Gabriels Mahnung an die SPD - Siggi und die Abgehängten

Mit seinem Gastbeitrag im „Spiegel“ hat Außenminister Sigmar Gabriel wohl viele Parteifreunde düpiert. Dabei ist seine Kritik an der SPD durchaus treffend. Die Sozialdemokraten haben über zeitgeistige Randthemen die eigentlichen Probleme des Landes vernachlässigt

„Haben uns oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten“ / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Da hat der Siggi mal wieder ordentlich einen rausgehauen, heißt es jetzt in seiner Partei. Offiziell herrscht natürlich größtenteils betretenes Schweigen über den Beitrag des ehemaligen SPD-Vorsitzenden in der aktuellen Spiegel-Ausgabe. Sigmar Gabriel ist ja schon lange bekannt dafür, seine Meinung über Gott und die Welt und die deutsche Sozialdemokratie kundzutun, ohne den entsprechenden Inhalt vorher mit den einschlägigen Funktionärsgremien abgestimmt zu haben. Was allerdings nicht bedeutet, dass er deshalb grundsätzlich falsch liegen muss. Wahrscheinlich braucht jede große Organisation ihren maverick, der sich traut, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, die dem aktuellen Mainstream zuwiderlaufen.

Und dass etwas dran sein könnte an Sigmar Gabriels Einschätzung zur Lage und zur Zukunft der SPD, daran kann kaum ein Zweifel bestehen. Immerhin stand der geschäftsführende Außenminister acht Jahre an der Spitze seiner Partei – so lange wie keiner der Vorgänger seit dem sozialdemokratischen Übervater Willy Brandt. Da stellt sich allenfalls die Frage, warum Gabriel nicht schon zu Amtszeiten so deutlich wurde wie jetzt im Spiegel unter der etwas tümeligen Überschrift „Sehnsucht nach Heimat“. Weil er wusste, dass er sich mit derlei Thesen den ubiquitären Vorwurf einhandeln würde, dem „Rechtspopulismus“ Vorschub zu leisten?

Moderne und Postmoderne

Jedenfalls liefert Sigmar Gabriel eine überraschend andere Deutung zum Anwachsen der politischen Ränder auch in der Bundesrepublik, die einigen seiner Genossen nicht behagen dürfte. „Der Aufstieg des rechten wie des linken Populismus wird oft als Reaktion auf die Errungenschaften der Moderne begriffen, gewissermaßen als antimoderne Auflehnung gegen den Status quo“, schreibt er. Dabei, mutmaßt Gabriel, könne es ja gerade auch umgekehrt sein: „Der Rechtspopulismus ist keine Gegenbewegung zu dieser Moderne, sondern im Gegenteil Ausdruck der Sehnsucht nach genau dieser Moderne. Es ist weitaus eher eine Gegenbewegung gegen die Ende des vergangenen Jahrhunderts entstandene Postmoderne und deren Verherrlichung des anything goes“.

Der Rechtspopulismus sei demnach „eine Revolte gegen einen Liberalismus, der als übersteigert und gefährlich für die Gemeinschaft“ wahrgenommen werde. Gabriel wörtlich: „Diversität, Inklusion, Gleichstellung, Political Correctness – all das sind deshalb jetzt auch die Zielscheiben der Neuen Rechten. Sie sind im Kern kein Produkt der Moderne, sondern einer Postmoderne, die zur radikalen Dekonstruktion der Moderne angetreten war, dabei erstaunliche Erfolge feierte und jetzt Opfer ihres eigenen Erfolgs wird.“ Auch die Moderne habe Menschen Individualität, Vielfalt, Freiheit und Wohlstand versprochen – „aber eben geregelt und in Maßen. Das Übermaß, die Radikalität der Postmoderne ist es, die das Unbehagen nährt“, so Gabriel, der bei dieser Gelegenheit mit der sozialdemokratischen Funktionselite hart ins Gericht geht:

„Auch wir haben uns kulturell als Sozialdemokraten und Progressive oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten.“ Umwelt- und Klimaschutz seien „uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit“, und die Ehe für alle habe die SPD-Elite „fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht“. Gabriel vergleicht das postmoderne Dilemma seiner Partei denn auch mit dem der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten: „Wer die Arbeiter im Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen.“

Die SPD in der Lifestyle-Falle

In aller Bescheidenheit darf an dieser Stelle auf einen kleinen Kommentar verwiesen werden, den ich in der Dezemberausgabe von Cicero über die strukturelle Malaise der SPD verfasst habe. Anlass war die Forderung der Berliner Jusos, aus GEZ-Gebühren finanzierte „feministische Pornos“ in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender zur Verfügung zu stellen. Ich schrieb dazu folgende Sätze: „Denn darin besteht das Grundproblem der SPD – und nicht nur ihrer Jugendorganisation: Sie widmet sich zwar mit Inbrunst zeitgeistigen Randthemen urbaner Hipster-Milieus. Geht aber mit einer gewissen Nonchalance über Dinge hinweg, die viele Bürger mehr beschäftigen als niedrigschwellige Fernseherotik. Zum Beispiel innere Sicherheit und ein erodierender Rechtsstaat. Für eine politische Organisation, die den Anspruch erhebt, ,Volkspartei‘ zu sein und Anwalt der unterprivilegierten Schichten, ist das tödlich. Die SPD sitzt in der Lifestyle-Falle – und es fehlen ihr ganz offenbar der Mut und die Kraft, sich daraus zu befreien. Denn die postmoderne Linke hat es sich mit ihrer Lebenslüge bequem gemacht, der Staat sei eine Einrichtung zum Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten jedweder Art. Was er ja auch ist – aber eben nicht nur.“

Ein Rechtsstaat, der wie in Berlin zwar Raucher von E-Zigaretten auf Bahnhöfen zur Rechenschaft zieht, nicht aber die wenige Meter entfernt stehenden Drogenhändler aus Nordafrika, hat sich faktisch selbst aufgegeben – aus Bequemlichkeit und Konfliktscheu. Dass dies unter der Verantwortung einer SPD-geführten Landesregierung und eines sozialdemokratischen Innensenators geschieht, ist eine Schande. Denn ein funktionierender Rechtsstaat ist die beste Versicherung für alle, die sich ihre Sicherheit nicht erkaufen können. Wenn die SPD das begreift und entsprechend handelt, kann sie sich regenerieren. Ansonsten ist sie erledigt. Sigmar Gabriel weiß das.

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