SPD im Asylstreit - „Ende der Ära Merkel eingeläutet“

Die SPD wirkt im Asylstreit profillos, lange fand die Partei keine gemeinsame Meinung zu dem Thema. Das kritisiert auch der Sozialdemokrat Thomas Oppermann. Im Interview redet er über die Flüchtlingspolitik und das Ende der Ära Merkel, das mit der Bundestagswahl begann

Erschienen in Ausgabe
„Das Ende der Ära Merkel ist durch die vergangene Bundestagswahl eingeläutet worden“ / Lene Münch
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Herr Oppermann, können Sie erklären, was gerade in Berlin passiert?
Die Flüchtlingspolitik ist Gegenstand eines beispiellosen Machtkampfs zwischen dem Innenminister und der Kanzlerin geworden. Er schwelt bereits seit 2015 und eskaliert in regelmäßigen Abständen, es war nur eine Frage der Zeit, wann der vor dem Bundestagswahlkampf mühsam geschlossene Burgfrieden zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer wieder in offene Konfrontation umschlagen würde.

Erleben wir derzeit das Ende der Ära Merkel, den Zerfall eines Machtsystems?
Das Ende der Ära Merkel ist schon durch die Bundestagswahl eingeläutet worden mit dem historisch schlechtesten Ergebnis für die Union. Für solche Ergebnisse haben SPD-Kanzlerkandidaten ihren Hut genommen. Frau Merkel ist zwar im Amt geblieben, aber deutlich geschwächt.

Gilt die Koalitionszusage der SPD eigentlich auch für eine Große Koalition ohne Angela Merkel?
Wenn Frau Merkel in dieser Wahlperiode ihr Amt aufgeben sollte, muss die Situation neu besprochen werden.

Es gibt also keinen Automatismus, die SPD stünde nicht unbedingt für die Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin aus der Union zur Verfügung?
Nein. In der Politik gibt es keinen Automatismus.

Was Horst Seehofer fordert, die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze, ist nicht Gegenstand des Koalitionsvertrags. Was sagt es eigentlich über eine Regierung aus, wenn nach 172 Tagen Findungs- und Sondierungsphase und rund 100 Tagen im Amt eine zentrale Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag infrage gestellt wird?
Vor allem sagt es etwas über den Innenminister aus. Das Innenministerium wird seit 13 Jahren von CDU- oder CSU-Ministern verantwortet. Da kommt bei Horst Seehofer jetzt offenbar Panik auf. Seine Politik erschöpfte sich bisher in markigen Sprüchen und wolkigen Ankündigungen eines Masterplans.

Was erwarten Sie von Horst Seehofer?
Regierungsmitglieder müssen liefern. Ein guter Innenminister würde sich sofort an die Arbeit machen. Er würde beginnen, mit anderen Ländern über Rückführungsvereinbarungen zu verhandeln. Er würde die Probleme beim Bamf gezielt angehen und schnell einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorlegen.

Inwieweit gilt für die SPD angesichts der merkelschen Flüchtlingspolitik: mitgefangen, mitgehangen?
Wir haben einen Koalitionsvertrag geschlossen. Er ist die Grundlage für unsere Regierungsarbeit, und wenn jemand daran etwas ändern möchte, muss er mit uns darüber verhandeln.

Wäre es nicht eine Möglichkeit, sich an die Seite von Horst Seehofer zu stellen, um einen Neuanfang in der Flüchtlingspolitik zu initiieren?
Ich halte es nicht für klug, sich in diesen Machtkampf zwischen CDU und CSU einzumischen.

