SPD und Migration - Vom Zeitgeist überrollt

Wer in der Vergangenheit der SPD sucht, findet eine Partei, deren Mitglieder einst sehr wohl verstanden hatten, wie man die Themen Migration und Integration handhabt. Erst in den Neunziger-Jahren brachten als Vordenker gefeierte Wissenschaftler die SPD dorthin, wo sie jetzt steht

Endphase der SPD? Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Erinnert sich noch jemand an Martin Neuffer? Neuffer war ein linker Sozialdemokrat. Und ein prominenter dazu. Von 1974 bis 1980 war Neuffer Intendant des Norddeutschen Rundfunks (NDR), zudem lange Jahre Kommunalpolitiker in Hannover. In den 60ern entwarf er dort Konzepte für eine lebenswerte Innenstadt, die heutzutage zum kommunalpolitischen Einmaleins gehören. Wer den Niedergang der SPD verstehen möchte, der ist gut beraten, sich eines Mannes wie Martin Neuffer zu erinnern.

So veröffentlichte der Sozialdemokrat im Jahr 1982 ein noch heute lesenswertes Buch: „Die Erde wächst nicht mit. Neue Politik in einer übervölkerten Welt“, erschienen in der berühmten Beck’schen schwarzen Reihe. Darin befasste sich Neuffer mit prognostischer Klarheit mit den Folgen des Bevölkerungswachstums von damals etwa 4,5 Milliarden Menschen auf 12 Milliarden im Jahr 2100. Manche Ausführungen Neuffers sind aus heutiger Sicht dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Umso beeindruckender sind jedoch die Kapitel über das Kernproblem: Überbevölkerung, Migration, Integration. Wer diese Abschnitte liest, versteht, weshalb die SPD nicht mehr über 40 Prozent der Wähler erreicht (wie in den 70er Jahren), sondern derzeit allenfalls 13 Prozent.

Das Ziel der Integrationspolitik nicht aufgeben

Unter der Überschrift „Völkische Minderheit im eigenen Land?“ (allein dafür bekäme Neuffer heutzutage ein Parteilausschlussverfahren an den Hals) diskutiert der Sozialdemokrat die Einwanderungspolitik der Bundesrepublik seit den 50er Jahren. Er bemängelt, dass immer weniger angeworbene Ausländer, insbesondere aus der Türkei, in ihre Heimat zurückkehren. Stattdessen würden sie Frauen und Familien nachholen (ein indirektes Ergebnis des von der Regierung Brand verhängten Anwerbungsstopps 1973).

Entsprechend würden mehr als 1 Millionen ausländischer Kinder und Jugendliche in Deutschland aufwachsen: „Mehr als die Hälfte von ihnen schaffen überhaupt keinen Schulabschluss, einige bleiben Analphabeten“. Zugleich führe „die gut gemeinte Integrationspolitik der Bundesrepublik zu oft untragbaren Belastungen für deutsche Kinder und Lehrer in den Schulen“ und zur „Verdrängung der eingesessenen deutschen Bevölkerung aus ihren Stadtteilen“. Zusätzlich gelänge es „Schlepperorganisationen aus Südasien und Afrika angebliche politische Asylanten zu importieren“.

Als erfahrener Kommunalpolitiker weist Neuffer schon 1982 darauf hin, dass „die Integrationschancen mit der zunehmenden Massierung immer größerer Zahlen von türkischer Bevölkerung in bestimmten Städten und Stadtteilen weiter absinken“, da kaum Kontakt zur deutschen Bevölkerung bestehe. „Tragisch und oft hoffnungslos“ sei die Lage der Frauen, „verloren in einer ihnen unzugänglichen Welt, gebunden in die Traditionen und Beschränkungen der heimischen Sitten“. Umso wichtiger sei es, das Ziel der Integrationspolitik nicht aufzugeben. Diese würden allerdings durch den Zuwachs ausländischer Bevölkerung konterkariert: „Die Gefahr, dass alle Integrationsbemühungen völlig illusorisch werden und dass sich zugleich eine Art türkisch-islamisches Subproletariat bildet, liegt auf der Hand“.

Realitätssinn und Gespür für sozialen Sprengstoff

In Anbetracht der globalen Entwicklungen Anfang der 1980er Jahre plädierte Neuffer für eine „restriktive Ausländerpolitik“ und eine „Einschränkung des Asylrechts“. Begründung: Angesichts des Bevölkerungswachstums und seiner Folgen sei die Bundesrepublik nicht in der Lage, auch nur alle echten politischen Flüchtlinge auszunehmen. Zudem verlöre die Unterscheidung zwischen echten und unechten Asylsuchenden von einem gewissen Punkt an ihren Sinn. – Soweit der Sozialdemokrat Martin Neuffer zu einer Zeit, als die SPD noch kultivierte, was Sozialdemokraten lange Zeit auszeichnete: Realitätssinn und Gespür für sozialen Sprengstoff.

Zehn Jahre später, im Jahr 1992, plädierte der als „Vordenker“ gefeierte Peter Glotz in seinem Buch „Die Linke nach dem Sieg des Westens“ für eine neue linke Allianz: „Sozialdemokratische und grüne Parteien, linksliberale Strömungen aus der technischen Intelligenz, der disponierenden Angestelltenschaft und der gar nicht so großen Gruppe innovativer Unternehmer, linkskatholische und christlich-soziale Traditionen, die ganze nichtkommunistische Linke“, sollen ein Bündnis eingehen, um die kulturelle Hegemonie zu erringen.

Letzteres ist gelungen. Den Preis, den die SPD dafür zu zahlen hatte, war allerdings hoch: der Ausverkauf sozialdemokratischer Identität, strukturelle Politikunfähigkeit und die Transformation zu einer Politsekte.

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