenntnis genommen. 

Was ist die Mitte?

Laut Allensbach sind die Grünen-­Wähler aktuell auf einer Skala von 0 (links) bis 100 (rechts) von 37 auf 44 weit in die Mitte gewandert. Die Anhänger der CDU/CSU rückten in ihren Positionen seit 1991 von 60 auf heute 55. Auf der Links-Rechts-Skala liegen sie wie die FDP knapp rechts der Mitte, die SPD-Wähler knapp links von der Mitte.

Aber wer ist diese Mitte? Ziemiak erzählt von einer Deutschlandreise, auf der er eine Familie in Herne traf, die von Sozialleistungen lebt, einen Gutverdiener am Tegernsee und eine dritte Familie, die aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Lebensrealitäten, die unterschiedlicher kaum sein können. Und trotzdem haben sie etwas gemeinsam. Ziemiak sagt: „Alle diese Menschen eint, dass sie sich politisch in der Mitte verorten.“ Die CDU wolle nicht die Unterschiede betonen, sondern die Gemeinsamkeiten. 

Mit einem Programm „aus der Mitte der Gesellschaft für die Mitte der Gesellschaft“ will Ziemiak in den Bundestagswahlkampf ziehen: Wohlstand, Sicherheit und Zusammenhalt sind die Kernbotschaften. Die Folgen der Pandemie sollen thematisiert werden, der Schutz der Gesundheit, das Ankurbeln der Wirtschaft. Aber es soll auch um gute Bildung und die sozialen Folgen der Krise gehen. Für alle ist etwas dabei.

Links-Rechts hat ausgedient

Mit diesen biografischen Unterschieden umzugehen und trotzdem viele Wähler zu erreichen, das ist die Herausforderung für die großen Parteien. Früher waren die Menschen ihr Leben lang im selben Verein, sie lasen die eine Zeitung, der eine die konservative, der andere die linke, sie gingen in die Kirche, in die Eckkneipe oder zum Kaffeekränzchen. Der eine spielte Golf und war reich, der andere spielte Skat und wählte die SPD. Bindung als Tatsache. Markus Blume, CSU-Generalsekretär, sagt über die Gegenwart: „Es gibt nicht mehr so große homogene Gruppen. Wir haben heute nicht nur das Links-Rechts-Schema, sondern wir haben auch eine kulturelle Dimension zwischen den Kosmopoliten auf der einen Seite und den heimatbezogenen Menschen auf der anderen Seite. Und diese Dimensionen überlagern sich im Parteienspektrum.“ 
Dieses Sowohl-als-auch strahlt auch das neue Grundsatzprogramm der Grünen aus: „Veränderung schafft Halt“ ist es überschrieben. 

Doch nicht nur die Grünen dehnen die Positionsbestimmung ins Flexible. Als frisch angetretener Generalsekretär der FDP kritisiert Volker Wissing im Bund zwar die Bundesregierung aus Union und SPD wegen ihrer Corona-Politik und fordert mehr Freiheits- und Bürgerrechte. Als Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz ist er aber Mitglied einer harmonischen Ampelkoalition, die von einer Sozialdemokratin geführt wird. Spitzen gegen Malu Dreyer kommen ihm nicht über die Lippen. Wissing sagt über die rot-grün-gelbe Koalition in Rheinland-Pfalz: „Wir reden auf Augenhöhe. Vertrauen ist wichtig.“ Schöne Sätze. Zuspitzung, gar Polarisierung? Fehlanzeige. Es spricht die Mitte.

Werben um den Wechselwähler

Seit den achtziger Jahren und Geißlers Lagerwahlkampf hat sich in der Politik viel geändert: Seit dem Fall der Mauer stellt sich die Systemfrage nicht mehr, Gut und Böse sind in der Mitte der Gesellschaft zwischen dem bürgerlichen Lager auf der einen Seite und dem rot-grünen Lager auf der anderen Seite so eindeutig nicht mehr auszumachen. Wissing ist überzeugt, dass sich mit dem Verschwinden der Blöcke auch „die engen Bindungen von Wählermilieus an Parteien aufgelöst haben“. Verstärkt wurde dieser Trend noch durch Säkularisierung, Globalisierung und Digitalisierung. Maximale Unterscheidbarkeit hat in der Politik dem Werben um Wechselwähler Platz gemacht.