Wie Merkel fordert auch die SPD europäische Regelungen in der Flüchtlingspolitik. Nur sind solche überhaupt nicht in Sicht. Andere Länder haben deshalb zu nationalen Lösungen gegriffen. Dänemark, Frankreich und Schweden zum Beispiel. Ist es da nicht folgerichtig zu sagen, wenn Europa sich nicht einigt, muss man gucken, was in Deutschland gemacht werden kann?
Wir brauchen auch für Deutschland ein schlüssiges Gesamtkonzept für eine humanitäre Flüchtlings- und Asylpolitik und eine ökonomisch vernünftige Einwanderungspolitik, beides unter staatlicher Kontrolle. Nur so können wir verloren gegangenes Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen. Folgende fünf Punkte halte ich für zentral: Erstens müssen wir die Fluchtursachen in den Heimatländern der Flüchtlinge bekämpfen. Zweitens muss die EU ihre Außengrenzen sichern. Zu einer humanitären Flüchtlingspolitik gehören drittens Kontingente für eine geordnete Aufnahme von schutzbedürftigen Flüchtlingen. Wir können nicht tolerieren, dass kriminelle Schlepperorganisationen darüber entscheiden, wer es nach Europa schafft. Viertens kann ich Andrea Nahles nur darin unterstützen, wenn sie sagt, wer Schutz braucht, kann mit unserer Hilfe rechnen. Aber es können natürlich nicht alle kommen. Deshalb ist es notwendig, dass wir Flüchtlinge mit Bleiberecht schneller integrieren und Abgelehnte konsequenter zurückführen. Fünftens brauchen wir ein modernes, transparentes Einwanderungsgesetz.

Das Problem ist doch, dass sich angesichts der aktuellen Migrationsströme humanitäre Fluchtgründe und ökonomische Fluchtursachen nicht mehr in jedem Fall trennen lassen. Ist nicht vor allem deshalb das ganze europäische Migrationsregime überfordert?
Die Aufnahme von Flüchtlingen ist zunächst eine humanitäre Verpflichtung. Liegt ein Bleiberecht vor, müssen sie schnell integriert werden. Sie sind dann automatisch Einwanderer. Richtig ist aber, dass das europäische Migrationsregime überfordert ist. Wir haben zwar europäische Regeln für das Asylrecht, aber keine einheitliche Handhabung. Jedes Land praktiziert es anders, die Beschlüsse für eine faire Verteilung der Flüchtlinge werden weitgehend ignoriert.

Aber wie verhindern wir, dass das Asylrecht als Korridor für eine ungesteuerte Einwanderung genutzt wird? Wie verhindern wir, dass sich jeder, der nicht einwandern darf, sich dann doch wieder auf das Asylrecht beruft?
Ich bin hier für eine strikte Trennung von Asyl- und Einwanderungsrecht. Der Druck auf das Asylsystem ist auch deshalb so groß, weil es immer noch kein transparentes Einwanderungsgesetz gibt, das legale Einwanderung – allerdings nach unseren Kriterien – ermöglicht und kontrolliert.

Wir wissen seit langem, nicht erst seit September 2015, dass die Migrationsfrage eines der großen gesellschaftlichen Konfliktthemen unserer Zeit ist. Wie konnte es passieren, dass die SPD dieses Thema völlig verschlafen hat?
Wir haben das Thema nicht verschlafen, im Gegenteil, es hat uns schlaflose Nächte bereitet. Trotzdem ist Selbstkritik angebracht. Der Fehler war: Wir haben nicht mit einer Stimme gesprochen.

Warum ist es nicht gelungen, ein einheitliches Konzept zu präsentieren?
Weil die Anhängerschaft der SPD in dieser Frage genauso gespalten ist wie die Gesellschaft. Hier half kein kräftiges Sowohl-als-auch. Weil wir keine eindeutige Positionierung hatten, sind unsere Wählerinnen und Wähler in alle Richtungen weggelaufen.

Wie wollen Sie aus dem Stimmungstief wieder herauskommen?
In einem Sieben-Parteien-System mit stark profilierten Klientelparteien ist es für die Volksparteien schwerer geworden, sich zu profilieren. Wer für das große Ganze zuständig ist, kann Politik nicht als Summe radikaler Einzelinteressen betreiben. Die SPD hat nur eine Chance, wenn sie sich auf ihre Wurzeln besinnt und wieder zu einer genuinen Arbeitnehmerpartei wird, die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Das bedeutet: Wir verteidigen die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft, wir treten für eine starke Wirtschaft ein, für anständige Löhne und für eine gerechte Verteilung des Wohlstands. Und wir machen es zu unserem Kernanliegen, die Menschen angesichts der rasanten Veränderungen durch die Digitalisierung und die Globalisierung zu begleiten und zu beschützen.

