SPD-Wahlkampf - An den Sorgen der Menschen vorbei

Kolumne: Grauzone. Martin Schulz setzt im Wahlkampf auf das Thema soziale Gerechtigkeit. Dabei empfinden die meisten Menschen Deutschland gar nicht als ungerecht. Was sie eigentlich umtreibt, passt wiederum nicht in das sozialdemokratische Weltbild

Der Gerechtigkeits-Wahlkampf ist wahlstrategisches Harakiri / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Glaubenssätze gibt es nicht nur in der Religion. Glaubenssätze gibt es auch in der Politik. Und zu den unumstößlichsten Glaubenssätzen hierzulande gehört, dass es in Deutschland ungerecht zugeht.

Leidenschaftlicher Apostel dieser unfrohen Botschaft ist Martin Schulz. Der Kanzlerkandidat und Vorsitzende der SPD lässt kaum eine Gelegenheit aus, die Ungerechtigkeit der deutschen Gesellschaft anzuklagen. Gerechtigkeit sei daher ein Dauerthema, und er, Schulz, werde dafür sorgen, dass Deutschland wieder gerechter wird.

Doch die meisten Menschen haben gar nicht den Eindruck, dass Deutschland besonders ungerecht ist. Deshalb, unter anderem, wird Martin Schulz die Wahl verlieren. Das zumindest legt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) nah, basierend auf Ergebnissen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage für die Sozialwissenschaften („Allbus“) in den Jahren 2006 und 2016.

Demnach sind fast zwei Drittel (65,2 Prozent) der Bundesbürger der Ansicht, dass sie zumindest einen „gerechten“ oder gar einen „mehr als“ gerechten Anteil am Wohlstand erhalten. Gut 29 Prozent haben den Eindruck, dass ihnen „etwas weniger“ als ein gerechter Anteil zukommt. Und nur knapp 6 Prozent sind der Meinung, ihr Anteil am Wohlstand sei „sehr viel weniger“ als gerecht.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache

Gerechtigkeitsdefizit? Fehlanzeige. Die Menschen haben im Großen und Ganzen eine positive Haltung zu ihrer ökonomischen Situation und ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Dazu passt, dass sich im vergangenen Jahr 79 Prozent der Befragten zur oberen Hälfte der Gesellschaft dazugehörig fühlten. Zehn Jahre zuvor waren das nur 56 Prozent. Fazit der Studie: In Deutschland geht es immer gerechter zu.

Nun könnte man einwenden, dass die Zahlen des IW mit Vorsicht zu genießen sind, immerhin gilt dieses als arbeitgebernah. Und dass eine solche Studie knapp sieben Wochen vor der Bundestagswahl veröffentlicht wird, ist vermutlich auch kein Zufall – ein Schelm, wer böses dabei denkt.

Doch interessanterweise liegen ganz ähnliche Ergebnisse von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vor. Diese veröffentlichte am Mittwoch unter dem Titel „Einstellungen und soziale Lebenslage“ Zahlen, aus denen hervorgeht, dass die Mehrheit der Bundesbürger mit ihrer aktuellen Lebenssituation zufrieden ist. Drei von vier bezeichnen die wirtschaftliche Lage in Deutschland als „gut“ oder „sehr gut“. 56 Prozent bewerten auch die eigene finanzielle Situation positiv.

Das eigentliche Thema: Allgemeiner Kontrollverlust

In einem solchen sozial-ökonomischen Umfeld einen Gerechtigkeits-Wahlkampf à la Schulz zu führen, kommt wahlstrategischem Harakiri gleich und ist nur mit einer doppelten Verblendung zu erklären: der Unfähigkeit der Sozialdemokraten, sich aus alten Denkmustern zu befreien, und ihrem Unwillen, die tatsächlichen Sorgen der Menschen wahrzunehmen.

Denn auch wer der Meinung ist, ihm persönlich gehe es gut, hat unter Umständen erhebliche Sorgen. Nur die passen eben nicht in das sozialdemokratische Weltbild.

Was viele Menschen tatsächlich umtreibt, ist weniger die soziale Gerechtigkeit, sondern ein allgemeiner Kontrollverlust, für den exemplarisch die technologische Entwicklung, die Schwächung nationaler Institutionen und die Preisgabe des Nationalstaates stehen.

Zu diesem Ergebnis kommt zumindest die schon erwähnte Studie der Böckler-Stiftung, deren Ziel es war, zu untersuchen, weshalb Menschen für so genannte rechtspopulistische Ansichten empfänglich sind.

Die Hilflosigkeit der Parteien

Das auch für die Gewerkschaften ernüchternde Resultat: Vielen Menschen geht es weniger um ihren aktuellen Wohlstand oder gar um Gerechtigkeit. Sie machen sich vielmehr Sorgen um die Zukunft, darum, dass die Welt ihrer Kinder so ganz anders aussehen wird, als sie sich das wünschen und dass sie den Eindruck haben, keinerlei Einfluss auf diese Entwicklung nehmen zu können.

Aber genau auf diese Ängste gehen die etablierten Parteien nicht ein. Lieber tröstet man die Bürger mit überholten Wohlfahrtsstaats-Versprechen oder schmissigen Modernisierungsparolen.

Das ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und insofern zumindest ehrlich. Denn die Fähigkeit, den tatsächlichen Nöten der Menschen zu begegnen, hat die Politik schon lange aus der Hand gegeben. Nun steht sie ratlos da und schwankt zwischen der Simulation von Pragmatismus und dem Verteilen sozialer Wohltaten. Der Schaden für die politische Kultur ist absehbar.

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