Auch Robert Habeck bemüht sich, den Menschen kein schlechtes Gewissen mehr zu machen, gibt zu, seine Biomilch auch schon mal beim Discounter zu kaufen, und klar, die Menschen können ihr Nackensteak grillen, wann sie wollen. Die einstige grüne Doktrin vom Verzicht klang anders.

Für die einen ist dieses „Verschwimmen“ der politischen Konturen eine negative Entwicklung, weil sie die Parteien der Ränder stärke: „Merkels asymmetrische Demobilisierung der Wähler“, so hat es der Historiker Andreas Rödder dem Tagesspiegel gesagt, habe „zu einer Sedierung der politischen Öffentlichkeit und schließlich auch zum Aufstieg der AfD geführt.“ 

Für andere ist es eine Anpassung an die Realität. Die Gesellschaft verändert sich, und Parteien müssen dies in ihre Programmatik miteinbeziehen. Wie im modernen Fußball: Neben der eigenen Linie zählen heute hohe taktische Variabilität und strategische Ausrichtung. 

Stabilität auf Kosten der Geschwindigkeit

Deutschland startet mit einer eben noch siegesgewissen, aber jetzt angezählten Union ins Superwahljahr. Es ist nicht nur das lähmende Hinterherregieren in der Corona-Politik, die maßgeblich von der Kanzlerin und ihrem Kabinett verantwortet wird, sondern auch die Lobbyismus-­Affäre. Die Koinzidenz ist toxisch. Von der „schwersten Krise seit der Spendenaffäre“ spricht Gitta Connemann, Fraktionsvize der CDU, gegenüber der dpa

Jenseits der Affäre über Maskengeschäfte, des Vorwurfs des Lobbyismus und der Versäumnisse in der Corona-Politik trägt aber auch unser Staatsaufbau zum Problem bei: Er gibt Deutschland politische Stabilität. Aber wenn Bund, Länder und Kommunen, Bundestag und Bundesrat, das Bundesverfassungsgericht und auch noch die EU in Entscheidungen einbezogen werden müssen, kann das auch lähmen. Wissing sagt: „Planungssicherheit und Verlässlichkeit sind wichtig. Da kann Politik auch mal langweilig werden. Politik ist ein großer Tanker.“ Schnelle Entscheidungen? Fehlanzeige. 

Ist der Föderalismus noch effizient?

Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der CDU/CSU, benennt das Problem. In der Welt am Sonntag fordert er eine „Jahrhundertreform des Staatswesens“, vielleicht sogar eine „Revolution“. „Es ist in Pandemiezeiten schwierig, dass der Bundesgesundheitsminister kaum Durchgriff auf die lokalen Gesundheitsämter besitzt“, sagt er. Ist der Föderalismus „noch überall effizient?“, fragt er.

Die FDP verlangte von Anfang an mehr Debatten im Parlament, mehr Einbeziehung der Abgeordneten zu Corona-­Regeln, zum Weg in und aus der Krise. Wissing wirft der Regierung vor: „Wer gerade die Themen aus der politischen Debatte ausklammert, welche die Menschen am meisten bewegen, verdammt den Parlamentarismus zur Irrelevanz, erweist unserer Demokratie einen Bärendienst und befördert die Politikverdrossenheit.“ Jetzt rächt sich das. In der Mitte. Die Union verliert – an Vertrauen.

Dauergewinner Söder

Politik wird über Bilder gemacht, über Psychologie. Der, der trotz Skandalen in der Union und in der Krise immer noch profitiert, ist Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident und möglicher Kanzlerkandidat der Union. Auch Söder saß eine Zeit lang als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) neben Angela Merkel, allerdings zu einer Zeit, als Deutschland zwar mitten in der zweiten Corona-Welle, aber noch nicht so offensichtlich abgeschlagen beim Besorgen von Impfstoff war. 

Söder ist ein „Kraftlackerl“, wie man in Bayern sagt. Jetzt, wo er nicht mehr für die MPK spricht, erklärt er regelmäßig vor hellblauem Alpenpanorama mit Brezeln auf dem Biertisch die Talsohlen von Corona. Er führt als Landesvater streng und gibt sich als Mensch sensibel, ja verletzlich. Mal sendet er moderate, ja moderne Botschaften aus, mal gibt er sich hemdsärmelig konservativ. 