Hat die SPD nicht grundsätzlich den falschen Fokus, wenn sie die Themen Gerechtigkeit und Umverteilung in den Mittelpunkt stellt? Heißt das eigentliche Zukunftsthema nicht Sicherheit, und zwar in einem sehr umfassenden Sinne von innerer Sicherheit, sozialer Sicherheit, Schutz der Grenzen und in den internationalen Beziehungen?
Wir dürfen die Dinge nicht gegeneinanderstellen. Zur Gerechtigkeit gehört auch das Bedürfnis nach Sicherheit, das der Staat befriedigen muss. Natürlich erwarten die Menschen zu Recht einen handlungsfähigen Staat, einen Staat, der in der Lage ist, Recht zu setzen und Recht auch durchzusetzen, und zwar gegenüber allen – gegenüber kriminellen Schleppreorganisationen  genauso wie gegenüber internationalen Konzernen, die sich durch Verlagerung ihrer Gewinne einer gerechten Besteuerung entziehen. Die Menschen haben in der Flüchtlingskrise und in der Finanzkrise einen bedrohlichen Kontrollverlust des Staates empfunden. Das ist für mich der zentrale Grund dafür, dass das Vertrauen verloren ging und Protestwähler abgewandert sind.

Wie wollen Sie die SPD-Wähler von AfD und Linkspartei zurückgewinnen?
Sahra Wagenknecht würde ihre Versprechen auf radikale Umverteilung, die keine Rücksicht auf wirtschaftliche Gegebenheiten nimmt, nie einlösen können. Das wissen die Menschen genau. Sie erwarten von der SPD etwas anderes, nämlich dass wir soziale, wirtschaftliche und ökologische Interessen in Einklang bringen und das Leben der Menschen Schritt für Schritt durch konkrete Maßnahmen verbessern, zum Beispiel durch den Mindestlohn, flexiblere Arbeitszeitgestaltung oder gute Bildungschancen.

Und die AfD?
Protest gegen die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition ist für zu viele Wähler der SPD ein Motiv gewesen, AfD zu wählen. Sie hatten das Gefühl, dass ihre Interessen und ihre Ängste bei uns nicht gut genug aufgehoben sind. Auch deshalb müssen wir in der Flüchtlings- und Migrationspolitik eine klare Position herausstellen.

Ist den Sozialdemokraten die Dramatik ihrer Lage hinreichend bewusst?
Ja. Wir wissen aber auch: Die SPD hat unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten geprägt und ist für unsere Demokratie unverzichtbar. Die SPD hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich Deutschland in den vergangenen 70 Jahren zu einem stabilen Rechtsstaat und einem funktionierenden Sozialstaat entwickelt hat, mit einem Bildungssystem, das jungen Menschen Ausbildung und Studium finanziert, und mit einem Gesundheitssystem, in dem alle Menschen, auch dann, wenn sie arm oder arbeitslos sind, im Krankheitsfall gut versorgt werden.

Warum hört man ein solches Loblied auf dieses Land aus der SPD so selten?
Von mir hören Sie das immer. Wer Deutschland nur von innen betrachtet, sieht vor allem die Probleme: Investitionsstau, Kinderarmut, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Wer aber von außen schaut, sieht ein gut organisiertes, wunderbares Land, in dem es enorme Möglichkeiten gibt, zu lernen, zu arbeiten, sich wirtschaftlich zu betätigen und erfolgreich zu sein. Deshalb möchten so viele Menschen gerne hier leben.

Und deshalb machen sich viele Beobachter mehr Sorgen um die SPD als um die Demokratie und sie fragen sich, ist die SPD überhaupt noch zu retten?
Die SPD muss nicht gerettet werden, sie muss sich nur auf ihre Stärken besinnen. Es waren verantwortungsvolle sozialdemokratische Bundeskanzler, die der Wirtschaft genügend Raum gelassen haben, um erfolgreich zu sein, und gleichzeitig für eine angemessene und gerechte Verteilung des Wohlstands gesorgt haben. Dafür steht die SPD auch heute.

