Unterschiede zu 2015 - Die neue „Flüchtlingskrise“

Nach sieben Jahren sind wir erneut Zeugen einer „Flüchtlingskrise“. Es ist zunächst die Krise der Flüchtlinge selbst, die sich gezwungen sehen, Hals über Kopf alles hinter sich zu lassen. Die Ursache ist die Krise ihres Heimatlandes durch den Angriff russischer Truppen. Dass die Zielländer ihre Situation auch als krisenhaft wahrnehmen, ist nur eine Frage der Zeit und der Größenordnung und Geschwindigkeit des Zuzugs.

Ukrainische Flüchtlinge Mitte April im polnischen Przemysl / dpa
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Autoreninfo

Stefan Luft ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen. Er ist gemeinsam mit Sandra Kostner Herausgeber des jüngst erschienenen Bandes „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ (Westend Verlag).

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Zahlreiche und grundlegende Unterschiede zur „Flüchtlingskrise“ 2015/2016 fallen ins Auge: So ist das Herkunftsland der Flüchtlinge diesmal ein Anrainerstaat der Europäischen Union. Anrainerstaaten haben eine besondere Verantwortung – die Flüchtlinge können und wollen häufig nicht weiterziehen, weil ihnen die Mittel dazu fehlen oder weil sie hoffen, möglichst rasch wieder in ihr Heimatland zurückkehren zu können. Libanon, Jordanien und die Türkei gehörten zu jenen Nachbarstaaten Syriens, die 2015 die meisten Flüchtlinge im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung aufnahmen.

In ihrer Rolle als Anrainer und vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Jahre 2015/16 aktivierte die EU zum ersten Mal die „Massenzustromrichtlinie“ aus dem Jahr 2001. Es gelten somit nicht die Kriterien des umstrittenen und in weiten Teilen dysfunktionalen Dublin-Systems, wonach das Land des Erstzutritts verantwortlich für Verfahren und Aufenthalt ist – also jene Mitgliedsländer, über deren Territorium der Schengenraum als erster betreten wird. Im Gegensatz dazu haben die Flüchtlinge aus der Ukraine die freie Wahl des Mitgliedsstaats, in dem sie Schutz suchen wollen. Auch die Möglichkeit der Weiterwanderung steht ihnen für 90 Tage offen.

Die Gräben zwischen Deutschland und Schweden als Treiber in der Flüchtlingsaufnahme 2015/16 einerseits und der Mehrheit der Mitgliedsstaaten andererseits, die diese Politik nicht mittrugen, bestehen beim Thema Ukraine so nicht. Ob das bei länger andauerndem Zustrom so bleiben wird, ist allerdings fraglich. Auch Alleingänge – wie durch die deutsche Bundesregierung 2015 – belasten die Politik gegenwärtig nicht.

Vormacht USA

Förderlich für eine international geteilte Schutzverantwortung ist die politische Handschrift einer Vormacht – wie die der USA in den 1970er-Jahren. Auch heute sind die USA sehr viel stärker präsent als in den Jahren 2015/16. Gleiches gilt für die politischen Motive der Flüchtlinge und der Aufnahmestaaten: Die vietnamesischen Boatpeople flohen vor einem kommunistischen Regime, die Ukrainer fliehen vor der Kriegsmaschinerie Russlands, personifiziert durch Wladimir Putin.

Für etliche mittel- und osteuropäische EU-Staaten, die Russland nicht erst seit gestern als Bedrohung wahrnehmen, realisiert sich in diesem Krieg das permanent vorhandene Worst-Case-Szenario. Sie sehen sich deshalb besonders in der Pflicht, den Flüchtlingen zu helfen. Die Fluchtursachen 2015/16 waren hingegen weniger eindeutig zuzuordnen: Die Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens ging wesentlich auf die militärischen Interventionen der USA und anderer westlicher Staaten in Ländern wie Irak, Iran, Libyen, Afghanistan zurück. Eine Mitverantwortung für die daraus resultierenden Flüchtlingsbewegungen konnten viele Staaten, die heute große Aufnahmebereitschaft zeigen, damals nicht erkennen.

Der Zustrom erfolgt heute dramatisch schneller als 2015: Seit Beginn des Krieges am 24. Februar, also innerhalb von vier Wochen, sind – so die Schätzungen – rund 3,6 Millionen Ukrainer über die Grenzen geflohen, davon etwa drei Millionen in die EU. Hingegen gelangten im Laufe der beiden Jahre 2015 und 2016 rund 2,4 Millionen Flüchtlinge in die Union. Mehr als die Hälfte der Ukrainer flüchteten zunächst nach Polen, 14 Prozent nach Rumänien, neun Prozent nach Moldawien und acht Prozent nach Ungarn. Die meisten Ukrainer lebten vor dem Beginn des Krieges innerhalb der EU in Polen und Italien. In Deutschland waren es 331.000 Personen. Netzwerke spielen eine zentrale Rolle bei der Auswahl des Zielstaates.

