Streitgespräch - Wie soll der Westen im Ukraine-Krieg handeln?

Rüdiger Lüdeking hält den Einsatz von Atomwaffen nicht für ausgeschlossen, während Ernst-Jörg von Studnitz die Drohung mit Nuklearwaffen für eine politische Maßnahme hält.

Rüdiger Lüdeking und Ernst-Jörg von Studnitz im Streitgespräch über den Ukraine-Krieg / Julia Steinigeweg und Frank Schoepgens
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Rüdiger Lüdeking wurde 1954 geboren. Er war von 2005 bis 2008 Stellvertretender Beauftragter der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle im Auswärtigen Amt. Von 2012 bis 2015 folgte eine Station als Ständiger Vertreter bei der OSZE in Wien, danach diente der studierte Anglist bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018 als deutscher Botschafter in Belgien.

Ernst-Jörg von Studnitz wurde 1937 geboren. Er trat 1967 in den Auswärtigen Dienst ein. Von 1995 bis 2002 diente der promovierte Jurist als Botschafter in Moskau. Studnitz war bis zu seinem jüngst erfolgten Austritt Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums. Außerdem gehörte er dem Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs an.

Herr von Studnitz, Sie waren von 1995 bis zum Jahr 2002 deutscher Botschafter in Moskau. Das heißt, Sie haben den Wechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin an der Spitze der russischen Regierung vor Ort mitbekommen. Welchen Eindruck hatten Sie damals von Putin? Konnte man um die Jahrtausendwende schon ahnen, welchen Weg er einschlagen würde? 

Ernst-Jörg von Studnitz: Ganz ehrlich gesagt: Nein. Ich hatte im Jahr 1998 ein etwas längeres Gespräch mit Putin geführt, bei dem es darum ging, dass die Russen überraschend in Pristina einmarschiert waren und sich damit über eine Verabredung mit der Nato hinweggesetzt hatten. Und ich habe Putin gesagt, dass ich es nicht gut finde, wenn man sich aus einer solchen gemeinsamen Operation auf diese Weise herauszieht. Mein Eindruck von ihm bei diesem Gespräch war, dass er mit viel Verständnis darauf reagierte. Ende des Jahres 1999 hörte ich bei einer Autofahrt durch Moskau dann plötzlich, dass Jelzin gesagt hatte, für ihn sei es nun zu Ende und Putin würde das Präsidentenamt übernehmen. Da habe ich gedacht: Jetzt kommt ein Mann, von dem man annehmen kann, dass er die Dinge auf die rechte Bahn bringen wird – nachdem es ja in den späten 1990er-Jahren drunter und drüber gegangen war. Also eigentlich eine positive Einschätzung. 

Herr Lüdeking, Sie waren in Ihrer Zeit beim diplomatischen Dienst insbesondere mit Abrüstungsfragen befasst. Und jetzt erleben wir einen militärischen Großkonflikt auf europäischem Boden. Hätte sich dieser Krieg durch Diplomatie vermeiden lassen

Rüdiger Lüdeking: Das lässt sich im Nachhinein schwer sagen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Rede von Putin vor dem Bundestag, wo er 2001 mit stehenden Ovationen gefeiert worden ist. Aber dann hat sich sehr schnell gezeigt, dass Putin vom Agieren des Westens und der Nato und insbesondere auch der USA sehr enttäuscht war. 2007 hat er eine sehr wütende Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz gehalten, in der er beklagte, dass sich die Nato nicht um die russischen Interessen scheren würde. Das stand natürlich im Zusammenhang mit der Politik von US-Präsident ­George Bush jr., der ja einen ganz anderen sicherheitspolitischen Ansatz als seine Vorgänger verfolgt hat – nicht mehr mit dem Fokus auf ein Gleichgewicht zwischen Nato und Russland, sondern auf amerikanische Überlegenheit. Aber es ist müßig, im Nachhinein darüber zu klagen. Viel wichtiger ist jetzt die Frage: Wie kommen wir unabhängig von der Vorgeschichte aus diesem Krieg wieder raus? 

Genau darüber wollen wir reden. Herr von Studnitz, Sie waren nach Ihrer Zeit als Diplomat noch lange auf dem Gebiet der deutsch-russischen Verständigung aktiv, unter anderem als Vorsitzender im Deutsch-Russischen Forum. Letzteres haben Sie unlängst verlassen. Was war der Grund für diesen Schritt?

