Streitkultur - Das Ende des Politikmodells „Merkel“

Weil Vernunft und Unvernunft die einzigen Parameter in der Politik geworden sind, wird nicht mehr um die beste Lösung gestritten. Damit hat sich die Bundeskanzlerin in eine Sackgasse manövriert. Die Linke muss die Chance nutzen, um sie von ihrem Thron zu stoßen

Königin der Vernunft: Jede Kritik an der Kanzlerin wird als Ketzerei aufgefasst / picture alliance
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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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In letzter Zeit sind viele Abgesänge auf Angela Merkel erschienen. Vor allem bei „konservativen“ Medien. Man mag nun sagen: Das sind die „konservativen“ Medien, das sei doch verständlich, warum sie Merkel weghaben wollen. Die „konservativen“ Medien, die Merkel-Nachrufe veröffentlichen, hätten doch damit nur ein Interesse, die ideologischen Restbestände der CDU zu reaktivieren. 

Die linksliberale Presse wiederum kann in solchen Merkel-Nachrufen nur ein letztes Aufbäumen lesen wollen. Im Sinne von: Die ewiggestrigen Konservativen und ihre Medien führen jetzt noch mal einen Windmühlenkampf, um am Ende einzusehen, dass wir Linksliberale längst gewonnen haben. Man blickt etwas moralisch und mit Mitleid auf die konservativen Don Quijotes dieser Republik herab. 

„Vernunft“ ist aber ein gutes Stichwort. Auf Zeit Online war vor kurzem ebenfalls eine Merkel-Kritik zu lesen. Geschrieben hat sie der Politikwissenschaftler Philip Manow, und sie hieß: „Das Ende der Situationsvernunft“. Gemeint war das Ende der Methode Merkel. Es sind also nicht nur diese „konservativen“ Medien, die mittlerweile Merkel-Nachrufe veröffentlichen. 

Vernunft und Unvernunft statt rechts und links 

Das Stichwort „Vernunft“ kann nun helfen, um zu verstehen, warum die Ära Merkel und das, was sie repräsentiert, gerade wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht. Was aber macht eigentlich die Ära Merkel aus?

Die neue „Machtformation“ der Merkel-Ära ist laut Philip Manow durch eine neue politische Codierung geprägt. Nicht mehr „links“ und „rechts“, sondern „Vernunft“ und „Unvernunft“ seien nun die Parameter, mit denen Politik bewertet werde, um am Ende „die jeweils letzte Wendung aus dem Kanzleramt“ sodann „als Emanation (Anm. der Redaktion: Ausstrahlung) ebenjener Vernunft zu verstehen.“ 

Von der tiefen Sehnsucht nach Konsens

Man muss verstehen, warum es bis hierhin gekommen ist und eine neue Vernunft-Pädagogik zur Maßgabe der Politikbewertung der „linken Mitte“ geworden ist. Manow erklärt dies in seinem Stück vor allem mit der Logik eines Politikwissenschaftlers. Merkel ist aus seiner Sicht eine Art Systemcrasher. Sie hätte die Vernunft-Pädagogik erst in das System gebracht – und zwar, indem sie die alte Bonner Republik mit systemfremdem Agieren und ein bisschen Glück aus den Angeln gehoben und ihre ganze Art dann Deutschland aufgestülpt habe. Glücklicherweise hat sich dagegen einfach lange niemand gewehrt. 

Die neue Vernunft-Pädagogik hat aber auch etwas mit der tiefen Sehnsucht Deutschlands nach Konsens zu tun. Zur heutigen Idealform von Politik ist etwas geworden, was man bezugnehmend auf den Philosophen Jürgen Habermas den „Habermas-Modus“ nennen kann. 

Ein „Anything goes“ als Konsens

Es geht um Konsens und darum, auf welche Weise man zum Konsens kommt. Das ist eigentlich gut. Sinnloser Streit führt auch zu nichts. Allerdings wurde zuletzt kaum noch gestritten. Eine liberale Elite schien unisono das Gleiche zu tun, nämlich einen „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) zu forcieren. Darin bestand der neue „Konsens“ der Elite. Im Zuge einer postmodernen Landnahme innerhalb der Linken und der Liberalen bis hin zu den Moderaten unter den Konservativen kam zu dem vermeintlichen Sieg des Neoliberalismus noch ein kulturelles Liberalisierungsprojekt hinzu: Man predigte ein freundliches „Anything goes“, wobei so getan wurde, als sei „Konsens“ zwischen Menschen gar nicht mehr möglich. Man müsse nur Toleranz für einander und Feingefühl für Differenzen und die Vielfalt entwickeln. 

