Steuerreform der Ampel - Ausgerechnet Lindner

Einkommensteuertarife angepasst, Grundfreibeträge erhöht - Christian Lindner hat sich mit seinen Plänen zur Steuerreform durchgesetzt. Aber die wirkliche Prüfung steht der Koalition noch bevor: eine adäquate Antwort auf die explodierenden Gaspreise.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg im Mai 2022 / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Nun also doch: Trotz namhafter kritischer Stimmen hat sich Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) durchgesetzt. Die Einkommensteuertarife werden in den nächsten beiden Jahren ebenso signifikant angepasst wie Grundfreibeträge erhöht. Die Bundesregierung reagiert damit sowohl auf die massiven Kaufkraftverluste infolge der Inflation als auch die Tatsache, dass steigende Löhne automatisch steigende Steuersätze zur Folge haben (kalte Progression). Hierdurch werden gerade Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen besonders belastet.

Zuvor hatte die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken (SPD) ein derartiges Vorhaben dennoch abgelehnt, weil es angeblich Besserverdienende bevorzuge. Lindner sah sich durch seine Kritiker offenbar herausgefordert. Er verteidigte diese Woche seine Steuerreform sogar in einem eigenen Gastbeitrag in der FAZ. „Was seit langer Zeit Staatspraxis ist, wird nun von linken Stimmen zur ‚Klientelpolitik‘ erklärt“, stellte er verwundert fest.

Klientelpolitik?

Und Recht hatte er ja auch: Die regelmäßige Anpassung der Steuertarife an die Lohnentwicklung hat mit einer liberalen Steuer- oder gar Klientelpolitik nichts zu tun. Es ist schlicht das steuermoralische Minimum, das jede Regierung ihren Bürgern schuldet. Die inflationsbedingten Mehreinnahmen des Staates durch eine „Steuererhöhung durch Unterlassung“ nicht an die Bürger zurückzugeben, wäre aus seiner Sicht einfach „nicht fair“ gewesen: „Wer mehr Umverteilung und höhere Steuerquoten will, der möge dafür im demokratischen Wettbewerb werben. Aus dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl lässt sich aber keine Mehrheit für Steuererhöhungen ableiten – weder durch Taten, noch durch Untätigkeit“, so der Bundesfinanzminister, wohl auch an Saskia Esken gerichtet.

Am Ende ist die koalitionsinterne Einigung zur Steuerreform aber ein nahezu mustergültiges Beispiel für gelungene Kompromissbildung in der Demokratie und die anschließende kommunikative Verschleierung. Denn tatsächlich beinhaltet die vorgeschlagene Steuerreform ein Novum: Die Kurve der Steuertarife wird, wie die Experten sagen, nicht insgesamt „nach rechts“ verschoben, sondern nur bei den unteren bis mittleren Einkommen.

Untere bis mittlere Einkommen profitieren am stärksten

Davon profitieren zwar auch diejenigen mit höheren Einkommen, aber am Ende wird deren finanzieller Vorteil durch den Kompromiss stark gedämpft. Im Ergebnis werden Bezieher von einem Einkommen in Höhe von bis zu 15.000 Euro im Jahr 2023 steuerlich gegenüber dem Status quo um mehr als 10 Prozent entlastet. Bei einem Einkommen von mehr als 250.000 Euro pro Jahr sind es hingegen weniger als ein Prozent.

Ausgerechnet ein FDP-Finanzminister sieht also dabei zu, wie Steuerbürger mit sehr hohen Jahreseinkommen weit weniger profitieren als bei einer Anpassung der Steuertarife eigentlich üblich gewesen wäre. Oder anders formuliert: Für sie hält er eine relative „Steuererhöhung durch Unterlassung“ offenbar doch für teilweise hinnehmbar. Lindner kann sich in seinem Gastbeitrag daher auch nicht die spitze Bemerkung verkneifen, dass so nicht einmal sein Amtsvorgänger gehandelt hätte.

 

 

Was Lindner sich selbst zurechnet, dass also die Steuerentlastung in den unteren bis mittleren Einkommensgruppen besonders stark ausfällt und in den oberen Einkommensgruppen viel weniger passiert als selbst unter SPD-Finanzminister Olaf Scholz, dürfte allerdings weniger auf ihn als seine Kritiker zurückzuführen sein. Die SPD wollte eine Entlastung der Bürger mit sehr hohen Einkommen verhindern - und die FDP vor allem die bürgerliche Mittelschicht nicht im Regen stehen lassen. Und nun bekommen beide, was sie wollten.

Erhöhung des Kindergelds

Als da wären: Der Grundfreibetrag wird in mehreren Stufen bis 2024 um rund 600 Euro auf 10.932 Euro angehoben, die Tarifeckwerte der Einkommensteuer werden nach rechts verschoben, also unter Ausnahme der so genannten „Reichensteuer“ an die Inflation angepasst, das monatliche Kindergeld steigt von 219 Euro stufenweise auf 233 Euro im Jahr 2024, und der steuerliche Kinderfreibetrag wird für das Jahr 2022 rückwirkend auf 2.810 Euro angehoben und steigt bis zum Jahr 2024 auf 2.994 Euro. Ein kinderloses Ehepaar hat damit im nächsten Jahr 500 Euro und im Jahr 2024 rund 800 Euro mehr in der Tasche als auf der Grundlage der derzeitigen Steuergesetzgebung.

Aber das war erst die Pflicht. Viel drängender als die Belastungen durch die Einkommensteuer sind die Energiepreise. Insbesondere die Gaspreise können sich zu einer tiefen sozialen und auch politischen Krise der Republik auswachsen. Auf dem Gasmarkt steht derzeit eine Verfünffachung der Kosten für Verbraucher in Aussicht. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik müsste dann die Hälfte der deutschen Haushalte monatlich etwa so viel Geld für Energie aufbringen wie für die Miete. Bringt die Bundesregierung hierfür nicht schnell ein intelligentes Hilfspaket zustande, sind die sozialen wie wirtschaftlichen Folgen unabsehbar.

5000 Euro Nachzahlung bei der Energie?

Zahlreiche Haushalte der sozialen Unter- und Mittelschicht dürften zum Beispiel nicht einfach 5.000 Euro auf dem Konto haben, um Betriebskostennachzahlungen zu leisten und außerdem entsprechend erhöhte Vorauszahlungen. Es drohen Kündigungswellen und Rechtsstreitigkeiten ohne Ende. Und die Politik kann für Kündigungen trotz Mietrückstands nicht beliebig Moratorien verhängen. Da für gewöhnlich die Vermieter die Gasmehrkosten vorstrecken, fressen die Mehrbelastungen am Ende die Mieteinnahmen auf. Wohnobjekte wollen aber auch instand gehalten und Kredite abgezahlt werden.

Ohne Lösung für dieses Problem droht die Krise der Energieversorger in die gesamte Immobilienbranche hinüber zu schwappen. Die geplanten 400.000 zusätzlichen Wohnungen pro Jahr, die im Koalitionsvertrag der Ampel verankert sind, würden sich über Nacht in Luft auflösen. Die Bundesaußenministerin war daher zwar nicht sehr geschickt, als sie vor ein paar Wochen öffentlich über „Volksaufstände“ im Herbst und Winter fabulierte. Aber sie traf damit ins Schwarze. Nachdem die Pflicht absolviert ist, wird sich die Bundesregierung nun an die Kür machen müssen. 

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