Streit um Corona-Lockdown - Schluss mit dieser Soap!

Die Corona-Lockdown-Runde der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gerät immer mehr zu einer unwürdigen Unterhaltungsnummer. Auch die Medien beteiligen sich daran. So entsteht der Eindruck, nicht die Bevölkerung habe den Ernst der Lage nicht verstanden, sondern die Regierenden.

Die Jury ist sich uneins / dpa
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Wir befinden uns in Deutschland im neunten Monat eines nahezu weltweiten Ausnahmezustands. Und es gehört leider zum Wesen von Viren wie Covid-19, dass sie unvorhersehbar sind. In dieser Pandemie gut zu regieren, auf sie angemessen zu reagieren, ist dennoch möglich, auch wenn nie alles gelingen kann. Bei dem inzwischen fast schon als normal empfundenen Format der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), zusammen mit dem Kanzleramt, ist gestern nicht alles gelungen. Und weil nicht alles gelingen kann, könnte man – wie von Gesundheitsminister Jens Spahn schon früh erbeten – einander viel verzeihen.

Aber das Spahn'sche Vorsorgeprinzip gegen Regierungskritik hat seine Grenzen. Dann nämlich, wenn nicht das Mögliche getan wurde. Obwohl die Bundeskanzlerin und die Landeschefs vor dem neuerlichen Lockdown Anfang des Monats beteuert hatten, man werde Mitte November wieder zusammenkommen, neu bewerten und neu entscheiden, ist nun nichts geschehen – außer eindringlicher Appelle und einer Ankündigung weiterer Verschärfungen, aber erst in der kommenden Woche. Das sei wichtig wegen der Planbarkeit, hieß es nun. Tatsächlich aber gibt es keine Planbarkeit, außer: Sie müssen mit allem rechnen!

Klare Kommunikation scheint nun egal zu sein

Aber ist das schon die sogenannte „Good Governance“, die in einer so unvorhersehbaren und existenzbedrohlichen Lage ganz besonders vonnöten wäre? Mitten in so einer Pandemie werden klare Kommunikation, Rechtssicherheit und Transparenz umso wichtiger, je länger die Situation andauert. Doch man gewinnt inzwischen den Eindruck, die Regierenden verhielten sich genau umgekehrt. Zumindest scheint es eine sehr eigenwillige Interpretation von Transparenz, klarer Kommunikation und Rechtssicherheit zu geben.

Es fängt damit an, dass das Bundeskanzleramt offenbar nicht zum ersten Mal vor dem Beginn des Treffens die eigenen Vorstellungen einzuführender Maßnahmen an die Medien lanciert, um Druck auf die Länderchefs aufzubauen. Und es hört damit auf, dass während der MPK-Videoschalte ganz offensichtlich mehrere „Standleitungen“ zu Journalisten, Politikern und Spin-Doktoren ganz bewusst offen gehalten werden. Im Sinne der Transparenz von Entscheidungsfindungsprozessen ist das eigentlich wünschenswert. Tatsächlich ist auf diese Weise aber nun ein Chaos entstanden, dass das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit stört.

Die Corona-Unterhaltungsshow

Unterhaltsam ist es freilich, wenn etwa Bild einen „Döner-Streit“ zwischen Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller und der Bundeskanzlerin meldet und allerlei weitere Scharmützel parallel im Livestream verkündet. Es ist auch noch erfrischend, wenn sich Journalisten auf Twitter mit Politikern aus der vierten und fünften Reihe einen Wettbewerb liefern und sich sehr wichtig vorkommen, weil sie jeweils vorgeben, ganz besonders nah dran zu sein am Diskussionsgeschehen. Dabei muss heutzutage nur einer der vielen Beteiligten sein Smartphone zum Mithören anlassen.

Das geschieht inzwischen so exzessiv, dass der Eindruck einer launigen Daily Soap hängenbleibt, einer Unterhaltungsshow mit inszeniertem Jury-Streit. Klar ist es spannend, wenn Michael Müller bei der anschließenden Pressekonferenz wie ein begossener Pudel neben Angela Merkel sitzt und seine ohnehin schon durchgesickerte Kritik am Bundeskanzleramt wie ein unartiger Junge herausquält. Wenn sich die Kanzlerin dann noch vor lauter Missmut darüber öffentlich in eigenen Stanzen verheddert, hat sich diese neue Folge auch schon gelohnt. Wirklich? Vonseiten vieler Politiker wird oft von „der Bevölkerung“ gesprochen und dass dieser der „Ernst der Lage“ klargemacht werden müsse. Womöglich sollten sich einige Volksvertreter darüber aber zunächst selbst klar werden.

Ein unwürdiger Umgang

Corona ist weder Daily Soap noch Unterhaltungsshow. Für Hunderttausende, für Millionen von Menschen ist diese Pandemie auch in Deutschland bittere Realität. Ein Umgang mit dieser Realität, wie er gestern stattgefunden hat, ist schlicht unwürdig. Für Risikogruppen ebenso wie für jene, die es zwar auch treffen kann, die aber ganz besonders von Quasi-Berufsverboten, von Kontaktbeschränkungen, von Kita- und Schulschließungen, von drohenden Pleiten und vielem mehr betroffen sind. Man muss akzeptieren, dass die Existenz des Virus derzeit alternativlos ist. Alles andere wäre Realitätsverweigerung. Aber man muss nicht akzeptieren, dass einerseits gesagt wird, es sei Gefahr im Verzug, dass andererseits nun aber offenbar doch noch eine Woche Zeit zu sein scheint.

Wie eingangs erwähnt, in einer solchen Lage gibt es keine perfekten Entscheidungen. Nach neun Monaten in der Pandemie aber ist von den Regierenden zu erwarten, dass sie sich vom Notfallmodus verabschieden und die viel beschworene „neue Normalität“ nicht nur von der Bevölkerung vorerst angenommen wird. Neue Normalität hieße etwa, sich mit den Dingen (öffentlich!) auch dann zu beschäftigen, wenn sie gerade noch nicht auf der Tagesordnung stehen und politisch schwer vermittelbar erscheinen, wie es im Sommer der Fall gewesen ist.

Wenn wir mit allem rechnen müssen, dann müssen wir auch Pläne erwarten können, wie etwa mit erneuten Schulschließungen umgegangen wird. Dann hätte es längst einen Plan geben müssen, ob und wie gelüftet werden kann. Dann hätte es längst eine Diskussion um eine erweiterte Corona-App geben müssen. Dann hätte es längst bundeseinheitliche Maßnahmen mit regional angepasster Ausgestaltung geben müssen. Hätte, hätte, Infektionskette.

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