So verlor das Projekt von Jürgen Habermas seine kulturelle Anziehungskraft. Die moderne „Logik des Allgemeinen“ wurde durch eine „Logik des Besonderen“ abgelöst, wie der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ zuletzt schrieb.

Der zwanglose Zwang des besseren Arguments

Aber auf eine neue postmoderne Weise ist der Habermas-Modus heute eben doch Bestandteil der kulturellen Hegemonie. Nur ist es heute so, dass das Anything goes von einer liberalen Elite in einer Art Kulturkampf als Ultima Ratio der Vernunft, also als nicht mehr verhandelbarer Konsens, verkauft wird, dem man doch bitte nur noch zuzustimmen habe. So entsteht eine Form identitätspolitischer Gruppenmoral innerhalb dieser Elite. Man muss hier von einem „postmodernen Habermasianismus“ sprechen, der das Land zurzeit prägt. 

Das ist aber eine Fehlentwicklung und kann so auch gar nicht im Sinne von Habermas sein. Denn der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ muss ja eigentlich frei sein. Es darf eigentlich nicht vorher feststehen, was das Ergebnis sein soll.

Merkels Vernunftpädagogik 

Der Habermas-Modus könnte nur „Konsens“ erzeugen und „gemeinsame Wahrheit“ schaffen, wenn er zulässt, sich selbstreflexiv immer wieder zu prüfen und damit der Kritik auszusetzen. Sobald aber die Haltung entsteht, man wisse bereits, wo es langzugehen habe, entsteht eben jene Vernunftpädagogik mit Merkel als Oberhaupt. Dadurch, dass heute scheinbar immer so getan wird, als käme die Vernunft direkt aus dem Kanzleramt, wird bei vielen Fragen nicht mehr kritisch genug gestritten und debattiert. Mögen sich Horst Seehofer und Katja Kipping noch so sehr öffentlich zoffen, am Ende wird die letzte Wendung aus dem Kanzleramt als Schlussstrich jedweder Sachfrage einfach brav hingenommen. 

Daran stören sich zwar viele im Land, aber für eine kulturell einflussreiche Gruppe von Menschen steht heute immer schon fest, was richtig ist. Nämlich das Anything goes. Und Angela Merkel ist es nun, die heute für dieses Anything goes steht und für diese Philosophie eine Anführerin ist. Auch und gerade darum wurde sie für eine lange Zeit sprichwörtlich auf einen Thron gehievt. Jede Kritik an ihr wurde als Ketzerei gegen die angebliche Vernunft aufgefasst. 

Die liberale Elite verhindert Debatten 

Im Zuge einer offensichtlichen gesellschaftlichen Amnesie hat man vergessen, dass diese Angela Merkel einst im Leipziger Programm der CDU von 2003 Neoliberalismus pur wollte und später auch mal Multikulti für gescheitert erklärte. Alles vergeben und vergessen. Nach ihrer Entscheidung im Herbst 2015 ist sie die neue Priesterin einer liberalen Elite geworden, die Debatten in diesem Land aber heute verhindert.

Auf einen gesunden Streit um einen Konsens lässt sich dieses Land doch gerade gar nicht mehr ein. Und daran ist auch die „Machtformation Merkel“ schuld. Denn sie verhindert Streit. Streit kann ja zu Konsens führen oder zumindest zu einem neuen Kompromiss. Aber wenn man immer so tut, als stünde immer schon fest, was als Leitschnur von Politik und Moral zu gelten hat, dann kann auch nur noch ein Fahnenappell geleistet werden, um zu zeigen, dass man zur Gruppe der politischen Vernünftigen dazugehören will. Merkelianer gegen den Rest, ist dann das Ergebnis. 

Eine Chance für die Linke 

Diese Entwicklung muss aufhören. Der Streit muss zurückkommen. Nicht Streit an sich, aber um die Sache und um die besten Lösungen für die Probleme, die die Wirklichkeit erzeugen. Das Land sollte wieder lernen, dass die letzte Wendung aus dem Kanzleramt nicht das Ende der Debatte bedeutet. Und schaut man ins Land, dann ist die Erosion der Machtformation Merkel ja auch schon vollends im Gange. 

Vor allem die politische Linke, insbesondere die SPD, sollte nun aber die Chance nutzen, die ihnen die Erosion der Machtformation Merkel bietet. Eine Kopie Merkels hingegen wird ihre eigene Erosion befördern. 

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