Sonderrechte für Geimpfte? - Das Undenkbare wird plötzlich möglich

Noch immer wird munter über „Sonderrechte“ für Geimpfte nachgedacht. Doch genau darum geht es nicht. Sondern um die Rückgabe von Freiheitsrechten, die allen Bürgern selbstverständlich zustehen. Nur der Deutsche Ethikrat scheint dies nicht zu begreifen.

Impfzentrum der Malteser auf dem Berliner Messegelände / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Noch vor wenigen Monaten fegte ein Sturm der Entrüstung durch die Republik. Vereinzelt wurden seinerzeit Stimmen laut, die über „Sonderrechte“ für Geimpfte nachdachten – und prompt harsche Kritik auf sich zogen. Dabei ist schon das Wort „Sonderrecht“ eine groteske Umkehrung der Wirklichkeit, lebt es doch von der Illusion, der Staat könne seinen Bürgern nach Lust und Laune Rechte gewähren und entziehen.

Dabei ist es genau umgekehrt: Die Grundrechte stehen allen Bürgern als Abwehrrechte gegen den Staat immer schon zu, und es ist dessen Pflicht, sie auch zu gewährleisten. Eine Einschränkung dieser Grundrechte kommt nur auf gesetzlicher Grundlage, aufgrund besonderer Umstände und nur für begrenzte Zeit in Frage.

Wenn heute also munter über „Sonderrechte“ für Geimpfte nachgedacht wird, geht es um etwas völlig anderes: um die schrittweise Rückgabe der allen selbstverständlich zustehenden Freiheitsrechte. Und die Konsequenz dieser Logik ist denkbar einfach: Fallen die Gründe weg, die eine Einschränkung der Freiheitsrechte erforderlich gemacht haben, verliert der Staat auch jedwedes Recht, in die Freiheitsrechte seiner Bürger einzugreifen.

Die Sprache verriet das Denken

Obwohl die Verfassungslage seit dem Jahre 1949 unmissverständlich klar ist,  herrschte noch Ende 2020 darüber selbst in den politischen Führungsetagen der Bundesrepublik größte Unklarheit. So bekannte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor ein paar Monaten: „Keiner sollte Sonderrechte einfordern, bis alle die Chance zur Impfung hatten.“ Schon die Sprache verriet dabei das Denken.

In einer Republik ist die Regierung allerdings nicht die Obrigkeit, die ihre Untertanen befehligt oder ihnen Geschenke macht, sondern nichts weiter als eine „Geschäftsführung“ (Jean-Jaques Rousseau), die vom Volk zur Regelung der öffentlichen Angelegenheiten beauftragt ist.

Zwischenzeitlich hat Spahn ohne weitere Erklärung seine Meinung um 180 Grad gewendet. Das zuerst Undenkbare rückt nun in greifbare Nähe. Nach dem gestrigen Impfgipfel kündigte er bereits für die nächste Woche einen entsprechenden Verordnungsentwurf der Bundesregierung an.

So solle die Quarantänepflicht für geimpfte Kontaktpersonen ebenso entfallen wie eine Gleichbehandlung von Geimpften, Genesenen und tagesaktuell Getesteten eingeführt werden. Bis zum Inkrafttreten wird aber noch einige Zeit vergehen. Erst am 28. Mai 2021 soll der Bundesrat über die Verordnung beraten.

Und so weicht die deutsche Politik durch Verzögerung der bis heute heiß diskutierten Frage nach einer „Bevorzugung“ Geimpfter faktisch aus. Noch im Februar 2021 hatte sich der Deutsche Ethikrat zweideutig mit einer Stellungnahme in diese Debatte eingebracht. Während es eigentlich die Aufgabe eines Rates ist, die Ratsuchenden zu unterstützen und ihnen folglich immer einen Schritt voraus zu sein, gelang es dem Ethikrat in diesem Falle nicht. Die diskutierte Frage sei „ethisch und rechtlich“ äußerst schwierig und müsse so lange nicht diskutiert werden, wie unklar sei, ob Geimpfte noch ansteckend sein könnten.

Lockerungen für Geimpfte erst im Juni

Doch diese Frage scheint nun geklärt. Bereits Anfang April stellte das Robert-Koch-Institut in einer Stellungnahme klar, dass nach „gegenwärtigem Kenntnisstand (…) das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer als bei Vorliegen eines negativen Antigen-Schnelltests bei symptomlosen infizierten Personen“ sei. Schon damals kündigte Spahn zeitnah Lockerungen für Geimpfte an, die nun allerdings bis Juni auf sich warten lassen.

Diejenigen, die sich bei Geimpften noch immer gegen eine baldige Rückkehr zu ihren Freiheitsrechten aussprechen, können sich dabei weiterhin auf den der Politik hinterher hinkenden Deutschen Ethikrat berufen. Dieser hatte nämlich schon vor Monaten betont, dass ein solcher Schritt ethisch problematisch sein könne, „bis alle Impfwilligen Zugang zur Impfung“ haben.

Auch in ihrer neuesten Stellungnahme bleibt die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx dieser Linie treu. Zwar müssten, so Buyx, „die starken, individuellen Freiheitseinschränkungen für Geimpfte aufgehoben“ werden, allerdings erst dann, „wenn die dritte Welle hoffentlich bald vorbei ist“.

Dass mit dem faktischen Ende der Pandemie allerdings die Aufrechterhaltung von Grundrechtseinschränkungen ein Rechtsbruch wäre, und zwar für alle, dürfte indes keine so furchtbar erhellende Erkenntnis sein. Dafür reicht ein Blick in jeden beliebigen Grundgesetzkommentar.

Die deutsche Politik wird sich in ihren Entscheidungen also wohl auch weiterhin auf sich selbst verlassen müssen.

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