Stadtgespräche im Mai - Sexy, und doch gar nicht so arm

Die Stadt Berlin wirft mit Soforthilfen um sich wie ein Geldautomat. An Berliner Schulen droht derweil die Hygienekrise. Die SPD befindet sich in Schaltkonferenzen – aber wehe, wenn Saskia Esken die Moderation übernimmt. Unsere Stadtgespräche im Mai.

Stadtgespräche im Mai
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Goethe auf die Ohren!

Bisher gab es in Berlin mehr Barber-Shops als Haare. Mittlerweile übersteigt die Zahl der Podcasts die Menge der Ohren. Die kreative Klasse sitzt zu Hause. Dort ist kein Mikrofon weiter entfernt als das Smartphone. Wer will, kann sich rund um die Uhr akustisch trösten lassen, erhält Tipps für den nächsten Schleudergang oder Ratschläge zum besseren Selbst. Die menschliche Stimme wird gestärkt aus der Krise hervorgehen – besonders jene von Michael Kleeberg. Verschnupft und knarzig mag sie klingen, doch der Berliner Schriftsteller gibt im Podcast Goe­thes „Osterspaziergang“ in absolut hinreißendem Frankfurter Dialekt wieder: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäsche …“, „der aale Winner in seiner Schwäsche …“. Bildung durch Humor – ein nachhaltiger Trend? Alexander Kissler

Positiv bleiben

Stephan von Dassel, Bezirksbürgermeister in Berlin-Mitte, ist zwar nicht der erste Politiker mit einer Corona-Infektion gewesen – wohl aber der erste, der sich diese absichtlich zugezogen hat: Er habe sich „fast schon bewusst infiziert, weil ich meine Freundin nicht in der Quarantäne allein lassen wollte“, ließ von Dassel wissen. Der Grünen-Politiker scheint dem Virus denn auch einiges abgewinnen zu können. In einem Interview mit dem Tagesspiegel freute er sich darüber, dass wegen der Krise die vielen Elektroroller aus dem Stadtbild verschwunden seien. Nicht zu vergessen die geringere Umweltbelastung wegen Corona: „Es hätte wohl ganz Australien vom steigenden Meeresspiegel überschwemmt werden können, und wir wären nicht bereit gewesen, auf so viel Flugverkehr zu verzichten.“ Alexander Marguier 

Einfach verebbt

Gerhard Schröder hat es vergleichsweise gut; er ist raus aus dem Geschäft und kann seine Parteichefin kommentieren, wie er will. Zum Beispiel, dass man auch Falsches zur falschen Zeit sagen könne: So seine Bemerkung zur Forderung Saskia Eskens nach einer Corona-Vermögensabgabe. Schwerer als der Altkanzler haben es da die Mitglieder der Schaltkonferenzen, die derzeit anstatt der SPD-Gremiensitzungen regelmäßig stattfinden. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken leiten sie alternierend. Vorsichtig formuliert sind die meisten froh über jeden Nowabo-Tag. Wenn Saskia Esken dran ist, verdattert die Parteichefin ihre Zuhörer regelmäßig mit thematischen Überraschungen – die erst eine allgemeine Stille auslösen. Und dann kommentarlos im Äther verebben. Christoph Schwennicke

I will survive!

Hygiene gehört nicht zu den Fächern, mit denen Berlins Schulen glänzen können. Vermutlich ist Berlin sogar die einzige deutsche Stadt, in der es neben „hitzefrei“ auch schon mal „stinkefrei“ gibt – dann nämlich, wenn die sanitären Anlagen so lange nicht mehr gereinigt wurden, dass der durchdringende Geruch den Unterricht unmöglich macht. Verhältnisse wie in der Dritten Welt? Tatsächlich gibt es an vielen Schulen weder genug Seife noch genug Klopapier, geschweige denn warmes Wasser. In ihrer Not haben sich einige Schulleiter jetzt an den Senat gewandt – zumal in der Corona-Krise gute Hygiene zur unabdingbaren Voraussetzung dafür geworden ist, dass die Schulen den Betrieb wieder aufnehmen können. Ob der Senat nicht wenigstens für die Prüfungen Desinfektionsmittel und Handschuhe zur Verfügung stellen könne, fragten die Schulleiter in einem Brandbrief. Die Antwort dürfte niemanden überrascht haben: „Für die Durchführung von Prüfungen sind Desinfektionsmittel und (Einmal-)Handschuhe nicht erforderlich“, hieß es in dürren Worten. Es reiche, sich an allgemeine Hygienehinweise zu halten. Dazu gehöre zum Beispiel „gründliches Händewaschen“. Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) stellte denn auch in Aussicht, bei Wiederaufnahme des Schulbetriebs werde man die Versorgung mit Seife sicherstellen. Für Berliner Verhältnisse wäre schon das ein Wunder. Antje Hildebrandt