Noch mal die Frage, warum artikuliert die SPD das nicht viel offensiver?
Weil zu viele bei uns – gleichsam autoaggressiv – auf das fixiert sind, was sie als politische Defizite empfinden. Das muss aufhören. Die SPD muss Haltung zeigen und mit Selbstbewusstsein sagen: Deutschland ist ein tolles Land, das haben wir gemacht, dafür stehen wir. Und wir können es noch besser machen.

Stattdessen streiten Sie noch immer über die Agenda 2010.
Das ist auch so eine Erbschaft, die schon 15 Jahre alt ist. Wir müssen nicht ständig mit einem schlechten Gewissen herumlaufen. Die Reformen haben den Grundstein dafür gelegt, dass wir so gut durch die Wirtschafts-, Banken- und Finanzkrisen der letzten Jahre gekommen sind. Dass es auch problematische Begleit­erscheinungen gegeben hat, haben wir früh gesehen. Deshalb haben wir unter anderem den Mindestlohn eingeführt.

Wegen der Agenda 2010 und wegen des Mindestlohns geht es den Deutschen so gut wie noch nie. Beides waren sozialdemokratische Projekte. Doch im Wahlkampf redet die SPD den Leuten ständig ein, dass es ihnen schlecht geht, wie ungerecht es in diesem Land zugeht. Da muss es Sie doch nicht wundern, dass die SPD nicht gewählt wird.
Es gibt Probleme, über die man nicht hinweggehen kann. Unter der Decke des Wohlstands schleicht sich Unsicherheit in das Denken und Fühlen vieler Menschen ein. Weil sie nicht sicher sind, ob dieser Staat sie vor den Unwägbarkeiten, die vor uns liegen, ausreichend beschützen kann. Wir erleben angesichts der Digitalisierung eine unglaubliche Veränderungsgeschwindigkeit, aber die deckt sich nicht mit der Veränderungsbereitschaft der Menschen. Da gibt es eine wachsende Kluft. Wir müssen die Veränderungen so gestalten, dass die Menschen sie mitgehen können. Wenn das gelingt, hat die SPD ein riesiges Potenzial.

Die Situation der SPD ist doch eher dramatisch als stabil. Sie haben 2017 das schlechteste Ergebnis der bundesdeutschen Geschichte erzielt, seitdem ist die Orientierungslosigkeit noch größer und die innere Spaltung noch tiefer geworden. Die Umfragewerte zeigen nach unten. Es müsste dringend irgendwas passieren, doch stattdessen nimmt sich die SPD jetzt zwei Jahre Zeit, um Programmfragen und Strukturfragen zu diskutieren. Können Sie sich überhaupt noch so lange Zeit lassen?
Wir haben jedenfalls genug Analyse betrieben. Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit. Das muss schnell behoben werden. Das haben alle Beteiligten erkannt.

Wie schnell?
Innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate.

Was heißt Handlungsdefizit?
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der SPD die Formulierung und Umsetzung sozialdemokratischer Politik. Der Bedarf an sozialdemokratischer Politik ist riesig. Wir haben in den vergangenen anderthalb Jahren 50 000 neue Mitglieder gewonnen, die an der Gestaltung unseres Gemeinwesens mitarbeiten wollen.

Vielleicht träumen die 50000 neuen Mitglieder ja auch von einer Bewegung wie in der Labour-Partei in Großbritannien? Dort haben unter Jeremy Corbyn Außenstehende die Partei durch Masseneintritt übernommen und das alte Parteiestablishment entmachtet.
Ich stehe Corbyn sehr distanziert gegenüber, weil er kein überzeugter Europäer ist. Allerdings hat er einen erfolgreichen Wahlkampf geführt, bei dem Arbeitnehmer im Mittelpunkt standen. Das war richtig. 

Thomas Oppermann, SPD, war von 2013 bis 2017 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Seit Beginn dieser Legislaturperiode ist er Vizepräsident des Bundestags. Seinen Wahlkreis im niedersächsischen Göttingen gewann er direkt.

Diese Texte stammen aus der Titelgeschichte der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.

 

 

 

 

 

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