Sozialdemokratie - Schulz, Corbyn und der Brexit als Denkhilfe

Die Lage der Sozialdemokratie in Europa ist dramatisch, die politischen Handlungsspielräume für linke Politik sind in der Eurozone klein. Das wird auch die SPD bei der Bundestagswahl zu spüren bekommen

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Jeremy Corbyn gelang es, seine Partei zu den Tories auf Distanz zu bringen / picture alliance
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Autoreninfo

Wolfgang Streeck ist Soziologe und war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Inst­i­tut für Gesellschaftsforschung.

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Im März endete die einst so stolze Partei der Arbeit (PvdA) bei den niederländischen Wahlen bei 5,7 Prozent, ein Verlust von 19 Punkten gegenüber 2012. Kurz darauf, im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen, erreichte der Kandidat der noch regierenden Sozialistischen Partei 6,4 Prozent, und im ersten Wahlgang der anschließenden Parlamentswahl erhielt seine Partei 7,4 Prozent. Im Jahr davor gewann der Kandidat der österreichischen Sozialdemokratie im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl nur noch 11,3 Prozent, und bei den Wahlen in Griechenland 2015 erreichte die Pasok, die Partei der drei Papandreous, 6,3 Prozent.

Auch anderswo ergeht es den sozialdemokratischen Parteien der linken Mitte seit längerem nicht gut. Die schwedischen Sozialisten landeten 2014, für ihre Verhältnisse deprimierend, bei 31 Prozent, ihre dänische Schwesterpartei ein Jahr später bei 26,3 und die finnischen Sozialdemokraten bei 16,5. In den USA verlor Clinton gegen Trump, und ungeachtet des von Trump angerichteten Chaos konnte die Demokratische Partei seitdem keine einzige Nachwahl gewinnen, trotz gigantischer Wahlkampfausgaben. 

Der Fall Deutschland 

Wie verhält es sich in Deutschland? Vor vier Jahren gewann die SPD 25,7 Prozent, 2,7 mehr als 2009, als sie gegenüber 2005 11,2 Prozentpunkte einbüßte. Die aktuellen Prognosen für den 24. September liegen um die 23 Prozent; das lässt die Vermutung zu, dass die Partei sich längerfristig zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Wählerschaft eingerichtet hat. Damit läge sie ungefähr auf dem Niveau des Partito Democratico in Italien, der 2013 unter Renzi 25,4 Prozent der Stimmen gewann. Ein schlechteres Abschneiden ist aber nicht auszuschließen. Journalisten, die sich an der Basis umhören, wundern sich, warum die AfD in Umfragen über 8 Prozent nicht hinauskommt. Eine Überraschung wie beim Brexit-Referendum und der Trump-Wahl scheint möglich; die SPD könnte unter die 20-Prozent-Marke rutschen, ein Schicksal, das auch den österreichischen und italienischen Schwesterparteien in diesem Jahr droht.

Dass die SPD weder auf das holländische und französische Niveau abgestürzt ist noch sich in Richtung schwedischer Ergebnisse zurückarbeiten kann, dazu dürften zwei Faktoren beigetragen haben: die Lage Deutschlands als wirtschaftliches Gravitationszentrum der Europäischen Währungsunion und der Umstand, dass die Partei in 15 der 19 Jahre seit 1998 an der Bundesregierung beteiligt war. 

Von Glück und Wohlstand 

Deutschland ist heute in der Eurozone das, was Baden-Württemberg in den 1990er-Jahren in Deutschland war: eine Insel glückseliger Vollbeschäftigung auf hohem Lohnniveau mit wachsendem Abstand gegenüber anderen Regionen. Deshalb konnte die Bundesregierung nach der Durchsetzung der Agenda 2010 auf Einschnitte in den deutschen, wenn auch nicht in den griechischen Wohlfahrtsstaat verzichten. Dies kam auch der SPD als Regierungspartei zugute, und es gelang ihr, die günstigen Umstände zur längst fälligen Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns zu nutzen. 

Vor allem aber nahm die durch die Wirtschaftslage ermöglichte Zurückhaltung der Regierung bei strukturellen Reformen der AfD die Möglichkeit, sich – wie der Front National, die Freiheitliche Partei in Österreich oder auch der Republikaner Trump – zur Verteidigerin der kleinen Leute gegen neoliberal-technokratische Reformen aufzuschwingen. Bis heute stehen der AfD deshalb nur nationalistische Themen zur Verfügung, die in Deutschland und dort gerade bei SPD-Wählern nur wenig Anklang finden. Eine SPD, die Einschnitte in den Sozialstaat hätte betreiben oder auch nur mittragen müssen, wäre indes auf ihrer rechten Flanke gefährlich verwundbar.