Keine Lehre aus 2015/16

Auch diesmal weiß die Bundesregierung nicht, wie viele Flüchtlinge sich im Land aufhalten und wer sie genau sind. Dokumentiert sind seit Kriegsbeginn am 24. Februar rund 272.000 Menschen (mit Stand 28. März), die tatsächliche Zahl liegt aber offensichtlich erheblich höher. Bundesinnenministerin Nancy Faeser lehnte eine vollständige Registrierung der Ankommenden sogar ab.

Das ist erstaunlich, schließlich ist aus den Folgejahren des Massenzustroms von 2015 hinlänglich bekannt, wie wichtig ein geordnetes Aufnahmeverfahren auch unter schwierigen Bedingungen ist. Es ist unverzichtbar, zu wissen, wer sich in Deutschland aufhält, um Trittbrettfahrer, Missbrauch und Sicherheitsrisiken zu reduzieren. Zudem verfügen die ukrainischen Staatsangehörigen über biometrische Pässe, was das Verfahren technisch erleichtern sollte. Die Bereitschaft der Flüchtlinge zur Registrierung dürfte ihre Befürchtung hemmen, danach zu einem Wohnortwechsel verpflichtet zu werden – im Rahmen landesweiter Umverteilungen. Der Bezug von Sozialleistungen ist allerdings erst nach erfolgter Registrierung möglich.

Die Ukraine-Flüchtlinge müssen keine Asylverfahren betreiben – das entlastet die nationalen Behörden und ermöglicht die Konzentration auf Unterbringung, Versorgung und vorläufige Eingliederungshilfen. Sie erhalten einen Schutzstatus zunächst für die Dauer eines Jahres, der bis zu drei Jahren verlängert werden kann. Und: Sie haben Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung, Schulbildung, Arbeitsmarkt und Sprachkursen.

Starke Rückkehrorientierung

Ukrainer können seit 2017 visafrei für 90 Tage in den Schengenraum einreisen. Für sie ist also der Aufenthalt in der EU keine derart einmalige Chance, wie es für die syrischen, irakischen oder afghanischen Staatsangehörigen der Fall war. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die meisten Ukrainer stark daran interessiert sind, wieder in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Mittel- und langfristige Pläne werden sie in der gegenwärtigen Situation nicht schmieden wollen und können.

Die deutsche Politik sollte dies respektieren und nicht von vornherein von „Integration“ und „neuer Heimat“ sprechen. Zunächst suchen offensichtlich die meisten schlicht Schutz. Deswegen werden sie aufgenommen. Nützlichkeitserwägungen (Stichworte „Demografie“ und „Fachkräfte- und Lehrermangel“) stehen hintan. Beides zu vermengen schadet dem Gedanken des Flüchtlingsschutzes.

Dementsprechend erscheint es angeraten, phasenweise vorzugehen: Zunächst geht es um die rasche Aufnahme, die Registrierung und die Versorgung mit dem Nötigsten. Wie lange sich dies hinzieht, hängt vom Kriegsverlauf und dem Migrationsgeschehen ab. Gleichzeitig wird die Einschulung der Kinder und Jugendlichen vorangetrieben werden müssen. Die Unterstützung der Erwachsenen beim Erlernen der deutschen Sprache und die Heranführung an den Arbeitsmarkt würde sich idealtypisch anschließen.

Kriegsverlauf und Migrationsgeschehen

Sollte sich der Krieg länger hinziehen, als Partisanenkampf fortgesetzt werden oder die westliche Isolation Russland weiter vorangetrieben werden (etwa weil sich die offensichtlich beabsichtige Ablösung des gegenwärtigen Regimes nicht bewerkstelligen lässt), wird sich die Perspektive der Flüchtlinge verstärkt auf Deutschland richten. Dann steht ein dauerhafter Verbleib zur Debatte – mit den Konsequenzen hinsichtlich Familienzusammenführung und Einbürgerung.

Diese Phasen werden unterschiedlich stark von Initiativen der Bürger und vom Staat beeinflusst. Wie der Prozess der Eingliederung in den Arbeitsmarkt und einer möglichen Integration ablaufen wird, lässt sich nicht vorhersagen – zu viele Unberechenbarkeiten stehen im Raum. Der Zustrom kann weiter zunehmen: Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen geht alleine von 6,5 Millionen Binnenflüchtlingen im Land selbst aus, weitere Zerstörungen durch andauernde Kriegshandlungen können den Wanderungsdruck erhöhen. Schätzungen für das Migrationspotential liegen zwischen vier und zehn Millionen.

Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass es einen Waffenstillstand gibt, der viele zur Rückkehr bewegt. Hinzu kommt die wirtschaftliche Entwicklung in der EU und in Deutschland. Sollte der Wirtschaftskrieg gegen Russland fortgesetzt werden, droht dem Westen und insbesondere der EU eine gefährliche Krise in einer bislang ungekannten Dimension. Inflation, Rezession und Arbeitslosigkeit erheblichen Ausmaßes böten sehr schlechte Voraussetzungen einer erfolgreichen Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Zunehmende gesellschaftliche und politische Spannungen – geschürt durch Verteilungskonflikte – sind für jede Integration denkbar ungeeignet.