Der Themen-Dieb

Sprach er noch 2018 beim Thema Flüchtlinge vom „Asyltourismus“, hat er spätestens nach der Europawahl 2019 auf einen Neubeginn der CSU gesetzt. Jung, frauenfördernd und grün. Söder ist jetzt auch mal ganz sanft. Der Mann umarmt Bäume. Es hat etwas Beruhigendes, in einer aufgeregten Corona-Republik, in der die Angst umgeht, Hilflosigkeit angesichts der Tatsache, dass Entscheidungen nur wenige Tage Gültigkeit haben. 

Ein Baum steht da. Schon länger und noch lange. Die CSU verkörpert jetzt den Schutz der Heimat. Söder atmet wie beim Yoga den Grünen ihr Urthema weg und ist ihnen so ganz nah. Die Konturen zwischen den Parteien lösen sich nicht auf, aber sie verwischen. Die Grünen bezeichnet er gegenüber dpa nun als „charmante und kompetente Leute“. 

Wahlforscher Manfred Güllner sagt: „Die CSU ist momentan moderner, mittiger und grüner als Teile der CDU.“ Und Söder kann Laschet, der immer wieder das Problem hat, seine Konturen zu schärfen, immer noch die Kanzlerkandidatur wegschnappen. In Umfragen liegt Laschet weit hinter Söder. 

Was ist die neue „Neue Mitte“?

Gerhard Schröder hat mit seiner Politik der „Neuen Mitte“ in den späten neunziger Jahren einen fulminanten Erfolg eingefahren. Nur: Damals war dort viel Raum, der Sound von CDU und CSU war konservativ, und die SPD hatte noch immer eine starke Basis bei Kumpeln und Facharbeitern. Schröder kleidete die SPD neu ein: in Brioni und mit Zigarre. Er gab seiner Regierung zusammen mit den Grünen und dem joggenden Außenminister Joschka Fischer ein neues Label: modern, frech und westlich. Politik sollte Spaß machen. Dieser Mitte lag die Überspanntheit linker Theoretiker genauso fern wie die Ressentiments der reaktionären Rechten. Ihre Ikone war die nette Durchschnittsfamilie. 

Heute heißt Mitte vor allem: Die Parteien müssen kompromiss- und koalitionsfähig sein. Das führt zu früher schwer vorstellbaren parteipolitischen Avancen: Vor der Wahl in Baden-Württemberg etwa warb Marco Buschmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP, für eine grün-gelbe „Zitrus-Koalition“.

Die Grünen sind derzeit eingerahmt von den Unionsparteien auf der einen Seite und der SPD und der Linken auf der anderen Seite. Sie werden nach der Bundestagswahl das Scharnier zur Macht sein. Rein rechnerisch führt eine Koalition aus Schwarzen und Grünen zumindest derzeit in die Regierung. Die Grünen bemühen sich vor allem, bis zum Wahltag keine Fehler zu machen. Rückenwind bekommen sie von Wahlen wie in Baden-­Württemberg, wo ein Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit seiner bürgerlich-pragmatischen Sicht auf die Politik viele ehemalige CDU-Wähler auf seine Seite gezogen hat. 

Es gibt sehr wohl Unterschiede

Michael Kellner, Bundesgeschäftsführer der Grünen, glaubt aber, dass die Menschen den Unterschied zwischen den Parteien sehr wohl erkennen. Er sagt, dass es in den vergangenen Jahren, insbesondere vor Corona, in Deutschland eine „Repolitisierung“ gegeben habe, auch in der Mitte der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung um Konzepte sei wieder da. 

