SPD-Parteitag - Das Unwägbare wagen

Die SPD sollte der Versuchung widerstehen, in eine neue Große Koalition einzutreten und sich stattdessen für die Duldung einer Minderheitsregierung entscheiden. Tolerieren ist zwar mühsamer als regieren. Doch die parlamentarische Demokratie würde davon profitieren

Rote Farbe für das Partei-Logo: die SPD wieder als eigenständige, linke Volkspartei wahrnehmen / picture alliance
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Hartmut Palmer ist politischer Autor und Journalist. Er lebt und arbeitet in Bonn und in Berlin.

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„Wohin treibt die Bundesrepublik?“, ist der Titel einer Streitschrift des Philosophen Karl Jaspers, die 1965, also vor mehr als einem halben Jahrhundert, erschien. „Der Bevölkerung der Bundesrepublik“, schrieb Jaspers, „geht es wirtschaftlich so gut wie noch nie, mit Ausnahme der Schlechtweggekommenen, von denen man selten spricht. Es herrscht eine Zufriedenheit im Eifer des Lebensgenusses bei ständig geringer werdender Arbeitszeit und Vermehrung der Konsumgüter, der Reisemöglichkeiten und Vergnügungen. Trotzdem gibt es eine Unruhe. Ist dies Leben auch sicher? Man fürchtet sich. Die Denkenden sehen die politische Faktizität mit Sorgen. Wohin treiben wir?“

Es waren politisch unsichere Zeiten, damals. Die Ära des CDU-Dauerkanzlers Konrad Adenauer war vorbei, sein Nachfolger Ludwig Erhard regierte lustlos mit der FDP. Veränderung lag in der Luft. Die Union liebäugelte mit der SPD, beide peilten insgeheim bereits eine Große Koalition an, um die Notstandsgesetze durch das Parlament zu bringen. Jaspers war gegen die schwarz-rote Elefantenhochzeit. Sein Buch war ein flammendes Plädoyer für ein starkes, selbstbewusstes, nicht von Fraktionszwängen und Lobbyisten gegängeltes Parlament. Und die Fragen, die er damals stellte („Wie werden wir regiert? Wer regiert uns?“) sind gerade jetzt, wo Angela Merkel Mühe hat, eine Regierung zu bilden, sehr aktuell: Wer hat letztlich das Sagen in der demokratisch verfassten Republik: Die Regierung? Das Parlament? Der Wähler?

Das Parlament ist machtlos

Das Grundgesetz ist eindeutig: Es herrscht das Volk, vertreten durch das Parlament. Und dieses Parlament wählt und kontrolliert die Regierungschefin. Die „politische Faktizität“ (Jaspers) aber sieht anders aus: die Kanzlerin herrscht, das Parlament folgt ihr. Hat sie erst einmal eine Mehrheit auf sich verpflichtet und die Ministerposten verteilt, schwindet die Macht des Parlaments. Je größer die Regierungskoalition, desto geringer wird der Einfluss der Abgeordneten.

Nur in Ausnahmefällen – bei so genannten Gewissensfragen – wird den Parlamentariern eine eigene Meinung erlaubt. Es heißt dann beschönigend und unter Missachtung der Verfassung, die Abstimmung sei „freigegeben“. In der Regel aber wird so abgestimmt, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart war. Die Glyphosat-Entscheidung des Agrarminister Christian Schmidt von der CSU war ein grober Verstoß gegen diese Regel, die darauf folgende Nichtentlassung des Ministers ein Indiz für die aktuelle Schwäche der nur geschäftsführenden Kanzlerin.

Es ist also nachvollziehbar, dass Angela Merkel nach dem Scheitern der Jamaika-Konstellation, jetzt wieder um die SPD buhlt. Die FDP bekommt sie nicht, die Grünen sind zu wenig, und ob sich die CSU unter dem Führungsduo Söder/Seehofer hinter sie stellt, ist auch nicht sicher. Die Schwesterpartei aus München bleibt bis zur Landtagswahl im Herbst 2018 unberechenbar. Merkel braucht die SPD für ihr politisches Überleben. Dass der Bundespräsident – selbst Sozialdemokrat mit ruhender Mitgliedschaft – sie dabei unterstützt und die Genossen an den Verhandlungstisch genötigt hat, gehört zu den Aufgaben, die ihm das Grundgesetz vorschreibt. Der Präsident ist von Amts wegen dazu verpflichtet, dem Bundestag einen Kandidaten oder eine Kandidatin vorzuschlagen, der oder die aller Voraussicht nach eine Mehrheit hinter sich bringen kann. Mehr aber auch nicht. In welcher Form Union und SPD kooperieren ist nicht Sache des Präsidenten. Dieses Problem müssen die Parteien selber lösen.

Eine Fortsetzung der GroKo wäre verheerend

Die Sozialdemokraten, die nun zu ihrem Parteitag zusammenkommen, haben die Qual der Wahl zwischen drei Übeln: Große Koalition, Tolerierung einer von der CDU geführten Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Von allen dreien Optionen ist die dritte – Neuwahlen – die erbärmlichste und zugleich die unwahrscheinlichste. Sie kommt erst infrage, wenn alle anderen Möglichkeiten gescheitert sind und selbst dann ist es nicht ausgeschlossen, dass sich an den Mehrheitsverhältnissen kaum etwas ändert. Man kann aber die Wähler nicht so lange an die Urnen bitten, bis das Ergebnis passt. Dann wäre es, um Bertolt Brecht zu zitieren, vielleicht besser, die Regierung löste das Volk auf und wählte sich ein anderes.