Frauen und Kinder in der Mehrheit

Was wir derzeit über die Gruppe der Flüchtlinge wissen, betrifft drei Aspekte – auch hier gibt es große Unterschiede zu 2015/16: War die Gruppe der Fluchtmigranten vor Jahren sehr heterogen (aus Herkunftsländern wie Syrien, Afghanistan, Irak, Kosovo), ist sie diesmal sehr homogen. Kulturelle Distanzen spielen aktuell eine untergeordnete Rolle. Die ukrainischen Flüchtlinge haben mehr Gemeinsamkeiten mit der Aufnahmegesellschaft. Kamen damals zu einem erheblichen Anteil junge Männer, liegt der Kinderanteil diesmal bei rund 50 Prozent.

Bei den Erwachsenen sind die allermeisten weiblich, einen geringen Anteil machen Ältere aus. Das mit der Flucht in die EU verbundene geringe Risiko wirkt sich hier aus. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine aufgrund der Generalmobilmachung gegenwärtig nicht verlassen. Das Bildungsniveau in der Ukraine ist im internationalen Vergleich hoch, zudem verfügen die Frauen dort über ein höheres Bildungsniveau als die Männer. Das gilt auch für die bereits hier seit vor dem Krieg lebenden Ukrainer sowie – davon ist auszugehen – auch für die jetzt ankommenden Flüchtlinge. Fehlallokationen (Ärztin als Pflegekraft im Altersheim, taxifahrender Lehrer) werden sich auch in Zukunft nicht vermeiden lassen. Wie sie ihre formalen Abschlüsse am Arbeitsmarkt in Deutschland umsetzen können, ist noch nicht abzusehen. Das hohe Bildungsniveau lässt jedenfalls einen raschen Spracherwerb erwarten.

Der Königsteiner Schlüssel und die Folgen

Vom weiter zu erwartenden Ausmaß des Zuzugs ist auch abhängig, wie Deutschland mit der regionalen Verteilung umgeht. Bevor die Ballung in den großen Städten an ihre Grenzen stößt (Infrastruktur, Wohnraum, Schulen) wird dieses Thema unbedingt angegangen werden müssen. Die Bundesregierung hat in einem ersten Schritt schon angekündigt, die Flüchtlinge wieder nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Länder verteilen zu wollen. Werden Flüchtlinge einem Ort zugewiesen, sind sie verpflichtet, dem nachzukommen.

Zu den unbeabsichtigten Folgen gehört allerdings, dass zahlreiche Flüchtlinge in strukturschwache Regionen (vor allem in den neuen Bundesländern) gesteuert werden, wo es unter anderem wenig Gelegenheiten gibt, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Die Verteilung der schulpflichtigen Flüchtlinge auf Kitas und Schulen hängt mit dem Wohnort eng zusammen. Die Ballung in bestimmten Stadtteilen (weil es dort preiswerten Wohnraum gibt) zieht nahezu zwangsläufig die Konzentration der Kinder und Jugendlichen in einzelnen Schulen nach sich. Das wird nicht zu vermeiden sein. Ähnliche Folgen zeitigte bereits der Zuzug der Jahre 2015/16.

Folgende Schritte halte ich deshalb aktuell für nötig: In Grundschulen und den ersten Jahren der Sekundarstufe sollten die Flüchtlinge in den Regelklassen aufgenommen werden. Ältere Schüler sollten zunächst in eigenen Vorbereitungsklassen unterrichtet werden – das schlagen auch die Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz und der Sachverständigenrat für Integration und Migration vor.

Die Perspektiven sind offen

Die Perspektiven sind also in jeder Hinsicht offen. Einen Pufferstaat zwischen der Ukraine und der EU, wie es die Türkei für Syrien war und noch ist, gibt es hier nicht. Auch Polen kann diese Funktion für Deutschland nicht wahrnehmen. Die Grenzen sind offen. Der Ausweg des Jahres 2016 existiert also diesmal nicht. Der Krieg in der Ukraine und der Flüchtlingszustrom haben die Mitgliedsstaaten zusammenrücken lassen wie noch nie in der Geschichte. Russlands Krieg im Nachbarland erscheint als Bedrohung ganz Europas.

Wie lange allerdings die Aufnahmebereitschaft und die Solidarität anhalten werden, ist ebenfalls offen. Schließlich suchen nicht nur die Ukrainer den Weg in die benachbarte EU, auch der Zuzug aus anderen Krisenregionen der Welt wird anhalten. Kommt dann eine Wirtschaftskrise hinzu, unterliegt der Zusammenhalt der Union einem bisher nicht dagewesenen Härtetest. Nur ein möglichst rasches Ende des Krieges kann eine dystopische Entwicklung für alle Beteiligten verhindern.
 

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