Erfolgsbeispiel Jeremy Corbyn

Aufwärts freilich geht es mit der SPD deshalb noch lange nicht, und das wird wohl so bleiben. Die hohe personelle Kontinuität in der Regierungsspitze – Merkel ist jetzt zwölf Jahre im Amt – trägt dazu bei, dass die Erfolge der Regierung, oder besser: die Erfolge der vom Euro gedopten deutschen Exportwirtschaft, überwiegend CDU und CSU zugerechnet werden. Auf der anderen Seite ging es in der SPD jahrelang drunter und drüber, ohne dass dabei irgendetwas auffällig Neues herausgekommen wäre. So konnte die SPD als Juniorpartner der Unionsparteien ihre engere Klientel zwar mehr oder weniger ordentlich versorgen, nicht aber eine irgendwie geartete Wechselstimmung erzeugen, zumal sie aus organisatorischen und politischen Gründen daran gehindert ist, so etwas wie programmatische Alternativen zu der Politik der von ihr mitgetragenen Regierung zu entwickeln.

Hier nun kommt der Vergleich mit der Labour Party unter Jeremy Corbyn ins Spiel, der einzigen Partei der linken Mitte, die es in den vergangenen Jahren geschafft hat, in Schlagweite einer Regierungsübernahme zu gelangen – bemerkenswerterweise im Gefolge einer scharfen innerparteilichen Linkswende nach einer schweren Wahlniederlage der rechtssozialdemokratischen Parteimehrheit. In der SPD gibt es keinen Corbyn, der nach einer abermaligen Wahlniederlage von links die innerparteiliche Machtfrage stellen könnte – niemanden, dessen Charakterfestigkeit durch Jahrzehnte gelassen ertragenen Außenseitertums vertrauenerweckend bewiesen wäre. Die Nachfolgegeneration in der SPD wird stattdessen etwa durch Thomas Oppermann repräsentiert, der noch ein paar Tage vor der britischen Wahl Corbyn öffentlich zu einem unwählbaren, weil lernunfähigen Kauz aus sozialistischer Vorzeit erklärt hatte. 
Ohne eine Revolution wird es nicht gelingen, die Oppermänner an einer parteiinternen Machtübernahme zu hindern. Auch Corbyn kam ja nur durch eine Kampagne am Rande der Parteilegalität, von der Parteirechten als illegitim gebrandmarkt, an die Spitze: Personen, die bis dahin nicht Parteimitglieder gewesen waren, konnten sich für ein paar Pfund als Wähler registrieren lassen. Viele, die bis dahin am Rande von Politik und Gesellschaft gestanden hatten, machten mit.

Die Blase platzt

Eine solche Kampagne ist in der SPD, mit ihrer Satzung, ihrem umfangreichen und wegen der staatlichen Parteienfinanzierung nicht auf Wahlerfolge angewiesenen Apparat sowie den Parteimaschinen in den Bundesländern ausgeschlossen. Dass ihr dies nicht nützen muss, zeigt das Beispiel der US-Demokraten. Deren Parteibürokratie hat 2016 dafür gesorgt, dass ein anderer Rebell, der sich selbst so bezeichnende „demokratische Sozialist“ Bernie Sanders, die Vorwahlen gegen Clinton verlor; hätte man ihn gewinnen lassen, könnte jetzt dieser statt Trump Präsident sein. Schulz jedoch ist weder Corbyn noch Sanders, und wäre er es, hätte man ihn nicht zum Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten erhoben. Tatsächlich war Schulz immer ein rechter Sozialdemokrat, wohl durchaus aus Überzeugung und nicht nur aus Opportunismus. Allein deshalb hätte er niemals durch eine Kampagne von unten an die Parteispitze kommen können – dabei schien die SPD durchaus nach einem Corbyn oder Sanders verlangt zu haben, nur so lässt sich der Hype um Schulz nach der Kapitulation von Gabriel erklären. Doch als sich dann herausstellte, dass Schulz nichts war, platzte die Blase so schnell, wie sie entstanden war.