Studnitz: Das war natürlich der Krieg. Vor allem die Einschätzung des russischen Verhaltens in diesem Ukrainekrieg seitens einiger leitender Herren im Deutsch-Russischen Forum, mit denen ich grundsätzlich nicht einverstanden war. Weil ich nämlich meine, dass wir heutzutage mit Russland nicht so weiter verfahren können wie bisher, sondern jetzt ein grundsätzlich anderer Ansatz gewählt werden müsste. Damit stieß ich aber auf keinerlei positive Resonanz, mit wenigen Ausnahmen. Interessanterweise sind all diejenigen, die sich meiner Einschätzung angeschlossen haben, ebenfalls aus dem Forum ausgeschieden.

Herr Lüdeking, Sie haben immer wieder für eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Ukrainekriegs plädiert. Am 21. Februar hat Putin in seiner Rede an die Nation seine alten Vorwürfe wiederholt, dass in Kiew ein faschistisches Regime herrsche, das vom Westen gegen Russland instrumentalisiert werde, und dass der Westen es als seine historische Mission sehe, Russland zu unterwerfen. Das klingt nicht so, als wäre Putin an Verhandlungen interessiert. Geben Sie sich da also einer Illusion hin? 

Lüdeking: Nein, ich glaube, das Gegenteil ist der Fall: Man muss mit einem realpolitischen Ansatz an die ganze Geschichte herangehen. Ich fürchte, dass die Debatte in Deutschland – anders als in den Vereinigten Staaten – sehr eindimensional geführt wird. Es ist bedauerlich, dass man bei uns nur auf Waffenlieferungen setzt. Natürlich ist klar, dass wir ein Dilemma zu gewärtigen haben. Einerseits hat Putin mit seinem Aggressionskrieg das allgemeine Gewaltverbot verletzt, und dafür gibt es trotz der Vorgeschichte überhaupt keine Entschuldigung. Deshalb muss es auch eine Unterstützung der Ukraine geben, die sich dafür entschieden hat, nicht zu kapitulieren. Die andere Seite des Dilemmas besteht natürlich in den beträchtlichen Eskalationspotenzialen und darin, dass Putin über Nuklearwaffen verfügt. Insofern plädiere ich dafür, nicht nur auf Waffenlieferungen zu setzen, sondern zumindest auszuloten, ob es eine Möglichkeit für eine diplomatische Lösung gibt. 

Herr von Studnitz, Verhandlungen mit Putin, die Suche nach diplomatischen Lösungen: Ist das aus Ihrer Sicht eine realistische Option? 

Studnitz: Ich halte es nicht für realistisch. Putin hat maximalistische Ziele, von denen er bisher nicht abgerückt ist. Und wenn man Verhandlungen führen will, dann setzt das voraus, dass beide Seiten ein Interesse haben, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Das sehe ich auf russischer Seite nicht. Ich sehe das übrigens auch auf der ukrainischen Seite nicht, wenn es dort heißt, man wolle auf jeden Fall das gesamte russisch besetzte Territorium zurückgewinnen. Auf beiden Seiten werden also maximale Ziele formuliert ohne die Bereitschaft, gewisse Abstriche zu machen. Putin hält weiter an seinem Hauptziel fest, die Ukraine als Staat auszuschalten. Und warum? Weil ein Erfolg der Demokratisierung in der Ukraine ein Beispiel dafür wäre, was nach Putins Vorstellung in Russland nicht geschehen darf. Solange Putin an der Macht ist, wird Russland keinen Weg zur Demokratisierung gehen können. Und weil das immer noch im Raum steht, würde er auf eine Verhandlungslösung nicht eingehen.