Kernthema der Grünen ist der Klimaschutz, der in den Jahren vor Corona mit Fridays for Future fast zu einem Generationenprojekt wurde. Neben dem Klimaschutz wollen die Grünen auch die Integration stärken und mehr soziale Gerechtigkeit schaffen. Wohnen soll gerade in Ballungsräumen wieder bezahlbar werden, es soll eine Grundsicherung geben, die ohne Sanktionen auskommt. Manche sehen genau in solchen Forderungen die Grünen von früher: kein freier Markt, Verbote, Bevormundung. Paul Ziemiak sagt: „Die Grünen geben sich bürgerlicher, als sie es in Wahrheit sind.“

Dennoch werden Union und FDP nach Kompromissmöglichkeiten suchen. Von Hartz IV wollen zwar weder Union noch FDP abweichen. Und bei den Wohnungen setzt die FDP auf einen freien Wohnungsmarkt. Ohne Wenn und Aber. Wirklich? Was Generalsekretär Wissing im Bund ablehnt, verantwortet er als FDP-Wirtschaftsminister bereits in Rheinland-Pfalz: Dort existiert in fünf Städten eine Mietpreisbremse. 

Ran ans Bürgertum

Gleichzeitig blinken die Grünen fleißig in Richtung des bürgerlich-liberalen Milieus. Habeck tritt Anfang März nicht nur als freundlicher Festredner beim Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) zur Verleihung des Max-Weber-­Preises auf, sondern er reicht dort die Hand auch inhaltlich, systemisch. „Der Kapitalismus hat uns unfassbare Erfolge beschert. Auf der Welt lebt es sich insgesamt gesehen heute besser und sicherer, reicher und satter, gesünder und länger, als es jemals für eine Menschheitsgeneration auf diesem Planeten galt“, sagt er da. Und verpackt den Satz, den mancher grüne Fundi als harten Knaller empfunden haben mag, in grünes Zukunftsmahnen: „Sosehr uns der Kapitalismus unfassbare Erfolge beschert hat, Wohlstand, Bildung, Gesundheit, Nahrung in Mengen, so sehr drohen uns gerade die Bedingungen für seinen Erfolg über den Kopf zu wachsen.“ Das tut niemandem wirklich weh, auch keinem Konservativen oder Marktliberalen. Wettert nicht auch Söder gegen den grassierenden „Agrarkapitalismus“ und will die Bienen retten?

Wäre die CDU heute erkennbarer, wenn sie sich im Januar für Friedrich Merz und nicht Armin Laschet als Parteivorsitzenden entschieden hätte? In seiner Bewerbungsrede auf dem Parteitag betonte auch Laschet, die Union könne nur gewinnen, „wenn wir in der Mitte der Gesellschaft stark bleiben“. Merz’ Sound ist anders, kantiger, gesellschaftspolitisch konservativer und ökonomisch wirtschaftsliberaler. Mit Merz wäre jene Pizza-Connection, in der sich Laschet zu Bonner Zeiten mit heute führenden Grünen wie Cem Özdemir schwarz-grünen Träumen hingab, wohl kaum so schnell wieder ins Leben gerufen worden. 

Die Pizza ist noch nicht im Ofen

Generalsekretär Ziemiak hat die Diskussionen selber losgetreten, als er nach der Wahl Laschets twitterte: „Es kann sein, dass wir nach der Wahl mit den Grünen Verhandlungen führen müssen. Aber eines verspreche ich Ihnen: Die Grünen werden in den Koalitionsverhandlungen mehr Kröten schlucken, als manche von ihnen über die Straße getragen haben.“ Özdemir antwortete mit dem Hashtag „Teamkrötenwanderung“: „Gründe für den fairen Wahlkampf gegen Euch haben wir auf Eurem Parteitag auch genug gehört. Ich freu mich drauf!“ Giftige Wahlkämpfe fangen anders an. 

Doch nicht alle Grünen sind überzeugte Anhänger der Pizza-Connection. Neben den Realos und Fundis gibt es auch noch einige versprengte ehemalige Mitglieder der K-Gruppen. Dazu gehört der einflussreiche Außenpolitiker Jürgen Trittin, der als Student Mitglied im Kommunistischen Bund war. Die Spitzengrüne Annalena Baerbock dagegen war nie eine rebellische Fundamentalistin, die den Staat an sich ablehnt. Die mögliche Kanzlerkandidatin der Grünen, die Völkerrecht unter anderem an der London School of Economics studiert hat, redet über Frauenrechte, weibliche Vorstandsmitglieder und die Veränderung des Aktienrechts für Mütter so versöhnlich, dass auch jedes CDU-Mitglied sofort ein „Like“ daruntersetzen kann. Als Patin für ihre Forderungen nach mehr Gleichberechtigung bemüht sie die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, prominentes Mitglied der CDU. 