Die Große Koalition verspricht in der Tat stabile Mehrheiten und damit innen- und außenpolitische Handlungsfähigkeit. Sie ist verlockend für die Kanzlerin, verlockend auch für die Genossen, die auf Minister- und andere Regierungsämter hoffen können, aber verheerend für die demokratische Kultur und für die SPD. Die wird jetzt zwar von allen Seiten bedrängt, staatstragend Verantwortung zu übernehmen. Aber wenn sie es dann täte, würde man ihr – neben Wortbrüchigkeit – auch noch Macht- und Ämtergeilheit vorwerfen.

Eine Fortsetzung der GroKo wäre noch verheerender als sofortige Neuwahlen: Die SPD könnte zwar der Union Bedingungen diktieren und sie würde nahezu alle Forderungen (mit Ausnahme vielleicht der Bürgerversicherung) auch durchsetzen. Angela Merkels Kanzlerschaft wäre gerettet. Aber dies würde allen drei Partnern nicht guttun: Unter dem Joch der Koalition würden CDU, CSU und SPD noch weniger unterscheidbar, die AfD würde sich (bedrängt allenfalls von einer bürgerlich schwadronierenden, aber nach rechts schielenden FDP) vier Jahre lang als rechte Bewegung inszenieren und weiter wachsen können. Am Ende könnten die Volksparteien CDU und SPD Konkurs anmelden. Die demokratische Stabilität der Republik wäre nachhaltig beschädigt.

Für Schulz ist die Zeit abgelaufen

Die Entscheidung des SPD-Vorsitzenden Schulz, am Wahlabend die GroKo kategorisch auszuschließen, war deshalb richtig. Dass er nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen erst einmal stur dabei blieb, war eine Dummheit. Er hätte sehen müssen, dass sich die Lage grundsätzlich geändert hatte. Konsequent wäre es gewesen, wenn er noch am Wahlabend zurückgetreten wäre. Er ist der falsche Mann an der Spitze und seine Restlaufzeit ist begrenzt. Das wissen – entgegen anderslautenden Beteuerungen – inzwischen auch seine Parteifreunde. Jetzt hat er sich öffentlich darauf festgelegt, dass die Parteibasis am Ende darüber abstimmen muss, ob die SPD mit der Union reden und in welcher Form sie mit ihr zusammengehen soll oder nicht. Genauso steht es in dem Leitantrag für den Parteitag: Man werde „ergebnisoffen“ mit der Union reden und alle Möglichkeiten offen lassen.

Wirklich alle Möglichkeiten? Das kann man bezweifeln. Schon jetzt wird die zweite Option – Tolerierung einer Minderheitsregierung – in den parteiinternen Debatten äußerst stiefmütterlich behandelt. Man nennt sie, um den Anschein zu erwecken, für alle Möglichkeiten offen zu sein. Tatsächlich werden dieser Variante kaum Chancen eingeräumt. Zu unsicher. Zu mühsam. Zu ungewohnt. In den führenden Leit-Medien der Republik wird sie sogar als Schreckensszenario der Unregierbarkeit verteufelt. Dabei gibt es genügend Beispiele, die das Gegenteil belegen. Minderheitsregierungen haben auf Kommunal- und Länderebene problemlos funktioniert. Und wenn die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anders aussahen als die im Bundesrat musste die Regierung bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auch immer Rücksicht auf die Opposition nehmen.

Regenerierung als Oppositionsführer

Gerhard Schröder zum Beispiel war deshalb häufig gezwungen, wie ein Minderheits-Kanzler zu agieren und auch er hat immerhin sieben Jahre regiert. Der weitaus größte Teil aller Gesetze ist ohnehin zwischen den Fraktionen nicht umstritten. Selbst zur Zeit Willy Brandts und Helmut Schmidts, als es im Bonner Bundestag noch hoch herging, lag der Anteil der kontrovers verabschiedeten Gesetze gerade mal bei 6,4 Prozent (1972 – 1976). Es ist auch eine Mär, dass eine Minderheitsregierung automatisch eine schwache Regierung sei. Richtig ist allerdings, dass sich die Regierenden im Bundestag intensiver als bisher um Zustimmung bemühen müssten. Das ist mühsam. Aber genau das würde dem Parlament wieder die Rolle zuweisen, die ihm nach dem Grundgesetz zusteht. Mindestens so wichtig wie eine stabile Regierung ist eine stabile parlamentarische Demokratie. Die SPD sollte das Unwägbare wagen und sich auf die Duldung einer Minderheitsregierung einlassen. Diese Variante ist von allen schlechten die beste Möglichkeit, dem Wählerauftrag gerecht zu werden und trotzdem Politik mitzugestalten.

Als stärkste Oppositionspartei könnten die Sozialdemokraten ihr Profil schärfen und die AfD auf den zweiten Platz verweisen. Sie könnten von Fall zu Fall entscheiden, ob sie mit der Union übereinstimmen, oder nicht. Sie könnten zum Beispiel bei der CDU/CSU durchsetzen, dass diese die Europa-Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron aktiv unterstützt. Sie könnten ihre Zustimmung zum Haushalt der Kanzlerin davon abhängig machen, ob die Regierung wirklich die Vereinbarungen einhält, die in den nun anstehenden Gesprächen ausgehandelt und in Form eines Kooperations-Vertrags fixiert werden müssen.

Nur auf die schönen Ministersessel müssten die Sozis verzichten. Opposition ist Mist. Und Tolerieren ist mühsamer als regieren. Aber langfristig würde nicht nur die SPD davon profitieren, wenn man sie wieder als eigenständige linke Volkspartei wahrnimmt. Profitieren würde vor allem die parlamentarische Demokratie.

 

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