Corona-Lyrik al dente

Ob Krisen das Beste oder Schlechteste eines Menschen hervorbringen, werden wir auch nach dieser Corona-Krise nicht endgültig wissen. In der Krise aber zeigt sich, aus welchem sehr individuellen Holz die Berliner Gastronomie und der Einzelhandel geschnitzt sind. Fast in jedem Lokal hängt ein Zettelchen, doch die Sprechweisen unterscheiden sich sehr. Da gibt es den Magier, der das Abwesende beschwört, um es zu bannen: „Aus aktuellem Anlass müssen wir unser Café bis auf Weiteres schließen.“ Bloß nicht aussprechen, das schlimme Virusding! Andere verfahren knapp, klar, schmerzhaft. Sie sind die Cowboys unter den Besitzern: „Der Laden ist wegen Corona zurzeit geschlossen!“ Nimm das! Es gibt die Positivisten, die sich als nachgeordnete Gehorsamkeitsbürger zu erkennen geben: „Aufgrund der aktuellen Corona-­Krise und der neuen Auflagen des Bundes müssen wir leider den Laden geschlossen lassen.“ Andere verweisen auf „Ihren und unseren Schutz“. Sie sind die Therapeuten. Dazu zählt ein Abgeordneter der Linkspartei, der „aus Gründen der Gesundheitsprävention“ sein Bürgerbüro schloss. Es gibt die Pathetiker – „aufgrund der Krise haben wir leider geschlossen“ – und sechstens schließlich die großen Stoiker des Untergangs: Kein Zettel, kein Hinweis nirgends, aber schaut man durch die Scheiben, sieht man die Stühle auf den Tischen. Allet klar. Alexander Kissler

Geld auf Bestellung

Arm, aber sexy sei die Stadt, behauptete einst der Stadtoberste Klaus Wowereit – und schuf damit nach dem historischen Ende der „Mauerstadt Berlin“ einen neuen Hauptstadtmythos. Dass Berlin so arm gar nicht ist, erwies sich in der Corona-Krise: Selbstständige bekamen mindestens 5000 Euro Soforthilfe, Unternehmen, die zwischen fünf und zehn Mitarbeiter beschäftigen, bis zu 15 000 Euro. Wer das Geld wollte, musste nur auf einer Internetseite seinen Namen richtig buchstabieren und Steuer-ID und Kontoverbindung korrekt eingeben. Oft war – zur Verwunderung vieler Berlin-Gestählter – das Geld am nächsten Tag auf dem Konto. Aber hatten sich an diesem „Berliner Geldautomat“ (Spiegel) wirklich nur jene bedient, die ein Anrecht darauf hatten? Nach einer Woche waren 1,3 Milliarden Euro ausbezahlt, und die Stadt musste eingestehen, dass all jene, die jetzt ihren Antrag stellen, weniger Geld bekommen. Inzwischen hat die Verwaltung Briefe geschrieben, in denen sie alle Empfänger der Soforthilfen dazu auffordert, noch einmal zu überdenken, ob ihnen das Geld wirklich zusteht – und ihnen die Möglichkeit gibt, es zurückzuüberweisen. Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen: Stand Mitte April gibt es 41 Ermittlungsverfahren wegen Subventionsbetrugs. „Die Spitze des Eisbergs“ sei das, so der Oberstaatsanwalt. Moritz Gathmann

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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