Und was ist mit der SPD?

Und wo steht in diesem sich anbahnenden schwarz-grünen Beziehungsgeflecht eigentlich die SPD? Die einstige Volkspartei dümpelt bei gut 15 Prozent und kommt bislang aus dem Umfragetief nicht heraus. Ihr Wahlprogramm soll Abhilfe schaffen: Viel Klima steckt darin, und viele linke Ideen. 

Einen Willen zur Verlängerung einer Großen Koalition kann man aus dem Programm nicht herauslesen. Entsprechend findet Paul Ziemiak keine guten Worte für seinen Koalitionspartner: „Die SPD ist zuletzt durch den Einfluss der Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zur Klientelpartei geworden und nach links abgerutscht.“ 
Die SPD sucht nach einem Kurs. Doch anders als die Grünen findet sie keinen Tritt. Als erste Partei hat sie mit Olaf Scholz ihren Kanzlerkandidaten aufgestellt. Das wirkt zwar solide, aber nicht neu. 

Scholz könnte sich als wahrer „Fortsetzer“ der Politik von Angela Merkel empfehlen. Denn SPD und Union sind sich in den Regierungsjahren immer ähnlicher geworden: Mütterrente, Rente mit 63 und Mindestlohn, soziale Projekte des gesellschaftlichen Ausgleichs, Programme der Gerechtigkeit. Und auch das Thema Finanzen sollte vor allem einen Anstrich haben: solide. Die schwarze Null, Erbstück seines Amtsvorgängers Wolfgang Schäuble (CDU), hat der Bundesfinanzminister lange verteidigt. Und zwar nicht nur als fiskalische Größe, er hat sie über Jahre wie ein Mantra gepredigt. Jetzt, in der Krise, rückt er davon ab. Das versöhnt die SPD-Linke mit ihm.

Thema verfehlt

Doch welches Profil gibt sich die SPD mit dem gerade verabschiedeten Wahlprogramm, das sie als „sozial, digital und klimaneutral“ überschreibt? Die SPD will Deutschland bis 2050 klimaneutral machen, die Grünen wollen das schon 2035 erreichen. Das Gleiche beim Emotionsthema Tempolimit 130, mit dem die SPD versucht, Anschluss an grüne Milieus zu finden. Das Tempolimit ist seit jeher ein Streitthema in der Koalition: Noch im Sommer befand Angela Merkel, dass sie ein Tempolimit derzeit nicht für nötig halte. Der typische SPD-Wähler und Berufspendler im Ruhrgebiet oder einem Flächenstaat wird das vermutlich ähnlich sehen. 

Auch das Thema Digitalisierung trifft kaum den Markenkern der SPD. Praktisch jeder Bürger will Behördengänge digital erledigen können, jeder Mensch auf dem Land will schnelleres Internet, da ist es egal, welcher Partei man sich nahe fühlt. 
Bleibt also die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Wenn die SPD einen Mindestlohn von 12 Euro fordert, die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung des Bürgergelds ohne nennenswerte Sanktionen sowie die Einführung der Vermögenssteuer, verabschiedet sie sich zwar nach links, weg von der Mitte – und ist trotzdem abgehängt. Die Linke fordert bereits 13 Euro Mindestlohn. Die SPD will das Rentenniveau bei 48 Prozent halten, die Linke will es auf 53 Prozent anheben. 

Alles oder nichts

Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, sieht gerade die Vielfalt als Stärke. Die SPD wolle mit ihrem Programm den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. „Wir thematisieren gesellschaftliche Verteilungsfragen und haben mit Olaf Scholz einen klaren Anspruch an ökonomische Kompetenz. Aber wir wollen auch die kulturellen Milieus verbinden.“ 

„Catch-all-Partei“ kann man den Anspruch der SPD wohl nennen: Damit bezeichnete der Staats- und Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer Parteien, die versuchen, mit möglichst allgemein gehaltenen Programmen möglichst viele Wählerstimmen auch außerhalb einer bestimmten Klientel zu gewinnen.
Schneider ist sich sicher: Die SPD hat mit dem Programm ein Wählerpotenzial von gut 35 Prozent. Nur ausschöpfen muss die SPD das Potenzial dann noch.

