Sperrung von #allesaufdentisch - Gesellschaftlicher Konsens ist Illusion

YouTube hat den Kanal von #allesaufdentisch gesperrt. Das Videoportal bleibt damit seinem gesetzlich verordneten Kurs treu. Doch diese Praxis wird der Realität heterogener Gesellschaften nicht gerecht. Die Zeiten des gesellschaftlichen Konsenses sind vorbei. Und sie lassen sich auch nicht mit Hilfe von Gesetzen wiederherstellen. 

Manch einer würde wohl auch Gespräche im Biergarten am liebsten unter staatliche Aufsicht stellen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Ein liberaler Rechtsstaat zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er nicht alles macht, was er machen könnte – nur weil es unter Umständen sinnvoll wäre. Er lässt seine Bürger rauchen und trinken, auch wenn ein anderes Leben gesünder wäre. Er zwingt Fahrradfahrer nicht unter Radhelme, nur weil das Menschenleben retten könnte. Und er ergreift nicht alle denkbaren Maßnahmen zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit. Der liberale Rechtsstaat wertet die Freiheit des Einzelnen höher als den möglichen Nutzen für irgendeine Gruppe oder die Gesamtgesellschaft. Im Idealfall handelt der liberale Rechtsstaat minimalinvasiv. Das bedeutet: Er greift gerade so weit in die freie Gesellschaft ein, wie unbedingt notwendig. Besser weniger. 

Der in diesem Sinne liberale Rechtsstaat ist etwas aus der Mode gekommen. Seit einigen Jahren ist es hingegen en vogue, zugunsten eines angeblichen Gemeinwohls einzuschränken, zu verbieten oder zumindest zu kuratieren. Es wird späteren Historikern überlassen bleiben, zu erforschen, wann genau das gesellschaftliche Klima kippte. Sicher ist nur, dass im Herbst 2017, als das „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken“ erlassen wurde, das Kind schon im Brunnen lag. 

Möglichst reibungslose Durchsetzung politischer Großprojekte

Dennoch hat das zackig auch „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ genannte Paragraphenwerk dieses Land verändert und Konflikte unnötig verschärft. Konnte man hierzulande noch vor wenigen Jahrzehnten stolz darauf sein, in einem Land zu leben, in dem man auch den größten Blödsinn frei äußern kann, so überkam einen in den letzten Jahren mitunter das Gefühl, die Wahrung des angeblichen politischen Konsenses und die möglichst reibungslose Durchsetzung politischer Großprojekte seien wichtiger als das Recht, gegebenenfalls auch etwas wirre Ansichten frei zu vertreten. 

Am vergangenen Dienstag war es dann wieder mal so weit. Im Netz verbreitete sich die Kunde, der Kanal der Initiative #allesaufdentisch, bei der Künstler und Wissenschaftler gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, sei von YouTube gesperrt worden. Die Begründung: Verbreitung von Falschinformationen in Sachen Corona. 

Am Mittwoch wurde die Sache konkreter. Ein Video, so YouTube gegenüber Medienvertretern, sei wegen Falschangaben hinsichtlich angeblicher Impftoter und der Behauptung, Corona entspreche lediglich einer leichten Erkältung, gelöscht worden, der Kanal als ganzer für eine Woche gesperrt. Tatsächlich war #allesaufdentisch im Laufe des Donnerstags jedoch wieder online. Der aktuellste Beitrag ist ein Interview des Schauspielers Wolfang Zarnack mit Oskar Lafontaine

Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ist einer freien Gesellschaft unwürdig

Offensichtlich wiederholt sich die Farce vom Oktober des letzten Jahres, als YouTube schon einmal Videos von #allesaufdentisch löschte, nach einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts Köln die Videos aber wieder freischaltete, nur um sie schließlich doch wieder vom Netz zu nehmen. Begründung damals: Die Beiträge verstießen gegen die Richtlinien zu Fehlinformationen im Zusammenhang mit Covid-19. 

Es zeigt sich einmal mehr: Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ist einer freien Gesellschaft unwürdig. Im Kern läuft es auf Zensur hinaus – nichts anderes ist die rechtlich erzwungene Löschung unliebsamer medialer Inhalte. Doch die Konflikte in unserer Gesellschaft werden durch dieses Gesetz eher verschärft als abgemildert. Zudem nötigt es Medienkonzerne in eine untragbare und verlogene Situation. Soziale Medien sind nun einmal eine digitale Agora und keine Redaktionsstube. Wer verlangt, ihre Inhalte zu kuratieren, müsste konsequenterweise auch Gespräche auf Marktplätzen überwachen – und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige das auch gerne täten. 

Die Debatten um die Corona-Maßnahmen haben endgültig deutlich gemacht, dass wir nicht länger von einem stillschweigenden Konsens oder zumindest einer gewissen Autoritätshörigkeit in unserer Gesellschaft ausgehen können. Was früher einmal bürgerlicher Konsens war, hat sich pulverisiert. Die Zeiten der schweigenden Mehrheit sind vorbei. Die Hobby-Metternichs unserer Tage hängen immer noch an dem anachronistischen Bild einer „vernünftigen Mitte“. Doch die gibt es in einer heterogenen und pluralistischen Gesellschaft nicht. Und man wird sie auch nicht mittels kuratierter Meinungen herstellen. 

Anzeige