Lüdeking: Die Chancen auf eine Verhandlungslösung sind im Augenblick tatsächlich nicht sehr günstig, aber man muss das ausloten. Und es wäre falsch, das lediglich auf Grundlage von offiziellen Erklärungen beider Seiten zu machen. Natürlich, sowohl Russland als auch die Ukraine vertreten nach wie vor Extrempositionen, die aus meiner Sicht nicht durchsetzbar sind. Ich nehme an, dass auch Putin sich darüber bewusst ist, dass er unter den gegebenen Umständen seine ursprünglichen Kriegsziele nicht erreichen wird. Ebenso wenig sehe ich aber, dass die Ukraine ihre Kriegsziele erreichen wird. Es wird also keinen Siegfrieden in der Form geben, dass eine der beiden Seiten aufgibt. Die Frage ist deshalb, zu welchem Zeitpunkt man zu Verhandlungen kommt: jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt? Und ich bin der Überzeugung, dass die Option einer Kriegsbeendigung durch eine Verhandlungslösung oder einen Waffenstillstand einfach nicht hinreichend ausgelotet wurde. Stattdessen wird nur auf offizielle, konfrontative Erklärungen hingewiesen. 

Aber worüber sollte denn überhaupt verhandelt werden? Über die territoriale Integrität der Ukraine? Soll es darum gehen, einen neutralen Status für das Land zu zementieren? Wo wäre also überhaupt Raum für Verhandlungen? 

Studnitz: Ich verstehe das auch nicht. Wenn man etwas ausloten will, muss man an irgendeiner Stelle ja sagen: Also hier ist vielleicht etwas, das wir erreichen können, auf das wir bauen können. Putin hat zudem sehr deutlich gemacht, dass es ihm nicht nur um die Ukraine geht. Sondern darum, dass sich die Amerikaner aus Europa zurückziehen und Russland das Feld überlassen. Davon ist er bisher auch nicht abgerückt.

Lüdeking: Der Westen hat auf Putin mit einem Maß an Arroganz reagiert, das für mich unverständlich ist. Es liegt doch in der Natur der Sache, dass beide Seiten zunächst einmal Maximalforderungen vertreten, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern. Ich glaube, es wird viel zu sehr in der Öffentlichkeit darüber gesprochen, was denn die Linien seien, auf die man sich vielleicht einigen könnte. Es ist ganz klar, dass es zwei dominierende Themen gibt: Einerseits die Frage, welchen Status die Ukraine haben soll. Da wurde von russischer Seite bekanntlich immer gefordert, die Ukraine solle neutral sein. Ich glaube, darüber sind wir inzwischen hinweg, denn nach allem, was wir erlebt haben, braucht es Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Zum Zweiten geht es um den heiklen Punkt der territorialen Fragen. Hier hält Putin offiziell seine Ziele aufrecht, aber vielleicht wäre er auch bereit, sich mit etwas moderateren Zielen zu begnügen. Und das hieße, dass er von der Ukraine territoriale Konzessionen fordert. Natürlich kann man von der Ukraine nicht erwarten, dass sie diese einfach akzeptiert. Allerdings möchte ich daran erinnern, dass Ende März vorigen Jahres schon eine Art Verhandlungsergebnis mit territorialen Zugeständnissen im Raum stand. 

Studnitz: Als der CIA-Chef William Burns vor nicht allzu langer Zeit in Moskau gewesen ist und dort wohl auch mit Putin gesprochen hat, gab er nach seiner Rückkehr sinngemäß zu Protokoll: Es ist hoffnungslos, wir kommen nicht voran. Und Burns ist jemand, der wirklich im Ruf steht, Verhandlungen in vielen Fällen erfolgreich geführt zu haben.

Lüdeking: Ja. Burns hat nach seinem Besuch in Moskau aber auch gesagt, man müsse das nukleare Säbelrasseln Russlands ernst nehmen. Und wenn man sich die jüngsten Äußerungen von Putin so anhört, ist kaum vorstellbar, dass er sich mit einer militärischen Niederlage in der Ukraine einfach abfinden würde. Insofern sehe ich, dass er durchaus bereit wäre, Nuklearwaffen einzusetzen, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht und er eine katastrophale Niederlage seiner Streitkräfte zu gewärtigen hätte.

Herr von Studnitz, Sie sind Jahrgang 1937, also praktisch noch ein Kind des Zweiten Weltkriegs. Glauben Sie wirklich, dass sich ein Dritter Weltkrieg vermeiden lässt, indem man eine Seite mit immer mehr Waffen beliefert? 