Das Wahlprogramm ist ein Kompromiss zwischen der Scholz-SPD und der Saskia-Esken-Partei. Esken ist zusammen mit Walter-Borjans seit einem guten Jahr Parteivorsitzende. Auch die SPD sieht sich in dem Dilemma, Industriearbeiter, Geringverdiener und hippe Bewegungen in Großstädten anzusprechen. 

Der Verlust des Arbeiters

Wenig verbindet die SPD noch mit der traditionellen Arbeiterschaft. In Teilen hat sie diese an die AfD verloren. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sagt: „Die rechtspopulistischen Parteien sind in Europa zunehmend die Repräsentanten der Arbeiterschaft geworden. Der Kampf um die Änderung von Straßennamen, die Entfernung von Denkmälern und das dogmatische Gebot von Gendersternchen verbessern das Schicksal deklassierter sozialer Schichten nicht. Viele Menschen haben das Gefühl, nicht gehört zu werden. Insbesondere die nichtakademischen Schichten können mit dieser Debatte nichts anfangen.“ 

Damit meint der Politikwissenschaftler nicht nur Debatten um Gendersternchen, sondern auch eine verletzende und dogmatische Diskussionskultur, wie sie jüngst am Beispiel des sozialdemokratischen Urgesteins und ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse sichtbar wurde. Der hatte Kritik an einer wachsenden Aggressivität in Debatten über ethnische Identitäten und geschlechtliche Orientierungen geäußert. Esken und ihr Stellvertreter Kevin Kühnert zeigten sich in einer Einladung an den SPD-Arbeitskreis Queer dann „beschämt“ über Genossen, die ein „rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zeichneten. All das spielte sich ausgerechnet in der Woche ab, in der der eigene Kanzlerkandidat Olaf Scholz sich in einem Essay für eine „Gesellschaft des Respekts“ starkmachte. 

Eigentlicht keine Volkspartei mehr

Ist das Profilgewinnung, um neue Wählerschichten zu erreichen – oder der Anfang vom Ende einer Volkspartei? Wolfgang Merkel sagt: „Als Volkspartei kann man die SPD schon von der Größe her nicht mehr bezeichnen.“ Anschlussfähig dürfe die SPD nicht nur an Grüne und Linke sein. Merkel ist überzeugt, die Partei müsse vor allem in der sozialen Frage Profil gewinnen, sich nicht in links-grüner Identitätspolitik verheddern. Der Demokratieforscher resümiert: „Die SPD hat keinen Unique Selling Point mehr. Das muss sie ändern.“ 

Welche Regierung(en) dieses Wahljahr bringt, ist spannend wie selten. Es herrscht die große Unübersichtlichkeit, nicht nur was die Rolle der SPD angeht; auch die Union steckt in einer Megakrise. Im schlimmsten Fall verliert sie im Herbst das Kanzleramt. Auch Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner macht sich vor dem Hintergrund der Maskenaffäre und der Nähe mancher Abgeordneter zum Lobbyismus grundsätzliche Sorgen. Kellner sagt: „Solche Skandale gehen mit einem tiefen Verlust von Glaubwürdigkeit in der Politik einher. Das ist keine kleine Geschichte. Deshalb braucht es Gesetze für mehr Transparenz in der Politik.“

Die Folgen von Vertrauensverlust

Unbestreitbar sind sich die Parteien der Mitte ähnlicher geworden – und haben das Entstehen von Parteien mit Extrempositionen am linken und rechten Rand befördert. Unterscheidbar sind sie aber noch immer. 

Geht es vielleicht am Ende darum, die Macht über die Definition der Mitte zu behalten? 

Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat einmal gesagt: Die Mitte sei nicht ein Bereich, der eine Einkommens- oder Berufsgruppe oder politische Einstellung als orientierenden „festen Ort“ definiert, sondern die Mitte sei der „Deutungsort der Gesellschaft“. Diese Deutungshoheit nicht zu verlieren, darum müssen die demokratischen Parteien der Mitte kämpfen. Tun sie es nicht mit guten Argumenten, mit Diskursen, die auch Komplexität und Gegensätze aushalten, und stolpern sie stattdessen von einer Affäre in die nächste, schwindet Vertrauen. Sie verlieren die Wähler. Vor allem auch die der Mitte. Die politischen Ränder stehen bereit, sofort zuzugreifen.

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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