Allerdings hätte es ein linker Rebell in Deutschland ungleich schwerer als der so lange von der Labour-Elite verachtete Corbyn. Dies liegt an dem hier sehr viel engeren programmatischen Spielraum für linke Politik. Gegenwärtig rückt in Großbritannien die Möglichkeit einer Regierungsübernahme durch Labour schneller als gedacht näher: Nur wenige gewonnene Nachwahlen, und ein Premierminister Corbyn wird sagen müssen, wie er sein Wahlprogramm realisieren will. Dabei wird ihm die ideelle Hinterlassenschaft der Blair-Fraktion nichts nützen. Seit ein paar Wochen fordern Mitarbeiter des Schatten-Wirtschaftsministers, in Verlängerung der corbynschen Kampagnenpolitik, über das Internet sympathisierende Ökonomen im In- und Ausland auf, kurze Politikpapiere mit Vorschlägen für erste Maßnahmen einer Regierung Corbyn einzureichen. Die Resonanz ist eindrucksvoll. Themen sind Mitbestimmung und Corporate Governance, Grundeinkommen, öffentliche Verschuldung, grüne Wachstumspolitik, Geldpolitik, Besteuerung, Privatisierung und Rückverstaatlichung, Forschungs- und Entwicklungspolitik, Industriepolitik, Regionalpolitik und so weiter. 

In Deutschland nicht möglich

Eine solche Debatte wäre in Deutschland unvorstellbar, nicht nur, weil hier die Tradition einer linken Wirtschaftswissenschaft so gut wie erloschen ist und die ehemalige Arbeiterbewegung sich längst der pensée unique der akademischen Wirtschaftstheorie unterworfen hat. Wichtiger noch ist, dass ein Nachdenken über wirtschaftspolitische Alternativen in Großbritannien nach vollzogenem Brexit, anders als in Deutschland, nicht oder nicht mehr an Zwänge gebunden ist wie eine in der Verfassung verankerte Schuldenbremse, die verschiedenen Stabilitätspakte der Eurozone, die vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) oder das Wettbewerbsregime des Binnenmarkts. Ein Premierminister Corbyn hätte eine eigene Währung und die Möglichkeit einer eigenen Handels- und Industriepolitik, anders als ein Bundeskanzler Schulz. 

Der Nichteintritt Großbritanniens in den Euro und der beschlossene Austritt aus der EU eröffnen Labour Möglichkeiten eines wirtschaftspolitischen Neu- und Umdenkens, von denen auch eine von links erneuerte SPD nur träumen könnte. Schon die eine oder andere der im Wahlprogramm der Labour Party vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wäre vermutlich nach dem Wettbewerbsrecht des Binnenmarkts illegal. Genau diese zumindest partielle Wiederherstellung demokratischer Alternativen und politischer Einwirkung auf die nationale Volkswirtschaft war einer, und einer der besseren, der mit dem Austritt aus der EU verfolgten Zwecke.

In Deutschland hingegen ist es nicht nur die Einhegung durch den Euro, die einer programmatischen Erneuerung der linken Mitte im Wege steht, sondern auch die erstarrte Parteiorganisation der SPD und die schwierige Erbschaft des Mitregierens. Hinzu kommt eine Besonderheit, auf die der Kanzlerkandidat Schulz kürzlich aufmerksam zu machen versuchte, allerdings so plump, dass er damit nichts anderes erreichte als öffentliche Empörung über seinen „schlechten Stil“. Gemeint ist die hohe Kunst der Bundeskanzlerin, potenziell kritische Themen durch strikte Artikulationsvermeidung zu sterilisieren und sich dadurch alle exekutiven Möglichkeiten offenzuhalten, alle Seiten eines politischen Gegensatzes gleichzeitig zu bedienen. 

Merkels Politik der Neutralisierung 

Merkels Bereitschaft, mit Widersprüchen zu leben, ihr unbedingtes Desinteresse an einer konsistenten öffentlichen Erklärung ihrer Entscheidungen und Nichtentscheidungen, erscheint mittlerweile so selbstverständlich, dass Versuche, sie deswegen zur Rede zu stellen, popularitätsschädigend auf den Urheber zurückfallen. Dies lässt sich exemplarisch an zwei Themen zeigen, die in den kommenden Jahren die deutsche und europäische Agenda beherrschen werden. 

Zunächst die Immigrationskrise. Wenn nichts Dramatisches dazwischenkommt, wird Merkel im September gleichermaßen von der Willkommens- wie von der Obergrenzenfraktion der Wählerschaft gewählt werden. Die Marke „Angela Merkels Flüchtlingspolitik“ ist längst so inhaltsunabhängig definiert, dass sie alles umfassen kann, von der Grenzöffnung im Sommer 2015 bis zum Deal mit Erdogan und der Verschärfung der Abschiebungsregeln. So konnte Merkel 2016 der AfD das Frühjahrswasser abgraben, aber sie konnte durch das Thea­ter ihres Obergrenzenstreits mit Seehofer auch jene bei der Stange halten, die glauben wollen, dass das Versprechen der Kanzlerin, 2015 werde sich nie wiederholen, nicht mehr ist als ein taktisches Manöver zur Neutralisierung xenophober Flüchtlingsfeinde. 