Studnitz: Das ist überhaupt nicht die Frage. Die Frage ist: Wie weit wird dieser Krieg seitens der Ukraine geführt werden können? Und ich glaube, da sind die Amerikaner durchaus der Überzeugung, dass dieser Krieg nicht über die Grenzen der Ukraine hinaus geführt werden darf – aus Sorge, dass das tatsächlich ausufern könnte in einen bewaffneten Konflikt zwischen der Nato und Russland. Dass wir durch die Unterstützung der Ukraine in diese Konsequenz hineingeraten, ist durchaus vermeidbar. Nach meiner Überzeugung muss es aber zu einer Niederlage Russlands in der Ukraine kommen. Wesentlich ist eigentlich das Scheitern der für diesen Sommer offensichtlich geplanten erneuten russischen Offensive. Wenn die abermals schiefgeht wie die entsprechenden Versuche im vergangenen Jahr, halte ich es für durchaus denkbar, dass es zwar nicht unbedingt zu einer Revolution in Russland kommt. Aber doch immerhin zu einem Widerstand seitens der Militärs, die Putin sagen: „Wir ruinieren die gesamte russische Armee. Wie lange soll das noch weitergehen?“ Deshalb halte ich es für so wichtig, dass die Russen in diesem Sommer abermals eine Niederlage in der Ukraine erleiden. 

Das sagt sich so leicht: Niederlage. Es gibt ja auch ernst zu nehmende Stimmen, die behaupten, eine militärische Niederlage würde Putin sich auf gar keinen Fall erlauben können. Und bevor er diese in Kauf nimmt, würde er Nuklearwaffen einsetzen. 

Lüdeking: Ich halte den Einsatz von Nuklearwaffen nicht für ausgeschlossen. Und selbst wenn man zum Ergebnis kommt, dass er relativ unwahrscheinlich ist: Die Gefahr einer Eskalation wächst mit der Dauer des Konflikts. Wir sind dabei, auf eine zunehmend schiefe Ebene zu geraten. Das heißt, die Situation könnte auch unbeabsichtigt außer Kontrolle geraten – wir haben das ja im November vorigen Jahres gesehen, als eine ukrainische Luftabwehrrakete in Polen gelandet ist. Wenn so etwas noch einmal passieren und es sich nicht um eine ukrainische Rakete handeln sollte, sondern um eine russische, ist natürlich die Frage: Haben wir dann den Bündnisfall? Haben wir dann einen noch größeren, vielleicht auch konventionellen Krieg? Ich halte es für falsch, pauschal eine russische Niederlage als Ziel zu definieren. Es geht um die Selbstbehauptung der Ukraine als selbstständiger, souveräner Staat. Darauf kommt es an – gerade auch, wenn man sich die amerikanische Position anschaut. Denn es ist keinesfalls so, dass die US-Administration sich da einig ist. Jedenfalls glaube ich, wenn Putin vor einer katastrophalen Niederlage stünde, könnte er durchaus zu Nuklearwaffen greifen. Es hatte ja anfangs auch kaum jemand geglaubt, dass er die Ukraine überhaupt angreifen würde. Und dann hat er es doch getan. 

Herr von Studnitz, trauen Sie Putin den Einsatz von Atomwaffen zu? Und gegen wen könnte er sie überhaupt richten? 

Studnitz: Es ist doch interessant, dass immer, wenn in der Vergangenheit das Thema Nuklearwaffen hochkam, kurz darauf der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow auf die geltende nukleare Verteidigungsdoktrin verwiesen hat. Und die besagt: Wenn Russland in seiner Existenz bedroht ist, dann werden auch Nuklearwaffen zum Dispositiv der russischen Armee gehören. Russland ist aber nicht in seiner Existenz bedroht, wenn es den Krieg in der Ukraine verliert. Keineswegs. 

Aber Russland betrachtet die Krim mittlerweile als sein eigenes Land. Insofern könnte der Kreml durchaus argumentieren, dass Russland selbst in seiner Existenz bedroht wird. 

Lüdeking: Ich fürchte, man kann das alles theoretisch ableiten aus der russischen Nukleardoktrin. Aber letztlich handelt es sich um einen Krieg von Putin. Und wann wir im Westen zur Kriegspartei werden oder wann er Nuklearwaffen einsetzt, das können wir mit Gewissheit gar nicht vorhersagen. Es ist ja auch bemerkenswert, wenn man mal der amerikanischen Seite zuhört. Washington hat immer sehr, sehr vorsichtig agiert, auch bei der Lieferung von Waffen. Um nämlich zu gewährleisten, dass gar nicht erst der Eindruck entsteht, dass wir Kriegspartei sein könnten. Die Amerikaner haben zum Beispiel nur Himars-Abwehrraketen mit einer geringen Reichweite geliefert, um sicherzustellen, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, auch russisches Territorium anzugreifen. Insofern muss man da schon ein gewisses Maß an Umsicht und Augenmaß auf amerikanischer Seite konstatieren.