Es trifft zu, dass die Steinmeier-Gabriel-SPD daran als mitregierende Partei einen gehörigen Anteil hatte, etwa indem sie half, alle, die an der Nachhaltigkeit von Merkels Flüchtlingspolitik zweifelten, aus der öffentlichen Diskussion und dem Verfassungsbogen auszuschließen – mit dem Vorwurf, AfD und Pegida Vorschub zu leisten. Aber auch unabhängig davon könnte eine SPD, die auf diesem Gebiet eine programmatische Aussage in den Wahlkampf einbringen wollte, nur verlieren. Da die SPD nicht alles zugleich versprechen kann – in dieser Disziplin wäre sie Merkel hoffnungslos unterlegen –, müsste sie die Chefin der von ihr mitgetragenen Bundesregierung entweder wegen der absehbaren Dauerkosten der Grenzöffnung oder wegen ihrer hartherzigen Grenzschließung mithilfe des diktatorischen Erdogan attackieren. Ersteres würde die Sozialdemokraten Stimmen bei der philanthropisch gestimmten Mittelschicht kosten, zugunsten von Grün, Schwarz und vielleicht Dunkelrot; Letzteres bei ihren ehemaligen Stammwählern in der Arbeitnehmerschaft, zugunsten von Hellbraun, aber durchaus auch wieder von Schwarz.

Positionierung zu Europa  

Ähnlich verhält es sich bei Europa. Das große Thema der kommenden Jahre wird sein, welche Leistungen Deutschland für den Fortbestand der Währungsunion wird erbringen müssen – oder genauer: wie viel Geld den deutschen Steuerzahlern zugunsten der deutschen Exportsektoren und ihrer Arbeitnehmer als Preis für die fixierten nominalen Wechselkurse im vollendeten Binnenmarkt der Eurozone abverlangt werden kann oder muss. Eine Währungsunion ohne Transferunion zum Zweck eines wie auch immer gearteten regionalpolitischen Ausgleichs mit den weniger wettbewerbsfähigen Ländern des Südens wird es nicht mehr lange geben können. Das Problem ist bekannt und wurde von der Regierung Merkel/Gabriel dadurch auf die lange Bank geschoben, dass man jede Art von Transferunion für vertragswidrig erklärte, gleichzeitig aber alle Augen zudrückte, wenn die EZB mehr oder weniger subterrane Maßnahmen zur verteilungspolitischen Sedierung der Verliererländer ergriff, um eurotreue, sich für „reformwillig“ erklärende Regierungen an der Macht zu halten. Dass diese auch nach der deutschen Wahl noch lange Ruhe geben werden, darf man bezweifeln. 

Eine SPD, die sich hier als Opposition ehrlich machen wollte, müsste sich entweder für eine substanzielle und damit sichtbare regionalpolitische Transfer­union oder für eine zumindest partielle Wiederherstellung der währungspolitischen Autonomie der Verliererländer aussprechen. Beides würde ihr Stimmenverluste eintragen – im ersten Fall bei der Masse der Steuerzahler zugunsten von CDU, CSU und AfD, im zweiten bei der europhilen Mittelschicht und der Arbeitnehmerschaft der Exportsektoren zugunsten der Grünen oder, ein weiteres Mal, der Christdemokraten. Gabriels Versuchsballon für eine Transferunion zugunsten des von ihm freihändig in die Sozialdemokratie aufgenommenen Macron entsprang der Angst, in Pulse-of-Europe-Kreisen in Misskredit zu geraten; dass Schulz sich weigerte, in diesen Ballon einzusteigen, könnte zeigen, dass ihm gerade als gelerntem Europäer die politischen und wirtschaftlichen Tücken einer solchen Lösung geläufig sind.

Damit ist nun auch dieses Thema sterilisiert, und Merkel wird im Wahlkampf von der Frage verschont bleiben, ob sie tatsächlich glaubt, dass es in Europa noch lange ausreichen wird, die Renzis und Rajoys, und jetzt auch noch Macron, durch gelegentliche Eurobeatmung im Sauerstoffzelt der EZB als Gegenleistung für bekundeten Reformwillen politisch lebendig zu halten und ansonsten ad calendas graecas auf die Wunderwirkungen wie immer gearteter „Strukturreformen“ zu warten.

 

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