Studnitz: Das ist zweifellos richtig. Aber man muss dabei eines berücksichtigen: Auch die Amerikaner haben die Russen sehr deutlich davor gewarnt, Nuklearwaffen einzusetzen. Von chinesischer Seite ist das in gleicher Weise gesagt worden. Nun können Sie natürlich behaupten: Na ja, der Putin hat sich über alles hinweggesetzt und entscheidet nach eigenem Gutdünken – wie ein Straßenkämpfer, der er ja einst war. Dennoch halte ich die Drohung mit Nuklearwaffen für eine politische Maßnahme, um den Westen einzuschüchtern. Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Selbst wenn Putin den Einsatz von Atomwaffen anordnen sollte, dann drückt er nicht allein auf einen Knopf. Sondern es gibt noch viele andere Personen, die in der Befehlskette mit drinstecken. Und ob diese Offiziere sich wirklich darauf einlassen würden, ist eine andere Frage.

Herr Lüdeking, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat unlängst öffentlich geäußert, „wir“ würden einen Krieg gegen Russland führen. War Baerbocks Aussage einfach nur ungeschickt oder hat sie letztlich nur eine Tatsache ausgesprochen

Lüdeking: Sie war im höchsten Maße ungeschickt und auch falsch. Denn es muss doch sehr deutlich werden, dass wir gar kein Interesse daran haben, als Kriegspartei aufzutreten. Wir sollten uns eher auf einen Standpunkt stellen, der ja auch von chinesischer Seite immer wieder vorgebracht wird: dass letztlich das Prinzip des Gewaltverbots gewahrt werden muss. Wir sind nicht in einem Krieg gegen Russland, schon gar nicht gegen die russische Bevölkerung. Wir sind nur dagegen, dass Putin dieses Prinzip des Gewaltverbots in so eklatanter Weise verletzt hat. Gerade vor diesem Hintergrund störe ich mich an dieser emotional aufgeheizten Debatte in Deutschland, bei der sich offenbar alles immer nur um Waffenlieferungen dreht. Denn es ist genauso wenig moralisch, dass man jetzt Zehntausende oder gar Hunderttausende weitere Tote bei einem längeren Abnutzungskrieg in Kauf nimmt, mit dem wir jetzt konfrontiert sind. Das wird immer ein bisschen unter den Tisch gekehrt. 

Herr von Studnitz, befinden wir uns im Krieg mit Russland, wie Frau Baerbock gesagt hat, oder ist die deutsche Außenministerin der Situation einfach nicht gewachsen? 

Studnitz: Ich halte das für eine unbedachte Äußerung, die verheerend ist. Der Satz könnte so stehen bleiben, wenn sie nur ein kleines Wort hinzugefügt hätte: Wir befinden uns im „kalten“ Krieg mit Russland. Denn diesen Zustand haben wir in der Tat erreicht. Aber natürlich befinden wir uns nicht im Krieg mit Russland. Deswegen haben wir auch gar keine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen zur Beendigung dieses Krieges. Das Einzige, was wir können, besteht darin, die Ukraine zu beraten, welche Schritte sie unternehmen könnte, um diesen Krieg zu beenden. Die Amerikaner tun das auf jeden Fall. Deutschland hat in der Hinsicht leider keine sehr guten Karten, denn nachdem wir uns bei der militärischen Unterstützung der Ukraine im vergangenen Jahr so zögerlich verhalten haben, sind unsere Einflussmöglichkeiten gering. Die amerikanische Regierung wird übrigens auf die Stimmung im Kongress Rücksicht nehmen müssen, wo mit Blick auf Waffenlieferungen an die Ukraine inzwischen eine gewisse Skepsis herrscht. Insofern wird es Gespräche zwischen Wa­shington und Moskau geben, die aber natürlich nicht an die Öffentlichkeit geraten. Dennoch sehe ich im Augenblick die Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts als außerordentlich gering an. 

Lüdeking: Ja, das mögen Sie so einschätzen. Aber ich glaube schon, dass die Russen Wert darauf legen, auf gleicher Augenhöhe behandelt zu werden. Es ist völlig klar, dass die USA natürlich auch Partei sind. Und dass man in dieser Rolle schlecht vermitteln kann, ist auch klar. Es gibt in diesem Konflikt ja ohnehin kaum noch neutrale Staaten – abgesehen vielleicht von einigen Ländern im globalen Süden, die sich jedenfalls so gerieren. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass der amerikanisch-chinesische Austausch bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor einigen Wochen als Chance wahrgenommen würde, gemeinsam in irgendeiner Form auf Russland einzuwirken. Ein Zusammenwirken der USA und Chinas böte vielleicht am ehesten eine Möglichkeit, den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Stattdessen hat Washington wieder öffentlich davor gewarnt, dass die Chinesen möglicherweise Waffen an Russland liefern könnten. Das will ich gar nicht mal ausschließen. Aber warum muss man das in die Öffentlichkeit tragen? Ich halte es da gern mit Roosevelt, der gesagt hat: „Speak softly and carry a big stick.“ 

Herr von Studnitz, halten Sie es für möglich, dass Russland diesen Krieg am Ende gewinnt? Und was würde das für den sogenannten Westen bedeuten? 

Studnitz: Das würde ich messen an den Aussagen von Putin, wonach der Untergang der Sowjetunion die größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Putin fordert, dass das Territorium, das unter sowjetischer Herrschaft gestanden hat, wieder unter russische Herrschaft gelangen muss. Das betrifft in erster Linie die baltischen Staaten genauso wie Moldawien. Und natürlich auch die ganze Ukraine. Wenn man Putins Forderungen ernst nimmt, würde das auch bedeuten, dass sich die Nato aus dem Gebiet zurückziehen müsste, das ursprünglich mal zum Warschauer Pakt gehört hat. Das sind Putins Maximalforderungen. Und ich glaube, an diesem Thema würde er weiter arbeiten, wenn er den Krieg in der Ukraine gewinnen sollte. Es wird in Europa keine Ruhe geben. 

Lüdeking: Dem stimme ich nicht ganz zu. Putin mag ein Interesse daran gehabt haben, die alte Sowjetunion wiederherzustellen. Aber ihm dürfte klar sein, dass ihm das nicht gelingen wird. Und er hat sich jetzt schon mit der Ukraine deutlich verhoben. Ich meine, man sollte jetzt nicht mit diesem Angst machenden Argument kommen, dass die Ukraine der erste Stein in einem Dominospiel wäre. Wenn man sieht, dass Russland noch nicht einmal in der Lage war, von russischem Territorium aus die 30 Kilometer entfernte Stadt Charkiw zu erobern, dann werden die sich das fünfmal überlegen, ob sie einen Krieg mit der Nato anfangen. Putin sollte deutlich geworden sein, dass die Nato ernst zu nehmen ist.

Letzte Frage an Sie beide: Rechnen Sie damit, dass es noch mal ein Jahr oder sogar länger brauchen wird, bis dieser Krieg beendet ist?

Studnitz: Ja, ich bin durchaus der Auffassung, dass dieser Krieg auch in einem Jahr nicht beendet sein wird. Dass die Russen vermutlich nicht von ihren Zielen ablassen wollen und deshalb den Krieg auch fortführen. Zumal es eben keine Aussichten gibt, um zu einem Waffenstillstand zu kommen, der Konzessionen gerade auch von russischer Seite erfordern würde. 

Lüdeking: Ich fürchte, ich muss Herrn von Studnitz recht geben. Deswegen müssen wir wirklich alles daransetzen, nicht nur Waffen zu liefern, sondern auch an einem Waffenstillstand beziehungsweise an einer Friedenslösung zu arbeiten. Denn wir sollten nicht noch einmal einen jahrelangen Krieg in Europa mit ungewissem Ausgang tolerieren. Sowohl der russischen als auch der ukrainischen Seite sollte klar sein, dass sie ihre Kriegsziele vielleicht nicht erreichen und dass es besser ist, sich irgendwie zu einigen. Dazu müssen beide Seiten gedrängt werden

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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